Der Mann, der aus dem "Kreml" kam

Italiens neuer Ministerpräsident Enrico Letta jettet kreuz und quer durch Europa. Er braucht Verbündete und Geld

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Erst wurde er von "König Giorgio" ausgeguckt, dann vereidigt, nun haben ihn Italiens Volksvertreter sogar gewählt. Enrico Letta, Italiens neuer Ministerpräsident, hat es geschafft: In nur 72 Stunden hat er eine "Große Koalition", bestehend aus den Sozialdemokraten der PD, Berlusconis PDL und einer Handvoll Technokraten zusammengeführt. Waren es wirklich nur 72 Stunden?

Il Cremlino. Bild: ilFatto

Der Ehrengast kam inkognito. Als er am Abend des 17. April - Italien war auch fast zwei Monate nach den Wahlen noch immer ohne Regierung und bald womöglich auch ohne Präsidenten - vor dem ockerfarbenen Palast an der Piazza dell'Emporio No. 16, im Herzen des alten Arbeiter- und Künstlerviertels Testaccio, ausstieg, hatte er auf eine der auffälligen Dienstlimousinen ("macchine blu") verzichtet und stattdessen lieber einen unscheinbaren Subaru gewählt.

Oben, in der geräumigen Altbauwohnung, mit Blick auf den Tiber, erwartete ihn bereits der politische Gegner: Die Führungsspitze der PD - Ex-Generalsekretär Bersani, der damalige Fraktionsvorsitzende und jetzige Minister Franceschini, die Präsidiumsmitglieder Migliavacca und Errani - war vollständig versammelt. Und natürlich war da noch der Gastgeber, der seine Wohnung für das Geheimtreffen zur Verfügung gestellt hatte: Italiens neuer Ministerpräsident Enrico Letta. Der, eigentlich ein Christdemokrat, hatte das repräsentative Refugium, noch zu Zeiten des Ulivo-Bündnisses, günstig von der einstigen Staatsholding Ina erstanden. Heute kosten in dem weitläufigen Wohnblock, den der Volksmund - auf Grund seiner hohen Durchsetzung mit verdienten Altlinken - auch gerne "il Cremlino" (der kleine Kreml) nennt, 90 m2 mit Terrasse rund eine Mio. Euro. Und ein 200 m2 Attico wechselte noch vor ein paar Jahren für stolze 2,5 Mio. den Besitzer.

Der Ehrengast war niemand anderes als Silvio Berlusconi. Und an diesem lauen Frühjahrsabend wurden in Rom die Weichen für das "inciucio" gestellt, den vielgeschmähten "Hinterzimmer-Kompromiss" zwischen PDL und PD. Zwar sollte der gemeinsam ausgekungelte Präsidentschaftskandidat Marini noch am Widerstand des linken Parteiflügels der PD scheitern, der Grundstein für das spätere Regierungsbündnis aber war gelegt. Und das konnte nur eine Große Koalition zwischen Sozialdemokraten und Berlusconis PDL sein. Eben das Bündnis, das Italien nun aus der Krise führen soll.

Denn eine ernsthafte Zusammenarbeit mit dem "Movimento" war seitens der PD nie geplant. Zwar wollte sich Bersani durchaus mit dessen Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen lassen, doch eine Beteiligung an der Regierung schloss er - wie eine PD-Hinterbänklerin erst am Montag fahrlässigerweise in einer Talkshow enthüllte - von vorneherein aus. Grillos konsequentes "no" war da allenfalls vorausschauende Intuition. Stattdessen wurde nun, ausgerechnet im "Cremlino", das Eis zwischen den zwanzig Jahre verfeindeten Machtblöcken gebrochen. Das Geschacher um die wichtigsten Ministerposten und eine gemeinsame wirtschaftspolitische Linie konnte beginnen.

Bei einigen der runderneuerten Ministerien konnte Letta dabei auf Vertraute zurückgreifen. So kennt er sowohl die deutschstämmige Gleichstellungs- und Sportministerin und Ex-Kanutin Josefa Idem, als auch die junge PDL-Landwirtschaftsministerin Nunzia di Girolamo - für das in Italien nicht unwichtige Ministerium vor allem dadurch qualifiziert, dass sie die Tochter eines der größeren süditalienischen Agrarunternehmer und zugleich Ehefrau von Lettas engstem Vertrauten ist - aus dem kleinen, aber feinen, von ihm mitinitiierten Think Tank VeDro. Gemeinsam mit der neuen, im Kongo geborenen Integrationsministerin Cecile Kyenge verkörpern sie noch am besten das "neue", das "moderne" Gesicht von Lettas Regierung. Und sie veranschaulichen - Letta ist auch Mitglied des Aspen Institute - seine politische Arbeitsweise: Lieber unauffällig und effizient, also: im Hintergrund ein funktionstüchtiges Netzwerk aufbauen, als sich marktschreierisch an vorderster Front frühzeitig verausgaben.

Doch nicht alles ist dem leisen Verhandlungsführer bei seiner Regierungsbildung gelungen. Zwar verstand es Letta noch, einen Wirtschaftsminister Berlusconi zu verhindern. Im Gegenzug blieb dafür der ehemalige PD-Ministerpräsident d'Alema als Außenminister auf der Strecke - was zu verkraften ist - und wurde wohl von Napolitano - ein Glücksgriff! - durch die streitbare ehemalige EU-Kommissarin und eigentlich als seine Nachfolgerin vorgesehene Emma Bonino ersetzt. Die Schlüsselpositionen der Regierung allerdings sind nun - wie bisher - von Technokraten besetzt. Sowohl die Vergabe des Wirtschafts- und Finanzministeriums - dort regiert nun der ehemalige Chef der Banca Italia Fabrizio Saccomanni -, als auch das Arbeitsministerium, das in Italien sinnigerweise den Namen "Ministero di Welfare" trägt - dort residiert mit Enrico Giovannini ab sofort der ehemalige Leiter der Statistikbehörde ISTAT - tragen eindeutig Napolitanos Handschrift: Beide Kandidaten gehörten bereits dessen "Rat der Weisen" an und dürften nun ihr 130-Seiten-Memorandum - nach wie vor Grundlage der künftigen Regierungstätigkeit - mehr oder weniger in Ruhe abarbeiten.

Berlusconi als nächster Staatschef?

Und auch dem "Cavaliere" musste Letta einen gewichtigen Schritt entgegenkommen: Neuer Innenminister ist dessen Kronprinz Alfano, als einziger der 21 Minister bereits in einem früheren Polit-Kabinett tätig und damit - gemäß dem selbst auferlegten neuen Ehrenkodex - eigentlich "nicht ministrabel". An seiner Stelle rotierte Montis toughe Innenministerin Cancellieri ins Justizministerium - eigentlich der zweite Bruch mit dem "Erneuerungsdiktat". Und für den dauerangeklagten B. sicherlich kein Grund zur Freude. Pikanter Nebeneffekt der Operation: Als Herrscher im Palazzo Viminale hat Alfano nun Zugang zu allen Geheimakten, die Polizei, Geheimdienste und Gerichte im Laufe der Jahre zu Berlusconis Strafverfahren angelegt haben - ein Schelm, wer Arges dabei denkt!

Passend zum "Wahlsieg" und der neuen Regierung gönnte sich B. auch noch einen neuen Anwalt: Zu den gerissenen Winkeladvokaten Ghedini und Longo, die bisher noch jeden Prozess erfolgreich verschleppt hatten, engagierte er nun noch den römischen Rechtsprofessor Franco Coppi. Der bewahrte einst schon den "ewigen Paten" Andreotti vor dem Gefängnis und verhalf ihm stattdessen zum Ehrentitel eines "Senators auf Lebenszeit". Den will jetzt auch "il Cavaliere". Mindestens. Und zur Not auch - damit sich niemand beschweren kann - gemeinsam mit seinem Erzfeind Prodi. Dabei heiligt der Zweck die Mittel. Denn der an sich wertlose Ehrentitel für "besondere Verdienste ums italienische Volk" garantiert lebenslange - und unwiderrufbare - Immunität. Und im Falle eines noch immer möglichen Freispruchs wird B. - nachdem sich das mit den Ministerpöstchen für ihn wohl erledigt hat - seinen erklärten Traumjob anpeilen: die Nachfolge Napolitanos als Staatschef!

Während Letta umherjettet, zeigen sich schon die ersten Risse in der Koalition

Und Letta? Der hielt vor der entscheidenden Vertrauensabstimmung eine gekonnte Rede, in dem er allen und jedem etwas versprach - ein erfahrener Analytiker: "Das hatte ökumenische Dimensionen!" - bei dem er konkrete Zahlen allerdings schuldig blieb. Stattdessen besann sich der überzeugte Europäer - schließlich war Letta bereits mit 32 Jahren Europaminister und von 2004-06 Abgeordneter im EU-Parlament - auf seine "Kernkompetenz". Und düste eiligst zu Antrittsbesuchen nach Berlin, Paris und Brüssel. Mit einem klaren Ziel: die wichtigsten europäischen Partner zu einer Abkehr von der Austeritätspolitik zu bewegen und für sein Land verbesserte Konditionen, sprich: vor allem verlängerte Fristen bei der Erfüllung der EU-Auflagen auszuhandeln.

Denn während Italiens Staatskasse unverändert leer ist - noch immer warten über 50.000 kleine und mittlere, in ihrer Existenz bedrohte Firmen auf eine Überweisung ihrer Außenstände aus Rom -, kann und muss der neue Ministerpräsident vor allem dort auf eine veränderte Stimmungslage hoffen. Nur durch Erleichterungen der EU-Kommission bei den Restrukturierungsmaßnahmen bliebe Italien zahlungsfähig, wäre das ambitionierte, aber kostspielige Programm zur wirtschaftlichen Wiederbelebung und sozialen Dämpfung überhaupt finanzierbar. Bei Hollande und Barroso mag Italiens neuer Ministerpräsident noch offene Türen einrennen. Ob sich aber auch Merkel, insbesondere noch vor den Wahlen im September, zu einer Lockerung der Bedingungen durchringen kann?

Dabei scheint Eile dringend geboten. Denn während der "Netzwerker" Letta noch kreuz und quer durch Europa jettet, drohen an der Heimatfront die nur unzureichend zugeschütteten Gräben zwischen den Koalitionspartnern in seinem überhastet zusammengestellten Kabinett bereits aufzubrechen. Da beharken sich untergeordnete Ministerien um ihre jeweiligen Kompetenzen, da droht Berlusconis PDL bereits offen mit einem Bruch: Sollte die ungeliebte IMU, die Grundsteuer auf selbstgenutztes Wohneigentum - wie von ihm in seinem "Wahlprogramm" gefordert - nicht tatsächlich im Juni zur Gänze abgeschafft werden, könnte das Experiment mit der "Großen Koalition" auch ganz schnell vorbei sein. Auf einen - wie von führenden Sozialdemokraten verlangten - Kompromiss mit einer nur teilweisen Aussetzung werde er sich in keinem Fall einlassen.

Italien sei im Herbst ohnehin "zahlungsunfähig", argwöhnte Beppe Grillo unlängst in einem Interview. Was manchem als "verantwortungsloses Geschwätz" erschien, kommt dem Sachverhalt in Wirklichkeit relativ nahe. Und auch wenn Opposition ja bekanntermaßen "Sch...", also: eher weniger schön ist... in diesen Tagen ist es in Italien eindeutig der leichtere Job.