Der Marchese, der Schwarze Schwan, die Leiche und ihr Onkel

La dolce vita

Anatomie einer Gesellschaft

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Eine Strand-, Kriminal- und Sittengeschichte in 4 Teilen

Ein Gespenst geht um. Silvio Berlusconi macht Anstalten, auf die politische Bühne zurückzukehren. Spätestens im Frühling 2013 muss neu gewählt werden. Sollte Berlusconi tatsächlich noch einmal antreten, wird sein Grinsen auf Wahlplakaten zu sehen sein, wenn sich Italien an den 60. Todestag einer jungen Frau erinnert, deren mysteriöses Ableben das Land in eine Regierungskrise stürzte. Die Montesi-Affäre ist die Mutter aller Bunga-Bunga-Skandale. Sie warf die Frage auf, was die Wirklichkeit vom Film unterscheidet, beförderte das Paparazzo-Phänomen und kann erklären helfen, warum so viele Italiener dem "Cavaliere" seine Eskapaden über so lange Zeit verziehen haben (und das vielleicht bald wieder tun werden).

Beginnen wir mit dem Anfang, der zugleich ein Ende ist, das Ende von Federico Fellinis La dolce vita. Wir sind an einem Strand in der Nähe von Rom. Der von Marcello Mastroianni gespielte Klatschreporter Marcello hat mit seinen Bekannten aus dem internationalen Jet Set in einer Villa am Meer eine Orgie gefeiert. Im Morgengrauen, als sie zurück in die Stadt fahren wollen, werden die Müßiggänger auf einige Fischer aufmerksam, die etwas aus dem Meer ziehen. Es ist ein Seeungeheuer, das uns mit großen, vorwurfsvollen Augen anzuschauen scheint. Das Monster lebt noch, sagt einer von den Gaffern. Nein, es ist schon länger tot, meint ein Fischer.

La dolce vita

Im Kontext von Fellinis Film steht das Ungeheuer symbolhaft für eine von Fäulnis befallene Gesellschaft und für den Körper einer jungen Frau, der zum Objekt medialer Spekulationen und zur Projektionsfläche für Phantasien aller Art wurde. Deshalb gehört auch das unschuldig wirkende, in einer Trattoria am Strand arbeitende Mädchen Paola mit hinein. Paola ruft Marcello über das Rauschen der Wellen hinweg etwas zu, kann sich ihm aber weder mit Worten noch mit Gesten verständlich machen, weil er schon zu weit abgedriftet und nicht mehr zu retten ist. Während Marcello in Rom sein sinnentleertes, dem schönen Schein gewidmetes Leben fortsetzen wird, bleibt Fellini mit Paola am Strand zurück. Für sie und ihre großen Teenager-Augen hat er die letzte Einstellung des Films reserviert. Und jetzt also zum Anfang.

La dolce vita

Hochzeit des Jahrhunderts

Rom, 9. April 1953. Maria Montesi geht am Nachmittag mit ihrer Tochter Wanda ins Kino. In Berichten über den sich nun entspinnenden Kriminalfall wird sie oft als Maria Petti Montesi auftauchen. In Italien ist es nicht unüblich, den Mädchennamen einzufügen, was einen doppelten männlichen Besitzanspruch signalisiert: Maria ist die Tochter von Signore Petti und die Gattin von Rodolfo Montesi, einem Schreiner mit eigener Werkstatt. Es lohnt sich, im Auge zu behalten, dass sich diese Geschichte in einem katholisch und patriarchalisch geprägten Land abspielt, wo die Männer die Moralansprüche formulieren, welche die Frauen zu erfüllen haben.

Im Kino läuft Die goldene Karosse von Jean Renoir. Wilma (21), die jüngere der beiden Montesi-Töchter, bleibt daheim, weil sie Anna Magnani, die Hauptdarstellerin, nicht mag. Sie ist ihr zu wenig damenhaft und zu temperamentvoll. Was das heißt, kann man regelmäßig in der Boulevardpresse nachlesen, die mit Hingabe über Annas turbulente Beziehung mit dem Regisseur Roberto Rossellini schreibt. Das Rom der Nachkriegszeit und die Filmstars, das ist ein interessantes Kapitel. Einer, der Rom liebte, war Tyrone Power. Er hatte eine Gattin (die französische Schauspielerin Annabella) und eine Lebensabschnittsgefährtin (Lana Turner), als er hier das Starlet Linda Christian kennenlernte. Nach exzessiver Vorberichterstattung (und wenige Stunden nach Powers Scheidung von Annabella) ging am 27. Januar 1949 die "Hochzeit des Jahrhunderts" über die Bühne, begleitet von geschätzten 10.000 Fans, die sich vor der Kirche Santa Francesca drängten.

Tyrone Powers Hochzeit

Das nach allen Regeln der PR-Kunst inszenierte Ereignis fand ein gewaltiges Medienecho und trug viel dazu bei, dass Rom für die 1950er wurde, was Swinging London für die Sixties war: der Platz, wo sich die Schönen und die Reichen trafen. Dazu muss man wissen, dass die italienische Regierung ein Gesetz erlassen hatte, das es den Hollywood-Studios unmöglich machte, ihre Einnahmen komplett außer Landes zu bringen. Es lag nahe, mit dem nicht in die USA transferierbaren Geld vor Ort Filme zu produzieren. Deshalb flogen dauernd US-Stars ein, um im Atelier-Komplex Cinecittà (damals zum Teil noch als Flüchtlingslager genutzt) und auf den Straßen Roms zu drehen. Abends posierten sie dann in den Lokalen der Via Veneto für die Photographen. Diese Straße zwischen der Aurelianischen Mauer und der US-Botschaft wurde zum Inbegriff einer Glitzerwelt, die für die meisten Römer unerreichbar war.

Paisà

Das glamouröse Liebesleben der Stars wurde durch die triste Realität der seit Kriegsende stark angestiegenen (oder vielleicht auch nur sichtbarer gewordenen) Berufs- und Gelegenheitsprostitution konterkariert. Vielen Italienerinnen erging es so ähnlich wie der jungen Francesca in der Rom-Episode von Rossellinis Paisà. Beim Einmarsch der Alliierten nimmt sie einen US-Soldaten mit nach Hause, um ihm Wasser zu geben. Daraus könnte eine zarte Liebesgeschichte werden. Sechs Monate später kehrt der GI in die Stadt zurück. Er trifft die zur Hure gewordene Francesca, geht mit ihr in eine Absteige und erzählt ihr von der jungen Römerin, die er vor einem halben Jahr kennengelernt hat, ohne zu bemerken, dass es dieselbe Frau ist.

Eine unbekannte, offenbar aber sehr hohe Zahl von gut bürgerlich erzogenen Töchtern besserte, oft im Einvernehmen mit der Mutter, das Familieneinkommen als ragazza squillo (Callgirl) auf. Je weniger das zu verleugnen war, umso entschlossener wurde es totgeschwiegen. Die Spekulationen rund um Wilma Montesi und ihre Mutter haben viel mit diesem offenen Geheimnis zu tun, das hier ausnahmsweise einmal angesprochen werden konnte. Kriminalfälle wie dieser sind deshalb so spannend, weil sie einen Einblick in die innere Verfasstheit einer Gesellschaft gewähren, den man sonst nicht erhält.

Paisà

Um ein Zeichen gegen die allgemeine Verderbtheit zu setzen, drückten die Hüter der Moral bei den oberen Zehntausend schon mal ein Auge zu. Power hatte Annabella nur standesamtlich geheiratet und sich in den USA wieder scheiden lassen. Das, dürfte sich Papst Pius XII. gedacht haben, ging ihn nichts an. Wichtiger war, dass Power und Christian durch ihr Star-Appeal die kirchliche Trauung aufgewertet hatten und der Bräutigam in Interviews erzählte, wie sehr er sich Kinder wünsche (Romina, die Erstgeborene, sang später Schmachtfetzen mit Albano Carrisi alias Al Bano). Deshalb empfing der Heilige Vater das holde Paar zur Audienz. Alcide De Gasperi, der eher spröde Ministerpräsident, ließ sich von einer Illustrierten mit Linda Christian ablichten.

Italien stand so sehr im Bann der Filmstars, dass "Sexgöttinnen" wie Rita Hayworth oder Marilyn Monroe - trotz heftiger Proteste einiger Genossen - sogar die Titelseiten des kommunistischen Blattes Vie Nuove schmückten. Der Neorealismus kommentierte das auf seine Weise. Antonio Ricci, der Held von Vittorio De Sicas Fahrraddiebe, klebt Plakate für Gilda mit Rita Hayworth. Dann wird ihm sein Fahrrad gestohlen. Für ihn und seine Angehörigen ist das existenzgefährdend, weil er das Rad für seine Arbeit braucht. Aber auf dem Polizeirevier erfährt er, dass man sich da nicht um solche Lappalien kümmern will. Irgendwas Wichtiges passiert? fragt ein Reporter. Nein, meint der Polizist. Nur ein geklautes Fahrrad.

Fahrraddiebe

Der Papst hatte es nicht leicht mit den neuen Heiligen einer zunehmend säkularen Welt. Ende März 1949 traf Ingrid Bergman in Rom ein. Bergman führte eine vermeintlich perfekte Ehe, hatte soeben Joan of Arc abgedreht und sich so für Rom, offene Stadt und Paisà begeistert, dass sie dem Regisseur einen leidenschaftlichen Brief geschrieben und eine Zusammenarbeit angeboten hatte. Roberto Rossellini nahm Ingrid in die Trattoria mit, fuhr sie in seinem roten Ferrari spazieren und verstand es, das Berufliche auf angenehme Weise mit dem Privaten zu verbinden.

Als Roberto Ingrid die für Anna Magnani geschriebene Rolle in Stromboli anbot, durfte sich der Boulevard über Annas Wutausbrüche freuen, und als sich Ingrid scheiden ließ, weil sie von Roberto schwanger war, löste das einen internationalen Skandal aus. Ein US-Senator geißelte Bergman als Abgesandte des Bösen und Propagandistin eines Kults der freien Liebe, ein anderer ernannte Rossellini zum braven Männern die Frau raubenden "Liebespiraten", und es wurde ernsthaft darüber diskutiert, ob man Ingrid Bergman, der Verräterin an Hollywood und an der christlich-bürgerlichen Moral, die Einreise verweigern solle. In Mitleidenschaft gezogen wurde auch Johanna von Orleans. Bergmans vorerst letzte Hollywood-Produktion wurde um 45 Minuten gekürzt. Den Regisseur Victor Fleming soll das so gegrämt haben, dass er einen Herzinfarkt erlitt und starb. Da sage noch einer, dass das Kino nichts mit dem echten Leben zu tun hat.

Stromboli

Das sehr öffentliche Privatleben der Paare Power/Christian und Bergman/Rossellini machte die amerikanische Presse auf Italien aufmerksam. Die Zahl der US-Korrespondenten stieg nun ständig an, und nicht jeder war so nett wie Gregory Peck als der Reporter, der in Roman Holiday auf den Artikel seines Lebens verzichtet, um die von Audrey Hepburn gespielte Prinzessin zu schützen. Fernab vom puritanischen Amerika schlugen die Stars gern mal über die Stränge. Und weil es in Rom nicht die sie abschirmende, Unvorteilhaftes unter den Teppich kehrende PR-Maschinerie von Hollywood gab, stand das bald danach auch in der Zeitung.

Die aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Anna Maria Pierangeli erlebte ein modernes Märchen. Sie wurde für den Film entdeckt, ging als Pier Angeli nach Hollywood, war eine Art Verlobte von Kirk Douglas und verliebte sich in James Dean. Für viele Eltern, Lehrer und Pfarrer verkörperte sie all das, wovor sie die jungen Italienerinnen bewahren wollten. Für viele junge Italienerinnen war sie ein Idol, mit dem sie nur zu gern getauscht hätten (damals wusste man noch nicht, dass Pier Angeli traurig enden würde, nachdem sie sich auf Druck ihrer Mutter von James Dean getrennt hatte). Zwangsläufig wurde beim Montesi-Skandal auch die Frage diskutiert, ob Wilma zu den italienischen Mädchen gehörte, die von einer Filmkarriere träumten und bereit waren, dafür ihre Unschuld zu opfern.

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