Der Nahostkonflikt wirft lange Schatten auf Frankreich

Die Grande Nation beherbergt die größte muslimische und jüdische Gemeinde auf einem Staatsgebiet

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Eine in Brand gesetzte Synagoge in Marseille, in Lyon wurden gar Autos als Rammböcke gegen eine Synagoge eingesetzt, Molotowcocktails auf Gebetshäuser, jüdische Fußballspieler, die mit Eisenstangen verprügelt werden: Noch-Staatsoberhaupt Chirac spricht von "Taten, die weder Frankreich noch der Franzosen würdig sind". Die Polizei meldete am Samstag, dass seit Ostern in Paris und Umgebung täglich 10 bis 12 Angriffe auf jüdische Institutionen oder Menschen gemeldet werden. Und das trotz erhöhtem Polizeiaufgebot.

Vorvergangenes Wochenende strömten zwischen 60.000 und 100.000 Demonstranten - die Zahlen variieren je nach Medium- auf die Straßen der Hauptstadt, um gegen Antisemitismus und zur Unterstützung Israels zu demonstrieren. Am Rande der Grossdemonstration kam es zu tätlichen Zwischenfällen mit "arabisch aussehenden" Passanten, die von einer kleinen extremistischen Gruppierung mit Baseballschlägern und Tränengas attackiert wurden. Ein Polizist, der versucht hatte zu intervenieren, wurde schwer verletzt. Einen Tag zuvor waren 30.000 "Pro-Palästinenser" durch die Pariser Strassen gezogen. Die Politiker warnen quasi unisono vor einem Abdriften der französischen Gesellschaft in einen "Kommunitarismus".

Für Richard Séréro, den Vizepräsidenten der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus LICRA (Ligue Internationale contre le Racisme et l'Antisémitisme), sind die zahlreichen Übergriffe auf die jüdische Gemeinde der letzten Tage und Wochen als Verlängerung des Nahostkonflikts nach Frankreich zu verstehen, wie er im Gespräch mit Telepolis erklärt.

"Seit anderthalb Jahren erleben wir hier in Frankreich eine Eskalation des Antisemitismus. Der Grad der Gewalt hat sich eindeutig verändert. Heutzutage kann man wieder Phrasen wie "Tod den Juden!" hören. Das hat man in Frankreich seit der Dreyfus-Affäre nicht mehr gesehen!", beschreibt Richard Séréro, die Angst und Empörung der jüdischen Mitbürger.

Zwischen 500.000 und 600.000 Juden leben auf dem französischen Staatsgebiet. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar, weil bei weitem nicht alle aktiv am Leben der Kultusgemeinde teilnehmen. Laut dem erst kürzlich veröffentlichten Bericht der Menschenrechtskommission zum Rassismus und Antisemitismus in Frankreich, konnte ab dem Herbst 2000, also zu Beginn der zweiten Intifada, eine sprunghafte Zunahme der vor Gericht getragenen schweren Fälle von antisemitischen Handlungen registriert werden: Während 1999 neun Fälle mit einer Verurteilung endeten, so waren es 2000 hundertneunzehn. Letztes Jahr hat sich die Lage mit gezählten 29 Fällen wieder ein wenig beruhigt. Mit einer kleinen Spitze rund um den 11. September und der gleichzeitigen Verschärfung des Nahostkonflikts. Eine Spitze, die aber auch die Franzosen maghrebinischer Abstammung betroffen haben dürfte, denn im selben Zeitraum wurden 38 Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Natur vor Gericht ausgetragen.

Dies in einem Staat, der traditionsgemäß die Religion als reine Privatangelegenheit betrachtet und dieses Prinzip des Laizismus, die "laïcité", als fundamental für die französische Auffassung des republikanischen Systems und des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Gemeinschaften begreift. So wurde erst kürzlich ein muslimisches Mädchen von einer öffentlichen Schule verwiesen, weil sie nicht bereit gewesen war, ihr Kopftuch während des Unterrichts abzunehmen. Dementsprechend wird auch die Welle antisemitischer Übergriffe von Politikern und Intellektuellen kommentiert: Premier und Präsidentschaftskandidat Jospin befürchtet, wie fast alle anderen Kandidaten, eine Aufsplitterung der französischen Gesellschaft in ethnisch und religiös begründete Gemeinschaften. Denn genau dazu könnte die Verlängerung des Nahostkonflikts nach Frankreich führen, wie Richard Séréro erklärt:

"Ich selbst bin Jude. Nichts unterscheidet mich. Aber wenn ich höre, dass ein Mann auf der Strasse angespuckt wird, weil er eine Kippa trägt, so fühle ich mich sofort dazu bemüßigt, eine aufzusetzen. Die derzeitige Stimmung könnte viele in die Versuchung führen, sich in ihre Gemeinschaft zurückzuziehen. Selbst diejenigen, die sich bislang nicht speziell auf ihre Herkunft beriefen, finden sich nun mit ihrer Identität konfrontiert."

Der Nahostkonflikt als Spiegel einer französischen Integrationskrise?

Auch wenn die zahlreichen antisemitischen Übergriffen der letzten Tage noch weit davon entfernt sind, restlos aufgeklärt zu sein, so fällt der Verdacht schnell auf die jungen Franzosen maghrebinischer Abstammung. In Montpellier wurden beispielsweise drei Männer marokkanischer Herkunft festgenommen, weil sie Molotowcocktails auf eine Synagoge geworfen, dabei allerdings ein nebenstehendes Gebäude getroffen hatten. Letzte Woche meldete die französische Polizei, dass insgesamt 39 Personen im Zusammenhang mit antisemitischen Akten festgenommen wurden: 15 davon sind Minderjährige, drei davon nur 13 Jahre alt.

"Die jungen Leute fühlen sich von der französischen Gesellschaft ausgeschlossen. Dieses neue Proletariat, wenn ich so sagen darf, ist von Arbeitslosigkeit und Rassismus betroffen. Wer daran schuld ist, vermag ich nicht festzustellen. Ist es der französische Staat, der es nicht verstanden hat, sie zu integrieren? Sind es ihre Eltern, die nicht fähig waren, ihnen eine Identität zu geben? Jedenfalls setzen sie ihre Lage mit den Vorgängen im Nahen Osten gleich. Nach dem Prinzip: Israel = Dominierende und Palästinenser = Dominierte", versucht Richard Séréro die Attacken zu erklären.

Tatsächlich ist die Arbeitslosenrate bei den Immigranten zweimal höher als bei den gebürtigen Franzosen. Auch wenn die Zahl derjenigen, die Zugang zur höheren Ausbildung gefunden haben, stetig zunimmt, so sind 20% der Akademiker maghrebinischer Abstammung von Arbeitslosigkeit betroffen. Im Gegensatz zu 2% bei den angestammten Franzosen, schreibt die Tageszeitung Libération, die von einer Integrationskrise spricht.

Dass manche auf ihre missliche Lage mit Antisemitismus reagieren, ist für den LICRA-Vizepräsidenten mehr als traurig: "Noch dazu, wo sie selbst Opfer des Rassismus sind. Aber dass ein Konflikt, der sich Tausende von Kilometern von hier abspielt, nach Frankreich übertragen wird, ist und bleibt völlig inakzeptabel." Eine Meinung, die auch die Repräsentantin der palästinensischen Autorität in Frankreich, Leïla Shahid, mit Vehemenz öffentlich vertritt. Damit werde der palästinensischen Sache schwerer Schaden zugefügt, den sie als kriminell qualifiziert.

Gemeinsam wider den Kommunitarismus

Die Präsidenten der Anti-Rassismusorganisation SOS Racisme und der französischen Union der jüdischen Studenten, Malek Boutih und Patrick Klugman - der eine Kind maghrebinischer Einwanderer, der andere polnischer Juden -, werden nicht müde, gemeinsam gegen diese Zerreißprobe der französischen Gesellschaft anzutreten. Am Dienstag haben die beiden dem wahlkämpfenden Premier Jospin ein kleines, weißes Band angesteckt: als Symbol gegen den aufkommenden Kommunitarismus. Mitte März veröffentlichten sie ein "Weißbuch zur antisemitischen Gewalt in Frankreich" unter dem Titel "Les Antifeujs": ein Begriff, der in Frankreich immer häufiger verwendet wird, um eine "neue Art des Antisemitismus" zu bezeichnen, dessen Akteure sich nicht wirklich bewusst seien, in welchem politischem und historischem Kontext sie sich bewegten:

"Was hat dies mit einem politischen Konflikt oder der Befreiung eines Volkes zu tun? Das ist keine Politik. Das ist Rassismus und dieser Rassismus hat einen Namen: Antisemitismus", schreiben Boutih und Klugman in einer gemeinsamen Erklärung.

Seit Anfang Januar ist eine Petition gegen die "Banalisierung des Antisemitismus" im Umlauf. Viele würden sich zu unrecht scheuen, das Wort Antisemitismus auch nur auszusprechen. Die französischen Behörden hätten viel zu lange gezögert, die Dinge beim Namen zu nennen und dementsprechend zu agieren. Eine Analyse, der sich auch Richard Séréro anschließt:

"Es wird schon aufhören, sagte jedermann zu Beginn. Im Glauben, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Mit Le Pen verfolgte man die selbe Art von Vogel-Strauß-Politik: Man sprach nicht davon, in der Hoffnung, dass es von selbst wieder aufhören würde. Mit dem Ergebnis, dass er seit 20 Jahren ungefähr die gleichen Wahlergebnisse einfährt."

Kommenden Sonntag findet der erste Durchgang der Präsidentschaftswahlen statt. Laut den neuesten Meinungsumfragen ist der Front-National-Chef, Jean-Marie Le Pen, mit 11 bis 14% der Stimmen der dritte Mann hinter Chirac und Jospin. Le Pen, der bereits zum vierten Mal für das Präsidentschaftsamt kandidiert, zögert freilich nicht, die antisemitischen Übergriffe zu nutzen, um wieder einmal Stimmung gegen die Franzosen maghrebinischer Abstammung zu machen.

Währenddessen mobilisieren sich immer mehr Repräsentanten der muslimischen Gemeinde, um daran zu erinnern, dass ihre Kultur dazu aufrufe, "denjenigen Hilfe anzubieten, die sie benötigen", wie ein Imam aus dem Pariser Vorort Seine-Saint-Denis, gegenüber Libération am Dienstag erklärte: Ein kleiner muslimischer Verein, dessen Direktor dieser Imam ist, hatte den Kindern einer jüdischen Schule einen Bus zur Verfügung gestellt, nachdem die schuleigenen Fahrzeuge Anfang April in Brand gesetzt worden waren.