Der Propaganda-Krieg hat begonnen

Nach dem Mehlis-Bericht: Wie geht es weiter für Syrien und seine Diktatur? Szenarios, Sanktionen und eine Opposition, auf die keiner hört

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"Millis" ist das seit Monaten meistgehörte Wort in Syrien. Gemeint ist der deutsche Staatsanwalt Detlev Mehlis, der im Auftrag der UN im Mord an dem libanesischen Ex-Premier Rafik Hariri ermittelt. Das syrische Regime wurde von Anfang an als Drahtzieher des Attentates vom 14. Februar verdächtigt. Nun ist es heraus. Der Mehlis-Bericht liegt auf dem Tisch. Aber was ist eigentlich dabei herausgekommen?

Was schwarz auf weiß steht, ist Interpretationssache. Offiziell stellt der Bericht fest, die Entscheidung, Hariri zu ermorden, "could not have been taken without the approval of top-ranked Syrian security officials and could not have been further organized without the collusion of their counterparts in the Lebanese security services." Soweit der Wortlaut des Berichtes, der auf der Seite der Washington Post für jeden einsehbar ist (zumindest bis Fertigstellung dieses Artikels). In dieser halbfertig editierten Fassung stehen am Rand Löschanmerkungen. Die bemerkenswerteste davon neben Paragraph 96, der korrigiert lautet:

One witness of Syrian origin but resident in Lebanon, who claims to have worked for the Syrian intelligence services in Lebanon, has stated that approximately two weeks after the adoption of Security Council resolution 1559, senior Lebanese and Syrian officials decided to assassinate Rafik Hariri.

Statt den Worten "senior Lebanese and Syrian officials” sollten – so die daneben stehende Löschanmerkung – ursprünglich u.a. die Namen stehen: Maher al-Assad und Assef Shakwat (der Bruder und der Schwager des syrischen Staatspräsidenten). "Dank" dem Posting dieser Berichtsversion weiß die Welt nun um die Konjunktiv-Möglichkeiten: Zwei Mitglieder des Assad-Clans könnten verwickelt sein. Offiziell aber bleiben sie außen vor, für den Moment. Somit ergäbe das offizielle Ermittlungsergebnis lediglich: "Ja, der syrische wie der libanesische Geheimdienst waren auf höchster Stufe involviert. Nein, eine Linie nach ganz oben kann nicht gezogen werden." Eine politische Bombe ist das nicht gerade. Doch auf den Moment kommt und kam es nie an, sondern auf das danach, daneben, dahinter.

Gefürchtete Sanktionen

Bereits am 19. Oktober vermeldete unter anderem die "Washington Post", dass die USA, Frankreich (und - nach "Naharnet"-Berichten - auch Großbritannien) für Dienstag kommender Woche zwei UN-Resolutionen über Syrien verhängen werden, welche "die härteste internationale Maßnahme, die je gegen Syrien getroffen wurde" darstellen werden. Glaubt man hingegen Jean-Francois Girault, dem französischen Botschafter in Damaskus, dann liegt Frankreich nicht an Sanktionen, "wenn diese das Volk treffen".

Vielmehr, so seine Stellungnahme gegenüber dem syrischen TV am 11. Oktober, läge der Fokus auf der Erfüllung der Resolution 1559, deren zweiter Teil noch aussteht, sprich die "Einstellung der Unterstützung von Milizen im Libanon", also Hizbollah und palästinensische Kämpfer. Doch Hussein al-Awedat bleibt skeptisch:

Egal, wer was sagt und was der Mehlis-Bericht sagt: Die USA werden einen Grund finden, gegen Syrien vorzugehen – aller Voraussicht nach mit Sanktionen, die der UN-Sicherheitsrat verhängt. Anders als die bereits verhängten US-Sanktionen, die nicht weiter weh tun, werden diese tief einschneiden, vor allem ins Fleisch des syrischen Volkes. Zumal sich keine Nation gegen Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates stellen kann oder wird.

Hussein al-Awedat

Opposition: Stark aber irrelevant?

Al-Awedat gehört der syrischen Opposition an, die am 16. Oktober die "Erklärung von Damaskus" veröffentlichte. Eine bemerkenswert geschlossene Demonstration aller Aktivisten und Gruppierungen, welche die Aufhebung des seit 1963 herrschenden Notstandsgesetzes und die Einberufung einer nationalen Konferenz für demokratischen Wandel verlangt. Die Unterzeichner: die im Londoner Exil ansässigen Muslimbrüder, innersyrische linke und kurdische Parteien sowie syrische Privatpersonen, wie der seit 2001 inhaftierte Industrielle Riad Seif – einer der verbotensten Namen, weil progressivsten Köpfe Syriens.

In der gegenwärtig angespannten Lage ist die "Erklärung von Damaskus" nicht zuletzt eine Botschaft an den Westen: 'Ja, es gibt eine geschlossene, demokratisch orientierte und inhaltlich fundierte Opposition im Land, anders als es unsere Diktatur Euch glauben machen will.' Im selben Atemzug enthält das Communiqué ein deutliches 'Nein' an den Westen: Eine "von außen getragene Veränderung" wird ausdrücklich abgelehnt. "Das Irak-Modell war das größte Eigentor, das sich der Westen je schoss", bemerkt der große, alte Herr al-Awedat.

Es entfachte vor allem unter Oppositionellen nicht nur den ohnehin schwelenden Hass auf die USA, sondern schürte auch ein tiefes Misstrauen gegenüber einem Europa, das, während es Menschenrechte propagiert, eigenen Wirtschaftsinteressen hinterherläuft.

Die Chancen für eine Opposition, die so einstimmig für demokratische Werte, aber auch für (westlich und vielfach nahöstlich) unliebsame Ziele wie "Golan" oder "Palästina" plädiert? Fraglich.

Freispruch gegen "Bush Demands"

Dass "der Westen" seine Interessen in der Region unerbittlich verfolgt und als nächsten eklatanten Fehler voraussichtlich Sanktionen erlässt, die vor allem das Volk treffen, befürchtet auch Marwan al-Kabalan. Den Professor vom "Center for Strategic Studies" in Damaskus machte vor allem die Entwicklung in der Mehlis-Kommission stutzig: "Zuerst gab sie sich geradezu enthusiastisch, plötzlich schaltete sie zurück und erklärte, es gäbe kein 'politisches Erdbeben'. Außerdem hätte sie zuwenig Zeit gehabt. Meines Erachtens steckte dahinter von Anfang an eine Verzögerungstaktik der USA. Sie wollten mehr Zeit, um das Regime geben und geben zu lassen. Im Gegenzug würde es aus den Ermittlungsergebnissen herausgehalten werden." Mehlis Mandat wurde mittlerweile bis 15. Dezember verlängert.

Die "Bush Demands" sind hinlänglich bekannt: Hände weg vom Libanon, vom irakischen Widerstand, von Hizbollah, Hamas und Islamischen Djihad, von Palästina und Iran. "Dann stünde das Regime aber mit reichlich leeren Händen da", kommentiert al-Awedat lakonisch. Immerhin handelt es sich bei Syrien um eine Regionalmacht, deren Glanzzeit zwar vorbei, aber in der Erinnerung noch sehr präsent ist. Nicht zu vergessen auch ein Volk, das seit 42 Jahren zum panarabischen Denken erzogen wurde. Entsprechend weltfremd wirkt daher Washingtons Wille wieder einmal. Zugleich stellt sich die Frage, zu wie viel Taktiererei das syrische Regime bereit ist, um die eigene Haut zu retten. In Punkto Irak beobachtet al-Kabalan bereits eine Annäherung: "Die USA, aber auch Ägypten und Saudi-Arabien befürchten, der Iran könnte zuviel Einfluss im Irak erhalten, die Schiiten dort letztlich kontrollieren. Daher soll das mehrheitlich sunnitische Syrien auf die Sunniten im Irak einwirken und ein Gegengewicht schaffen", erklärt er und verweist auf die Eröffnung der syrischen Botschaft in Baghdad sowie auf eine Anti-Terror-Kampagne im syrischen TV als "klare Signale für den Überlebenswillen der Diktatur".

"Irakisierung" Syriens?

Die Frage, inwiefern Bashar al-Assad genügend Staatsmann ist, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und entsprechend zu handeln, wird zwar immer lauter – doch zweifelt deshalb keiner an seinem Kampf gegen den politischen Tod. Hier könnten ihm seine Nachbarn zu Hilfe eilen. Ägypten und Saudi-Arabien, einst enge Verbündete und mittlerweile beide verprellt, legen schon aus eigenem Interesse (noch) keinen Wert auf eine "Irakisierung Syriens". So ermahnte Hosni Mubarak zwar Bashar bei seinem Kairo-Besuch vergangenen Monat zur vollen Kooperation mit der Mehlis-Kommission und schlug jegliche Hilfe im Falle einer erwiesenen Schuld der syrischen Regierung aus – doch nützte im selben Atemzug der ägyptische Außenminister seine Moskau-Visite, um zu betonen, dass weder der Libanon noch Syrien zum neuen Krisenfokus der Region gemacht werden dürfen. "Assad ist", so Zvi Bar’els treffende Analyse in der israelischen Tageszeitung "Haaretz", "trotz aller Schwäche ein arabischer Führer" – und wird daher weder von Ägypten noch von Saudi-Arabien ohne weiteres fallen gelassen werden. Ebenso wenig von Iran oder Russland.

"The Show has begun"

Wie Bar’el zugleich aber wunderbar ausführt, ist Bashar al-Assad längst zum Lieblingsspielzeug Bushs mutiert. Und die Welt spielt mit. Darauf lässt nicht zuletzt die Aussage des rumänischen Außenministers Mihai Razvan Ungureanu schließen, dessen Land derzeit den Vorsitz im Sicherheitsrat hält. Noch ehe der UN-Bericht vorgelegt wurde, vermutete er, dass mit Antworten auf weiterführende Fragen – etwa "exakten Ausführungen zu technischen Details" – erst gegen Jahresende zu rechnen sei. Der "Washington Post"-Link zum UN-Bericht mitsamt den Löschanmerkungen fügt sich hier genauso nahtlos an wie die reißerische Schlagzeile der "New York Times" am Morgen nach der Berichtsvorlage: "Top Syrian Seen as Prime Suspect in Assassination". Die Gegenkampagnen der pro-syrischen-Front werden kaum lange auf sich warten lassen und somit Bushs Spiel den richtigen Kick verleihen. Das wahrscheinliche Resultat, so Politikprofessor As'ad AbuKhalil:

Mehr Druck seitens der USA, mehr Panik seitens des syrischen Regimes. Die Konfrontation wird immer hässlicher – den Preis bezahlen das syrische, libanesische und irakische Volk.

Erste interne Ausläufer sind in Syrien seit Monaten zu spüren: "Verbote, Verhaftungen und Schlimmeres. Die Staatssicherheit hat wieder extrem angezogen. Je stärker der Druck aus dem Ausland, desto restriktiver das Leben im Land", resümiert al-Kabalan.