Der "Rote Ken" kandidiert als Bürgermeister von London

Die unabhängige Kandidatur des Parteilinken Ken Livingston ist die erste echte Herausforderung für New Labour.

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LONDON - Seit gestern steht fest, dass der Labour-Abgeordnete Ken Livingston sich als unabhängiger Kandidat für das Bürgermeisteramt von London bewerben wird. Damit ist Livingston, seit 32 Jahren Labour-Mitglied, gleichzeitig auch Ex-Labour-Abgeordneter geworden. Seine Parteimitgliedschaft ist suspendiert, der Parteiausschluss nur eine Frage der Zeit. Die unabhängige Kandidatur Livingstons ist der vorläufige Höhepunkt einer zwei Jahre dauernden PR-Schlacht, die begann, als Tony Blair bekanntgab, dass es ein Bürgermeisteramt für London geben werde.

Der ungeliebte Favorit

Von diesem Moment an wurde Ken Livingston als der heißeste Insidertip für den Posten gehandelt. Was diese Favoritenrolle begünstigte, war nicht nur der Umstand, dass Livingston vor 20 Jahren bereits einen ähnlichen Job gehabt hatte, als Direktor der Greater London Authority (GLA), bevor diese von Margaret Thatcher abgeschafft wurde. Darüber hinaus war und ist Ken Livingston eine Art Volksheld, ob als Restaurantkritiker, Talk-Show-Gast, Parlamentsabgeordneter oder einfach jemand, über den fast jeder Londoner eine persönliche Anekdote zu erzählen weiß.

Letzteres gilt insbesondere für die Bewohner des Nordwest-Londoner Wahlkreises Brent, der neben ärmeren Gegenden wie Kilburn und West Hampstead auch das inzwischen chic gewordene Notting Hill umfasst, welches vor 20-30 Jahren kulturell vor allem durch seine karibischen Einwohner geprägt worden war. Typische Livingston-Geschichten zeichnen ihn immer als eine Art Feuerwehr in Sachen des Volkes: karibische Wohnungskooperative soll geräumt werden, Ken kommt und stellt sich den Gerichtsvollziehern in den Weg; Magistrat will die Teilnahme schwul-lesbischer Gruppen am Straßenfest verhindern, Ken setzt es durch; Mütter protestieren gegen die Schleifung eines Fleckchens Grün, das die Bezeichnung Park kaum verdient, Ken verjagt eigenhändig die Bulldozer.

Doch die Eigenschaften, die "Red Ken" bei der Bevölkerung so beliebt machen, machen ihn für Tony Blair und die New-Labour-Elite zur Persona non grata. Für Blair verkörpert Livingston die "Loony Left" (loony=bekloppt), die Labour-Partei von Anfang der achtziger Jahre, die in Opposition zu Thatcher nach links driftete und keine landesweite Wahl gewinnen konnte. Lokalwahlen wohl aber schon, und das war der Grund, warum Livingston zu Thatcher-Zeiten der Greater London Authority vorstand, was wiederum Thatcher bewog, diese Behörde einfach abzuschaffen, weil die Konservativen in einer Wahl in London selbst am Höhepunkt ihrer Macht gegen ihn nie gewinnen hätten können.

"Neue Maßstäbe in der Wahlmanipulation"

Von Anfang an ließen Downing Street Nr.10 und Labour-Parteizentrale Millbank keinen Zweifel daran, dass Livingston nicht der Kandidat ihrer Wahl sein würde. Ebenso deutlich war allerdings die Unterstützung für Livingston durch die linksliberale Qualitätspresse, die "roten" Tabloids und sogar Teile der rechten Skandalpresse - als Volkspolitiker verstand er es, über Parteigrenzen hinweg Anhänger zu finden. Da New Labour aber den offensichtlichen Favoriten in den eigenen Reihen nicht wollte, musste ein anderer Kandidat gefunden werden. Einer nach dem anderen winkten alle potentiellen Hoffnungsträger ab, bis schließlich der damalige Gesundheitsminister Frank Dobson mehr oder minder gezwungen wurde, von seinem Amt zurückzutreten und seine Kandidatur als Bürgermeister zu erklären. Doch der charismalose, bärtige und übergewichtige Bürokrat Dobson sah von Anfang an mehr wie ein Strohmann der Parteiinteressen denn wie ein Kandidat eigenen Willens aus.

Von nun an folgte ein Medienspektakel, das vor allem geeignet schien, negative Publicity für New Labour zu erzeugen. Zunächst ging es um die Frage, ob Livingston überhaupt bei der parteiinternen Vorauswahl kandidieren würde dürfen. Dann wurde er doch zugelassen, allerdings erst, nachdem zwei Vorbedingungen geklärt worden waren. Erstens musste Livingston schriftlich erklären, dass er im Falle einer Niederlage in der Vorauswahl nicht als Unabhängiger kandidieren würde. Zweitens wurde von der Parteiführung ein Wahlmodus beschlossen, der Livingston eigentlich keine Chance ließ. Und so kam es dann dazu, dass Livingston in der Vorwahl 74,646 Stimmen von Labour-Mitgliedern erhielt, gegenüber von 22,275 Stimmen für Dobson, aber dennoch auf Grund der unterschiedlichen Gewichtung von Stimmen Dobson als knapper Sieger und somit offizieller New-Labour-Kandidat ausgerufen wurde.

Es folgte eine einwöchige Pause, in der Livingston das Für und Wider einer unabhängigen Kandidatur abwog. Für ihn sei es eine Entscheidung gewesen, "zwischen der Partei, die ich liebe und den demokratischen Rechten der Londoner. Ich habe also beschlossen, dass das Recht der Londoner, sich selbst zu regieren, es verlangt, dass ich als unabhängiger Kandidat antrete". In einem Nebensatz verurteilte er den Vorauswahlprozess, bei dem er unterlegen war, auch noch gleich als "das Setzen eines neuen Maßstabs in der Wahl-Manipulation".

Gewaltiger Vorsprung für Livingston in Umfragen

Und in dieser Hinsicht scheint eine überwältigende Mehrheit der Londoner einer Meinung mit ihm zu sein. Dies, neben seiner ungebrochenen Popularität, mag den Ausschlag für den überwältigenden Vorsprung gegeben haben, den Livingston bei einer Umfrage der Zeitung The Guardian gestern erhielt. 68% der Wähler in Lodon unterstützen demnach ihn, gegenüber nur 13% für Dobson. 75% aller Labour-Wähler unterstützen laut dieser Umfrage Livingston und, was wirklich erstaunlich ist, sogar 48% der Wähler der Konservativen Partei, obwohl der Parteiführer William Hague erst gestern wieder Livingston als "Linksextremisten" bezeichnet hat.

Doch aus mitteleuropäischer Sicht ist Livingstons Politik - abgesehen von seiner persönlichen Chuzpe - keineswegs linksextrem. Seine Pläne für London unterscheiden sich eigentlich nur in einem Hauptpunkt von denen von New Labour, in der Frage nämlich, wie die geliebt-gehasste Londoner Untergrundbahn in Zukunft betrieben werden soll. Das uralte System, das täglich an und über seiner Belastungsgrenze operiert, leidet an der Vernachlässigung unter Thatcher und Major, die den Autoverkehr favorisierten. New Labour möchte die "Tube" teilprivatisieren, in einer sogenannten "Public Private Partnership" (PPP). Livingston möchte das System weiterhin durch die öffentliche Hand betrieben sehen und dringend benötigte Gelder für Erhaltung und Erneuerung durch die Ausgabe festverzinslicher Wertpapiere aufbringen. Als Beispiel führt er New York an - immerhin Welthauptstadt des Kapitalismus -, wo die Renovierung des Untergrundsystems erfolgreich über Bonds finanziert wurde. Die öffentliche Meinung steht überwiegend hinter Livingstons Ideen, nicht zuletzt auf Grund des Negativbeispiels der Privatisierung des Bahnverkehrs unter den Konservativen, welche für grobe technische Mängel und daraus resultierende, verheerende Unfälle verantwortlich gemacht wird.

Nur ein kurzer Höhepunkt der Popularität vor dem unvermeidlichem Absturz?

Möglicherweise haben trotzdem die "Spin Doctors" und Wahlstrategen von New Labour recht, die behaupten, dass Livingston nun nur einen kurzen Moment am Höhepunkt seines Ruhms genießt. Die Parteispitze schießt sich nun auf "Ken den Lügner" ein, weil er sein Versprechen, nicht als Unabhängiger zu kandidieren, gebrochen hat. Zugleich wird in der parteitreuen Presse ein ganz anderes Bild von Red Ken beschworen, das eines rücksichtslosen Opportunisten, der wie kein anderer politische Machtintrigen zu spielen versteht. Mit gezielt ausgestreuten Geschichten ehemaliger Mitarbeiter und diversen anderen Methoden einer Schmierkampagne - wobei negative Wahlwerbung in England ja nicht verboten ist - ist bis zur Wahl am 4.Mai zu rechnen. Livingston ist für Kriminelle und gegen die Polizei, Livingston ist der Schrecken der Wirtschaft und ausländischer Investoren, Livingston werde die Steuern erhöhen und die Stadt zum Stillstand bringen, hieß es allein in den letzten 24 Stunden aus dem Umfeld der New-Labour-Eliten.

Auf jeden Fall wird es ein Kampf zwischen David und Goliath sein: Hier die Parteimaschinerie mit genügend Geld und anderen Mitteln ausgestattet, da ein kleines Büro mit kaum Mitarbeitern und noch weniger Geld. Doch London ist nicht England und noch weniger Großbritannien. Auf die Stimmen nahezu aller Wähler aus ethnischen Minderheiten kann "Ken" auch praktisch ohne Wahlwerbung zählen - und diese sind in London überproportional vertreten. Und das Indie-Establishment der Musikbranche hat bereits Unterstützung angekündigt. Fatboy Slim und die Chemical Brothers wollen Benefiz-Konzerte veranstalten, Pink Floyd-Gitarist Dave Gilmour wird möglicherweise in die eigenen, gut gefüllten Taschen greifen.

Somit ist die Herausforderung von New Labour durch Ken Livingston von weiterreichender politischer Signifikanz. Blair hat die Wahl in "Middle England" gewonnen. Dies ist keine geografische Region (also nicht mit den "Midlands" zu verwechseln), sondern die Domäne des "Mondeo Man", der Durchschnittsfamilie mit Reihenhaus, Durchschnittsauto, 2,37 Kindern usw.. In London ist der "Mondeo Man" nur eine Minderheit unter vielen. Immer öfter haben sich zudem in letzter Zeit innerhalb von New Labour kritische Stimmen geäußert, die meinen, die Politik des Third Way sei zusehr auf dieses Middle England zugeschnitten, während New Labour bei seinen traditionellen Wählerschichten der Arbeiterklasse und unteren Mittelklasse an Boden verliert. Selbst wenn diese bei der nächsten Parlamentswahl nicht zu anderen Parteien wechseln, was unwahrscheinlich ist, sondern nur frustriert zu Hause bleiben, und die Konservativen leicht zulegen, dann ist der bisher so sicher scheinende Gewinn der nächsten Wahl nicht mehr so ganz von vorneherein festgeschrieben. Die Kandidatur von Ken Livingston treibt nun einen weiteren Keil in die ohnehin angespannte innerparteiliche Situation. Denn obwohl sich die große Mehrzahl in den letzten drei Jahren der Parteidisziplin gebeugt hat, schlägt das Herz bei vielen Labour-Mitgliedern und Abgeordneten weiterhin links.