"Der Sheik ist die höchste Autorität eines Stammes und ist immer ein Mann"

Nadia A. Al-Sakkaf, Chefredakteurin der Yemen Times, über das Land, die Stammeskultur, die Bedeutung des Islam und die Neigung zum Konservatismus

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Mit dem Land Jemen verbindet man in der Regel pittoreske Städte und Bewohner wie aus 1001 Nacht. Negative Schlagzeilen gibt es nur, wenn Touristen von wilden Stämmen oder islamistischen Gruppen entführt werden. Eine unabhängige und engagierte Presse, die für Demokratie oder mehr Frauenrechte arbeitet, erwartet man vom Jemen kaum. Ein Gespräch mit Nadia A. Al-Sakkaf, der Chefredakteurin der unabhängigen, englischsprachigen Yemen Times, die bereits seit 1991 publiziert und mittlerweile 60 Mitarbeiter hat.

Was sagen Sie zu den Klischees, die den Jemen als zurückgebliebenes Land mit Stämmen aus dem Mittelalter beschreiben und gleichzeitig mit 1001 in Verbindung bringen? Wie würden Sie den Jemen beschreiben?

Nadia A. Al-Sakkaf: Zum Teil trifft es die Wahrheit sehr gut, aber der Jemen ist nicht nur das. Es ist ein schönes Land mit großer Geschichte, netten Menschen und einem fantastischen Wetter. Zugleich ein guter Markt für Produkte ohne große Konkurrenz, mit Potential. Ich würde den Jemen als wachsende Demokratie beschreiben, die durch ihr tribales Kulturerbe herausgefordert ist. Das reale Bild ist eine Kombination von allen Beschreibungen aus dem Westen wie aus dem Osten.

Was meinen Sie mit tribalem Kulturerbe und welche Rolle spielt es?

Nadia A. Al-Sakkaf: Das Gesellschaftssystem des Jemen ist überwiegend von Stämmen geprägt. Die meisten Menschen identifizieren sich zuerst mit dem Stamm und danach mit dem Staat – wenn sie das überhaupt tun. Das Stammessystem bestimmt Machtbefugnisse, Rangzuordnungen, Beziehungen und existentielle Fragen wie Beruf und Geschäftsleben. Es beeinflusst auch persönliche Angelegenheiten wie Heirat und Miete. In einigen Extremfällen weigern sich Hausbesitzer ihre Wohnungen an Mitglieder eines anderen Stammes oder Klans zu vermieten. Tradition diktiert, wie das Leben hier funktioniert. Dazu gehört auch, dass Frauen zum Beispiel, nicht laut auf der Straße lachen.

Wie sind die Stämme organisiert? Wie man sich das so vorstellt, hierarchisch, mit dem Klanchef an der Spitze?

Nadia A. Al-Sakkaf: Ja, der Sheik ist die höchste Autorität eines Stammes und ist immer ein Mann. Er als Gesetzgeber bestimmt die Richtlinien und Prioritäten des Stammes. Von der Bildung des Stammesführers hängt es ab, ob Mädchen beispielsweise zur Schule gehen oder ein Wasserprojekt unterstützt wird.

In welchem Verhältnis stehen soziale Normen und der Religion des Islam?

Nadia A. Al-Sakkaf: Einige der sozialen Traditionen sind mit Religion verbunden. Es wird sehr oft ein Fehler beim Gebrauch der Wörter „Haram“( religiös verboten) und „Aieb“ (sozial nicht akzeptabel) gemacht. In den meisten Fällen benutzen Männer oder religiöse Führer als bestimmender Teil der Familie oder Gesellschaft das soziale „Aieb“ und geben ihm einen religiösen Deckmantel. Die meisten der Verbote richten sich gegen Frauen und haben hauptsächlich mit weiblichen Tätigkeiten im öffentlichen Bereich zu tun. Dinge wie das Miteinander von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, Frauen auf Reise oder ein Auto zu fahren.

Nadia A. Al-Sakkaf

Trend zum Konservatismus

Die Religion wird von Männern also missbraucht, um Interessen und ihre Doppelmoral durchzusetzen?

Nadia A. Al-Sakkaf: So könnte man das sagen. Ein weiteres Beispiel für zweierlei religiöse Maßstäbe ist die Verhüllung der Frau von Kopf bis Fuß. Bei Männern ist es dagegen in Ordnung, auch einen nackten Oberschenkel zu zeigen. Nach islamischer Lehrmeinung müssten sich auch die Männer bedecken, nichts zwischen Knie und Bauchnabel, nicht einmal anderen Männern gegenüber, entblößen. Da sind aber auch noch andere Dinge, wie Rauchen oder das Kauen von Qat. Sie sind religiös fraglich und wurden von Elitegelehrten der islamischen Welt missbilligt oder ganz abgelehnt. Dennoch finden sich im Jemen religiöse Führer oder konservative Muslime, die das Qat trotzdem befürworten, wenn sie es nicht sogar selbst kauen.

Welche Rolle spielt der Islam sonst noch in Ihrem Land?

Nadia A. Al-Sakkaf: Der Jemen ist ein konservatives Land, in dem die islamische Jurisprudenz die Hauptquelle der Gesetzgebung darstellt. Jedoch ist der Islam, wie ich gerade sagte, von kulturellen und sozialen Riten sowie Normen überschattet, die oftmals den Prinzipien des Islams widersprechen.

In anderen arabischen Ländern hat der Islam in den letzten Jahren immens an Popularität gewonnen. Gab es im Jemen auch eine ähnliche Entwicklung?

Nadia A. Al-Sakkaf: Der Einfluss von muslimischen oder so genannten islamischen Organisationen und konservativen Parteien war über die Jahre unterschiedlich. Es gab Zeiten, wie in den späten 90er Jahren, als wir dachten, wir würden uns in ein anderes Afghanistan verwandeln. Heute gibt es Anzeichen von liberalen Gedanken, die uns sagen, wir werden nicht in diese Richtung gehen. Jedoch haben wir einen Trend zu mehr Konservativismus beobachtet, den ich nicht als mehr Islamismus bezeichnen würde, eher als ein Mehr an Extremismus. Es gibt zum Beispiel immer mehr Frauen, die ihr Gesicht bedecken, im Vergleich zu vor zehn Jahren. Es gibt ein Gefühl von Verzweiflung, besonders unter der Jugend aufgrund der ökonomischen Bedingungen, und das macht sie zu einem leichten Ziel von Gehirnwäsche.

Jemen gleicht Afghanistan

Ist die Zunahme des Konservativismus oder Extremismus, wie Sie es nennen, nicht ein Teil einer internationalen Entwicklung? Weniger abhängig von nationalen Faktoren, wie einer schlechten Ökonomie?

Nadia A. Al-Sakkaf: Zum Teil ja, aber tatsächlich hat es mehr mit dem Jemen und seinen Besonderheiten zu tun. Das Land Jemen und sein soziales System sind in vieler Hinsicht wie Afghanistan. Fehlende Infrastruktur, weit verbreitetes Analphabetentum, Armut und Menschen, die sich an Religion als Quelle der Hoffnung festhalten. Wenn das eigene Kind durch Krankheit und Hunger stirbt, man kein Geld hat oder es keinen Arzt in der Nähe gibt, dann legt man seinen ganzen Glauben in den Mann mit dem langen Bart, der einen Turban trägt und einem erzählt, dass das Kind nur leidet, weil man Musik auf dem einzigen Radio hört, den es im Dorf gibt. Die Leute haben kaum Bildung, um es besser zu wissen oder sich Informationen zu holen. Eine zweite Meinung zu hören, ist an vielen Orten nicht möglich und so wollen die meisten Menschen verzweifelt nur Vergebung. Manchmal ist das wie in den dunklen Zeiten Europas, als Priester Ablass verkauften: deine Eintrittskarte zum Himmel ist der „Kampf gegen Ungläubige, die unser Land regieren“ oder zumindest diejenigen zu helfen, die das tun.

Sie zeichnen ein sehr schwarzes Bild vom Jemen.

Nadia A. Al-Sakkaf: Nein, nein, ich will damit wirklich nicht sagen, dass Jemeniten Ausländer oder Nicht-Muslime hassen. Extremisten sind nicht populär im Jemen, sie haben nur ein gutes, brauchbares Arbeitsklima. Das jedoch nur in ländlichen Gebieten, wo es keinen Kontakt zu normalem Leben gibt.

Sicherer Hafen für Al-Qaida

Diese Regionen sind dann auch das Rückzugsgebiet von Al-Qaida. Es stimmt also, wie es westliche Medien schreiben, der Jemen ist ein „sicherer Hafen“ für Al-Qaida?

Nadia A. Al-Sakkaf: Ja, ganz sicher. Stellen Sie sich doch einen Ort vor, in dem es keine Infrastruktur gibt, keine Rechtsstaatlichkeit und Korruption in einem Ausmaß, dass man sich innerhalb eines Tags aus dem Gefängnis freikaufen kann. Was den Radikalen von Al-Qaida zu Gute kommt, sind die Armut und fehlende Bildung der Jemeniten. Wenn sie im Diesseits kein anständiges Leben haben, dann scheint der Kauf einer Fahrkarte zu einem besseren im Himmel ein gutes Geschäft.

Was macht eigentlich die Regierung dagegen?

Nadia A. Al-Sakkaf: Sie gibt sich die größte Mühe, die Terroristen zu kontrollieren und nationale Sicherheit aufrechtzuerhalten. Der Staat hat der Einrichtung von Checkpoints und anderen Sicherheitsmaßnahmen zugestimmt, um alles im Auge zu behalten, was passiert. Diese Maßnahmen reduzieren die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen auf Zivilisten oder Einrichtungen in den wichtigsten Städten.

Wo sind die ehemaligen Sozialisten?

Im Jemen gab es einmal eine Revolution und eine sozialistische Republik. Heute ist das kaum vorzustellen. Wie passt das zum heutigen Konservatismus?

Nadia A. Al-Sakkaf: Die Revolution fand 1962 statt und Nordjemen verwandelte sich in eine Republik. Die Revolutionäre standen damals am Scheideweg. Sollten sie das alte Regime samt der Stammestradition verwerfen oder sie sich zu Eigen machen und in einen modernen Staat aufnehmen? Am Anfang entschied man sich, ganz von Neuem zu starten und den Stammeseinfluss zu ignorieren. Tatsächlich bekämpfte einer der jemenitischen Präsidenten, Ibrahim Al-Hamadi das Stammessystem und versuchte, es auf jedem möglichen Weg zu erniedrigen. Mit der Zeit ließ dieses Bestreben jedoch nach und der tribale Einfluss gewann wieder an Bedeutung. Die Stämme wurden nun von den Revolutionären untereinander im Kampf um die Macht politisch instrumentalisiert. Man kaufte sich die Loyalität der Stämme mit Geld, Autos, Grundbesitz und manchmal mit staatlichen Machtpositionen.

Daher ist heute ist der Sheik nicht nur ein Führer seiner Gemeinschaft, sondern auch der verlängerte Arm einer politischen Partei und hat seinen Preis. Bei Wahlen unterstützt der Sheik einen bestimmten Kandidaten einer politischen Partei und fordert seine Stammesleuten dazu auf, diesen zu wählen. Eine Wahl findet zwar statt, aber die Leute stimmen nur für jemanden, weil „der Sheik es so gesagt hat“.

Wo sind heute eigentlich die ganzen Sozialisten und Revolutionäre geblieben?

Nadia A. Al-Sakkaf: Sozialisten bleiben Sozialisten auf die eine oder andere Art und Weise. Heute gruppieren sie sich neu und versuchen ein Stück des Kuchens zu bekommen, während der jemenitische Staat langsam seine Kontrolle verliert. Sie versuchen, die Frustration der Menschen auszunutzen, insbesondere in der Region im Süden, wo ihr Einfluss größer und die Leute unter schlechtesten Bedingungen leben.

Jemen ist heute wieder vereint. Gibt es heute noch Probleme zwischen Nord- und Südjemen?

Nadia A. Al-Sakkaf: Unglücklicherweise existieren heute mehr Streitigkeiten und Groll als je zuvor. Da ist ein Gefühl von Verrat und Misstrauen, besonders unter den Menschen in ärmeren Gegenden, die von Politikern manipuliert werden, um soziale Unruhen zu provozieren. Als die jemenitische Vereinigung in den frühen 90er Jahren stattfand, waren alle Jemeniten voller Euphorie. Wir dachten, wir hätten etwas erreicht, das sonst niemand erreichen könnte. Wir hielten die jemenitische Einheit sogar für ein Beispiel, das anderen arabischen Staaten den Glauben an die arabische Einheit wiedergeben könnte. Aber politische Interessen waren stärker als nationale, aufgrund von Korruption und Machtmissbrauch wurde es chaotisch. Und heute sind wir in einer Situation, in der wir uns wieder teilen oder in mehr als zwei föderale Staaten verwandeln könnten.

Sie bezeichnen Ihre Zeitung, die Yemen Times, als unabhängig. Was verstehen Sie darunter und können Sie es das wirklich sein?

Nadia A. Al-Sakkaf: Es gibt keine absolute Unabhängigkeit, genauso wenig wie es eine absolute Objektivität gibt. Was wir mit unabhängig meinen, ist, dass wir mit keiner politischen, religiösen, sozialen oder kulturellen Partei oder Organisation verbunden sind.

"Wenn Sie lesen wollen, was die Leute wirklich denken, gehen Sie ins Internet, lesen Sie keine Zeitung."

Können Sie denn über alles schreiben, was Sie wollen? Das wäre für arabische Staaten ein Novum.

Nadia A. Al-Sakkaf: Wir haben Probleme, aber die Situation im Jemen ist nicht die gleiche wie im Rest der Region. Zum einen haben wir mehr Demokratie und auch mehr Möglichkeiten, uns auszudrücken wie in allen anderen Ländern der Region.

Von welchen Probleme sprechen sie?

Nadia A. Al-Sakkaf: Journalisten werden von der politischen Sicherheit und vom Informationsministerium immer wieder terrorisiert und schikaniert. Entsprechend gibt es eine Art Selbstzensur, die von Medium zu Medium unterschiedlich ist, je nach Verbindungen und politischer Linie. Anbulkarim Al-Khaiwani, den man wegen seiner Berichterstattung über den Saada-Krieg zu sechs Jahren Gefängnis verurteilte, wurde zum Ziel des Staates, weil er über den Präsidenten und dessen Sohn als zukünftigen Machtinhaber des Landes geschrieben hatte. Sachverhalte, die die jemenitische Einheit, die Effektivität der Armee oder den Charakter des Präsidenten infrage stellen, sind Tabu-Themen.

Ist Bloggen nicht ein guter Ausweg, Kontrolle und Zensur, wie in anderen arabischen Staaten auch, zu umgehen?

Nadia A. Al-Sakkaf: Ja, Bloggen ist sicherlich wichtig und ein Ausweg für freie Meinungsäußerung. Ich denke nicht, Regierungen können das Netz für immer kontrollieren, so sehr sie dies auch versuchen. Mit der Zeit wird Information für alle zur Verfügung stehen, die den Zugang dazu haben. Aber das ist der springende Punkt. In Jemen liegt die Internetverbreitung bei weniger als einem Prozent. Daran kann man sehen, dass es nicht wirklich viel für die jemenitische Gesellschaft verändert.

Im Westen haben die Medien weit weniger Kontrolle zu befürchten als in vielen arabischen Ländern. Wie beurteilen Sie westliche Berichterstattung über muslimische Länder?

Nadia A. Al-Sakkaf: Westliche Medien haben ihre ganz eigenen Probleme. Ich habe festgestellt, dass viele der westlichen Medien nicht die Freiheit und Objektivität haben, mit der sie so angeben.

Wie meinen Sie das?

Nadia A. Al-Sakkaf: Sie sind an einen Regelsatz von Stereotypisierungen und den Verkauf von salonfähigen Geschichten gebunden. Über einen terroristischen Muslim eine Story zu schreiben, verkauft sich besser, als eine über den Gewinner des Nobelpreises.

Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Das kennt man ja. Aber was meinen Sie bezüglich Pressefreiheit, die Sie vorher ansprachen?

Nadia A. Al-Sakkaf: Es gibt eine grundsätzliche Problematik bei der Berichterstattung über bestimmte Demonstrationen oder über Regierungen und Themen in der westlichen, aber auch in der ganzen Welt. Häufig folgen Medien einer politischen Agenda. Ich habe im Westen mehr Objektivität und Wahrheit in kleineren Zeitungen und Medien gefunden, denn in großen. Westliche Journalisten haben viele Freiheiten und Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen. Sie können vielfach auch ihre Meinung sagen. Aber wenn diese Meinung nicht mit der Agenda des Publizisten übereinstimmt, muss der Journalist einen Blog starten, um es dann dort zu tun. Wenn Sie lesen wollen, was die Leute wirklich denken, gehen Sie ins Internet, lesen Sie keine Zeitung.