Der Sound fällt nicht vom Himmel

Ist die digitale Avantgarde unsichtbar geworden?

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Aus der Pop-Musik-Branche droht ein wachsendes Verlustgeschäft zu werden. Die Klassik und die klassische moderne Musik sind auf dem Rückzug. Video-Clips werden angeblich zu teuer. Fusionierende Konzerne verramschen die Musikbestände einer gealterten Moderne und eifern dem "Flurschaden" des Peer-to-Peer nach. Wo bleibt die zeitgemäße Avantgarde?

Mit digitaler Technologie können unendlich viele Klänge und Beats aufgezeichnet und abgerufen werden, unter anderem auch, um synthetische Remixes vergangener und aktueller Styles herzustellen: zwischen Klassik, Jazz, Rock, Funk, Soul, Punk, Disco, HipHop, Techno, House, Rave, TripHop etc. pp. Insofern erweist sich die digitale Technik als Zulieferer der kommerziellen Musik: Dabei weichen die musikantischen Fähigkeiten von Pop-Stars - bis auf Ausnahmen - immer stärker rein visuellen "Video"-Merkmalen. Das Geschäft der Promotion verdrängt die musikalische Produktion immer stärker in den Background. Avancierte Musiker nutzen die digitale Technik daher weitaus radikaler: In so genannten "Laptop"-Performances schaffen sie die traditionellen Kategorien der E- und U-Musik ab: Es gibt keine Partitur, kein fixiertes Werk, keine sichtbar musizierenden Interpreten, keinen eingängigen Song und keine lärmende Band. Was übrig bleibt, ist die oft narkotische Wirkung dröhnender oder fast unhörbarer Klänge, irritierender Geräusche, minimalistisch pulsierender Beats und schwebender Klanglandschaften, die allesamt zu einer Reise ins eigene Ich einladen. Ist die digitale Avantgarde also unsichtbar geworden?

Marcus S. Kleiner und Achim Szepanski, der 1994 das Frankfurter Sub-Label Mille Plateaux gründete, liefern - zusammen mit zwölf weiteren Autoren in "Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik" (edition suhrkamp 2003) genauere Analysen. Die faszinierend geschriebenen Beiträge bündeln sich in einer These: Die Zukunft der Musik liege in den Möglichkeiten des (digitalen) Sounds, in einem umfassenden Klangkosmos. Er lasse die traditionellen Klänge der Klassik, einer steril gewordenen Pop-Musik und einer gealterten klassischen Moderne hinter sich. Und der Weg zu ihm knüpfe an das Reservoir der postseriellen und minimalistischen Musik an.

Rhizomatisches Denken

Wie steht es um diese Position? Aus verschiedenen Perspektiven kreisen alle Autoren die Landkarte zwischen Klang und Geräusch, Ton und Stille, Analogem und Digitalem, Hörbarem und Unhörbaren, Gegenwart und Zukunft, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit ein. Dabei konvergieren sie vor allem in der Denkweise: musikwissenschaftliche, kultursoziologische, medientheoretische, technologische und philosophische Aspekte miteinander zu verknüpfen. Leitbild der Beiträge ist die Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die im "rhizomatischen Denken" eine immer noch aktuelle Form des vernetzten Denkens entwickelt haben, ein antihierarchisches und dynamisch wucherndes (Pilz-)Wurzelwerk (Rhizom) verschiedenster, heterogener Möglichkeiten, jener "tausend Plateaus", deren Optionen sich nebeneinander dynamisch weiterentwickeln können.

Das rhizomatische Denken versucht den Horizont der Erkenntnis und der Erfahrung weiterzutreiben - über das bewusste geistig-optische Begreifen und Kategorisieren durch das menschliche Subjekt hinaus. Das kulturelle Territorium der eindeutig klassifizierbaren Dinge und Gegebenheiten wird gegen die "Wüste der Deterritorialisierung", der Entgrenzung und Entschränkung des Noch-Nicht-Erfahrenen eingetauscht. Rudolf Maresch verdeutlicht, dass echte Future-Sound-Fan-Philosophen eine Neue Ontologie voraussetzen: den libidinösen "Materie-Strom" einer affektiven Wunschmaschine (ungleich einer Turing-Maschine), die zugleich "Medium und Botschaft" ihrer selbst seien. Das Konzept eines unerhörten kosmischen Sounds beinhaltet eine lustvoll glucksende Ursuppe, die alles andere enthält: natürliche und künstliche Töne; Sirren und Surren, Beats, Clicks and Cuts.

Ein vor allem akustisches, auditives und taktil spürbares Universum in ständiger Bewegung und Schwingung, in dem der Mensch mit seinem stets schutzlos offenen Ohr und seinem von äußeren Eindrücken und inneren Impulsen geschüttelten Leib keine distanzierte Außenperspektive einnehmen kann, wie sie ihm durch das objektivierende und schematisierende Auge möglich ist. Künstler zu allen Zeiten haben in diese "immersive" Soundsphäre Schneisen gelegt und sie für das Publikum in hörbare Musikpassagen umgesetzt, ob nun als Nebenprodukt ihrer eigentlichen Werke oder als Hauptziel ihres Schaffens.

Großartige klassische Klang-Verstörungen

Gerade in der klassischen und in der modernen Musik gibt es Momente großartiger, ja verstörender Klanglichkeit, in denen das Tor zu einem neuen Universum jenseits der Partitur aufgeht: in den rhythmisch-dissonanten Partien von Beethovens "Eroica" nach dem großen Ausbruch in der Durchführung des ersten Satzes, der fast flötenden Chor-Höhenlage im Finale der Neunten ("Überm Sternenzelt..."), in der leerräumigen Sinfonik Bruckners, der überbordenden Hyperchromatik von Wagners "Tristan" (Akt II), in Arnold Schönbergs Streicher-Hysterie der "Verklärten Nacht", den katastrophalen Verdichtungen der Mahlerschen Sinfonik oder der panoramischen Mikro-Polyphonie in Ligetis wieder neu aufgenommenem "Requiem".

Sound-Ereignisse lösen das klassische Werk ab

Doch wie verträgt sich die heiße vitalistische Sound-Philosophie mit der coolen digitalen Audiometrie heutiger Soundchecks? Die traditionelle und klassische musikalische Produktion versteht seit der Erfindung des Notensystems unter Komposition einen Vorgang der graphischen Fixierung von Zeichen. Zunächst durch zeitlich unbestimmte Neumen, die nur Tonhöhen anzeigen. Dann durch zunehmend stärker definierte Noten, die die Entwicklung der abendländischen Musik zu einer Sprache unterstützen. Christoph Cox spricht der klassischen Komposition einen "transzendenten Organisationsmodus" zu: Die Tonalität ist die Basis der selektiven Codierung und Territorialisierung der Musik in Gattungen und Werken. In ihnen treten Themen wie auf einer Bühne auf, konfligieren spannungsvoll, um am Ende in ursprünglicher oder modifizierter Gestalt zurückzukehren. Dies führt zu einer ideologischen Architektur, die dem traditionellem Klassik-Rezipienten ein sicheres Geländer gibt, ohne dass er sich allzu genau auf die klanglichen und technischen Einzelheiten der konkreten musikalischen Zeit einlassen muss.

Die Autoren von "Soundcultures" postulieren nun: die radikale Ablösung der "transzendenten" Ebene der klassischen Werksprache durch die "Immanenzebene" von Klang und Sound. Und sie verweisen im Raum der "analogen" Entwicklung von Musik seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf drei Pioniere: auf Edgar Varèse und seine "Musique Concrète", einer Kompositionstechnik ungezügelter, kontrastiver Klangfelder ohne eingängige Themen und Entwicklungen. Auf John Cage und seine "aleatorischen" (zufallsgeleiteten) Verfahren, die Instrumente anarchistisch umzufunktionieren und die gewohnten Abläufe der Musik umzuleiten. Und schließlich auf Morton Feldmans Klang-Montagen (mit ihren Referenzen auf den abstrakten Expressionismus eines Rothko und Pollock). Auf diese Weise werde der musikalische Prozess de-territorialisiert und aus der Kontrolle einer festgelegten übergeordneten Werkpraxis befreit.

Die musikalische Zeit erscheine als ein reines hörsinnliches Ereignis, ohne thematisches Korsett, als natürlicher Fluss, der unwiederholbare Zufallsabfolgen neuer, unerwarteter Klänge und Geräusche enthält. Diese entstehen auf umpräparierten Instrumenten, z.B. Klavieren, in deren Saiten Metallstücke, Schrauben, Nägel u.a. eingespannt werden. Einmalige Tönungen und unwiederbringliche Klangpartikel werden zwischen Augenblicken absoluter (oder relativer) Stille wie im Vorübergehen angerissen. Die präparierten Instrumente könnten die Prototpyen der späteren Synthesizer und Klangcomputer sein, und doch sind sie in ihrem porösen Charme zugleich die Vorboten einer digitalen Musik, die keine klobige Sound-Herrschaft, sondern die Geschmeidigkeit lebendiger Klanglichkeit kennt.

Auditive versus visuelle Kultur

Für Frank Hartmann erobert der Minimalismus eines Cage und der folgenden elektronisch produzierten Musik einen "Acoustic Space" endloser klanglicher Differenzierung im Sinne von Marshall McLuhan. So breite sich die alte "Oralität" verschiedenster (mündlich-auditiver) Subkulturen wieder aus, wie damals, vor der Erfindung einer einheitlichen Schrift. In der Buchstabenschrift und der Notenschrift werden sprachliche Lautung und musikalische Artikulation visuell in Typen festgelegt. Im Sound erkennt Hartmann die große Gegenbewegung:

Sound ist, trotz aller medientheoretischen Kaprizierung auf Sichtbarkeiten, Oberflächen und grafischen Interfaces, die Signatur des neuen Medienzeitalters.

Der Sound sei - im Unterschied zu den zumeist global nivellierten Bildern und Texten - ein unendlich plastisches Medium, ein Potential der permanenten Transformation: "gegen das klaustrophobische Bild einer zum Global Village implodierten Medienzivilisation".

Ästhetische Maßstäbe elektronischer Musik

Viele Beiträge in "Soundcultures" lassen durchaus offen, ob die elektronischen und digitalen Möglichkeiten der "naturalistischen" Klang-Aufzeichnung bzw. der "synthetisch-artifiziellen" Neukombination von sinnfreien Samplings den Übergang in eine utopische neue Vielfalt wahrhaft kreativer Soundwelten ohne Reibungsverlust ermöglichen.

Michael Harenberg setzt gleichsam "digi-positivistisch" auf die computerisierte Herstellung virtueller Instrumente zwischen Simulation vorhandener Klangkörper und ihrer (De-) Konstruktion zu neuen "unmöglichen" Instrumenten. Kim Cascone versucht die ästhetische Qualität am kontemplativen (aktiv zuhörenden) Rezipienten - im Unterschied zum zerstreuten Konsumenten der Popkultur festzumachen. Dabei orientiert er sich stark am Werteschema klassischer Hochkultur. Bei seiner Argumentation schwingt ein Bedauern mit, dass die künstlichen Klangkompositionen nicht längst "wieder ihr Wachstum als Kunstform aufnehmen kann, statt zum Abfall der Popkulturindustrie degradiert zu werden."

Norbert Schläbitz beschreibt minutiös, wie auf der "Mille Plateaux"-CD "Clicks & Cuts" (1&2) Störgeräusche und Restabfälle zu flachen, minimalistischen, polyrhythmischen Strukturteppichen verwoben werden. Aber wie lange lässt sich die Rezeptionshaltung eines aus der messbaren Zeit ausgetretenen Zen-Buddhismus aufrecht erhalten, um allein "das unpersönliche, asubjektive Leben des Klanges" zu vernehmen?

Zeit wird nicht länger räumlich eingeteilt, dargestellt und territorialisiert, sondern erscheint als qualitativ immersiver Strom. Statt Struktur und Genese hören wir Prozess und Dauer.

Cox

Fällt der Sound vom Himmel?

Ein Bedenken sollte nicht überhört werden: Struktur und Prozess von Musik, objektive Zeit und subjektives Zeiterleben arbeiten sich dialektisch aneinander ab, werden aber hier oft undialektisch auseinander dividiert. Wer die Abwesenheit einer "höheren" kompositorischen Ordnung überbetont, läuft Gefahr, die potentielle zeichenhafte Gliederung des Klang-Materials gleich im Handstreich mit zu verabschieden. Auf diese Weise kann die einhüllende und involvierende Wirkung von Sound nicht mehr ästhetisch entfaltet, sondern nur noch "physiologisch" erklärt werden. Die virtuelle Sprachfähigkeit des Materials ist die Basis für die "Rauheit der Stimme" (Roland Barthes), für die konsonantische Granulation des Sounds. Denn sonst wäre die digitale Aufzeichnung, aber auch die Zerlegung und Rekombination der Klänge nur noch ein reproduzierender und re-territorialisierender Akt, der zu keinem elektronischen Soundscape führen würde. Der Affekt gegen die übergeordnete Form wird zum Trojanischen Pferd eines glatten Medien-Sounds. Während "Clicks & Cuts" sich als Antikomposition wie ein Sieb um die Zeit schließt, schießen auf der neuen CD Rechenzentrum: Director's Cut von "Mille Plateaux" sinnenfrohe Soundreliefs hoch.

Der Schein einer nicht-fixierbaren Lap-Top-Aleatorik , der Anstrich einer "losen medialen Kopplung" (Dirk Baecker) wird in gewisser Weise aufgegeben, zugunsten dynamisch ausgeprägter Klang- und Rhythmus-Ballungen. Es sieht so aus, als ob die progressive digitale Musik mit "Soundcultures" in die entscheidende Phase der Selbstvergewisserung tritt: Aus "Sonic-Fiction" (Marcus S. Kleiner/Marvin Chlada) wird Sonic-Fact.