Der Stein der Weisen

UNESCO-Weltkulturerbe Wieskirche (Bild: Mattana, Public -Domain) und Zeche Zollverein (Bild: Thomas Robbin, Lizenz: CC-BY-SA-3.0)

Was Denkmalschutz mit schlechtem Gewissen zu tun hat

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"Bei allem, was ich tue, kriege ich ein schlechtes Gewissen", sagt Charlie Brown. Er ist am Strand, und er hat soeben einen Kieselstein ins Wasser geworfen, was wiederum Linus zu der Bemerkung veranlasste: "Na toll! Dieser Stein hat viertausend Jahre gebraucht, um ans Land zu kommen, und jetzt hast du ihn einfach wieder reingeworfen."

In Comic-Serien wie den Peanuts steckt durchaus ein hintergründiges Potential. Die obige Szene etwa kann man auch als Parabel auf den Gebrauchswert materieller Geschichtszeugnisse lesen. Als vor vierzig Jahren unter dem Titel "Eine Zukunft für unsere Vergangenheit" das Europäische Denkmalschutzjahr abgehalten wurde, setzte es eine Welle der Denkmalbegeisterung in Gang. Inzwischen aber ist an deren Stelle eher Ernüchterung und schlechtes Gewissen getreten. Weshalb es geboten ist, über Verpflichtung und Perspektive von Baudenkmalen erneut nachzudenken.

"Denkmal" wird seit Ende des 19. Jahrhunderts - in unverkennbar juristischer Diktion - definiert als Gegenstand von Menschenhand, an dessen geschichtlichen Spuren ein gesellschaftliches Erhaltungsinteresse geltend gemacht wird. Dabei war es noch vor nicht allzu langer Zeit üblich, dass ein altes Denkmal automatisch als wertvoller galt als ein weniger altes. Zudem gab es eine Rangordnung der Bauaufgaben, derzufolge eine Fürstenresidenz selbstredend bedeutsamer war als etwa ein Schlachthof.

Einerseits kann man es nur begrüßen, wenn solche Vorstellungen heute überwunden sind. Andererseits hat eben das auch zu einer großen Unsicherheit geführt. Nicht von Ungefähr ist ja beklagt worden, dass es eine spezifisch deutsche Überdehnung des Begriffes gebe, die das ästhetisch Wertvolle nach und nach durch das Kriterium des historisch Interessanten ersetzte. Zur gotischen Kirche sei zunächst die neugotische Kaserne, sodann alle Fabrikgebäude gekommen, die in einem vergleichbar historisierenden Backsteinstil gebaut wurden. Man wirft dem Denkmalschutz also vor, dass er neben das Schöne das Hässliche stellt, wenn es nur alt genug ist, und dass gleichzeitig dieses Alte immer näher an die Gegenwart heran rückt.

Der Appell, dass auch die anonymen materiellen Spuren der Geschichte unsere Beachtung und Pflege verdienen, weil sich auch in ihnen Erkennbarkeit, Unverwechselbarkeit und Identität manifestieren, wird all jene kaum begeistern, die sich angesichts des aktuellen Drucks auf die Profession nur zu gern auf die etablierten und gesellschaftlich anerkannten Denkmalfelder zurückziehen.

Barocke Schlösser, mittelalterliche Burgen oder historische Altstädte sind ungleich leichter unter Protektion zu stellen als beispielsweise karg anmutende Reihenhauszeilen, moderne Verkehrsbauwerke oder industrielle Relikte. Gleichwohl - und auch wenn es die breite Öffentlichkeit so sehen mag - lässt sich die Aufgabe nicht auf Denkmale reduzieren, die nur wegen ihrer uns heute erschließbaren Schönheit erhaltenswert sind.

Was freilich nicht heißt, nur noch apologetisch alles bewahren zu wollen, was an baulichem Erbe in Städten und Dörfern zu finden ist. Man muss mit den Relikten irgendwie umgehen. Bei aller darin wurzelnden Malaise scheint dafür eine engen Kooperation namentlich mit der Architektur dringend angeraten.

Georg Mörsch, der so namhafte wie streitbare Züricher Hochschullehrer, wies vor einiger Zeit in aller Entschiedenheit darauf hin, dass "in der Begegnung mit dem Denkmal als authentischem Dokument der neue architektonische Eingriff schöpferisch lesbar zu machen sei". Die Nicht-Imitierbarkeit des Denkmals und das klar erkennbare Miteinander von Neu und Alt sind für ihn zwei Seiten derselben Medaille. "Die Offenheit der Begegnung von Alt und Neu verbietet der Denkmalpflege grundsätzlich, die Gestalt von Neubauten mit ähnlicher Eindeutigkeit durchsetzen zu wollen wie die Erhaltung der Substanz."

Hans Döllgasts Oeuvre in München oder dasjenige von Luigi Snozzi im Tessin mögen diesbezüglich als bildhafte Reverenz dienen. Umgekehrt müssen die Architekten ihre - subjektiv und psychologisch möglicherweise nachvollziehbaren - Ressentiments ad acta legen: Denkmalpflege ist weder als Angriff auf ihre künstlerische Freiheit, noch überhaupt als zentrale Restriktion gegen das Neue zu begreifen.

Alte Pinakothek München. Hans Döllgast hat bei der Restaurierung die Schäden des Zweiten Weltkriegs bewusst sichbar gemacht. Bild: Gras-Ober, Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Architektur noch bereit sei, gesellschaftliche Bindungen als verbindlichen Rahmen ihrer Tätigkeit zu akzeptieren, und ob sie nicht die Möglichkeiten formaler Gestaltung krass überschätzten. Gewiss aber braucht es ihre Kreativität - vorausgesetzt allerdings, die Architekten setzen sich intensiv mit der Geschichte der Bauten auseinander, reflektieren deren Entstehungskontexte und Nutzungsgeschichte, ordnen sie in Zusammenhänge ein.

In der Regel ist das Verhältnis von Architekten zu Denkmalen also eher ambivalent. Und für die Frage, wie wir es mit dem Denkmalschutz halten sollen, fühlt sich natürlich traditionell die Denkmalpflege zuständig. Das ist einerseits nicht unproblematisch; doch andererseits erweist sie sich bei näherem Hinsehen keineswegs als eine sakrosankte Macht mit gefestigten Ansichten und Institutionen. Nein, es lässt sich durchaus beobachten, dass innerhalb der Disziplin die Positionen immer wieder hinterfragt werden. Wie es beispielsweise der Wiener Kunsthistoriker Werner Lipp unlängst gemacht hat, als er mit seinem Diktum von einem "postmodernen Denkmalkultus" die Diskussion befeuerte.

Seine Thesen lassen sich wie folgt paraphrasieren: Die Denkmalpflege sei als öffentliches Anliegen der modernen, sich kontinuierlich beschleunigenden Gesellschaft in immer kürzeren Abständen gefordert, ihr Handeln auf seine gesellschaftliche Relevanz hin zu überprüfen, "Wertfrachten" nicht nur zu tradieren, sondern auch zu hinterfragen und die Sinn- und Bedeutungsangebote von Denkmalen zu aktualisieren. Damit geht es Lipp um die Begründung von "Wertinnovationen", das Abwägen neuer, der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entsprechender Werte und Erhaltensgründe. Und das scheint in der Tat zukunftsträchtig.

Das Motto lautet: Der Blick zurück nach vorn. Aus der Retrospektive lassen sich ja Lehren ziehen. Es ist nur scheinbar paradox, dass die 70er Jahre als hohe Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalimus, zugleich aber als Dekade der Denkmalpflege gelten. Dem liegt vielmeh eine gewissen Logik zugrunde. Nachdem Alexander Mitscherlich sehr folgenreich die "Unwirtlichkeit der Städte" konstatiert hatte, kam den Denkmalen eine neue gesellschaftliche Bedeutung zu: Sie wurden gleichsam zu Trägern emanzipatorischer Postulate gegen eben diese Unwirtlichkeit. Bürgerbewegungen setzten sich erfolgreich gegen Abbruch und Auskernung von Altbauten zur Wehr; Gründerzeit und Historismus wurden wieder entdeckt, ihre Wohnbauten neu geschätzt. Eine adäquate historische Verankerung gilt seither als unentbehrlich für die Ausbildung von baulicher Identität.

Gleichwohl - und dem nicht widersprechend - wäre die Denkmalpflege entschieden falsch beraten, wenn sie sich allein auf die Vergangenheit ausrichtet. Denn das Bild der historischen Stadt lässt sich nicht als direktes Planungsinstrument für die Stadt der Zukunft verwenden, gleichsam auf die Nebelwand der Zukunft als Diapositiv projiziert, das man nachzeichnen könnte. Vielmehr liegt ihre Aufgabe darin, als strategisches Element im künftigen Baugeschehen zu fungieren. Ist sie doch für eine behutsame Entwicklung der europäischen Stadt letztlich ebenso unverzichtbar wie für einen nachhaltigen Umgang mit den begrenzten Ressourcen.

Denn grundsätzlich gilt: Kulturelle Identität bilden wir ebenso aus dem, was wir erben, wie aus dem, was wir selbst dazutun. Wobei freilich die Geschichte dem menschlichen Leben gleicht: Sie wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.

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UNESCO-Weltkulturerbe Zeche Zollverein (Bild: Thomas Robbin, Lizenz: CC-BY-SA-3.0)