Der Therapeut in der Hosentasche

Nach einer britischen Studie ist Telefontherapie bei Depressionen und Angststörungen ebenso wirksam wie eine Psychotherapie in der Praxis - und sie kommt billiger

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Mit der Telearbeit geht es nicht so schnell voran, wie man noch Mitte der 1990er Jahre dachte. Überhaupt hat der Exodus ins Virtuelle nicht stattgefunden, der auch prophezeit worden war. Dafür verschmelzen virtuelle und reale Welt im Zuge der digitalen Mobilisierung immer stärker - was noch einen Schritt nach vorne machen wird, wenn die Datenbrillen zum Standard werden und die Handys aus der Hand verschwinden.

Zugenommen hat freilich die permanente Kommunikation mit nicht körperlich Anwesenden - verbal, schriftlich und über Videotelefonie. Zwar heißt es immer, die Fernkommunikation könne nie die Qualität der Nahkommunikation zwischen körperlich Anwesenden erreichen, auch wenn Face-to-Face schon längst nicht mehr körperliche Anwesenheit einschließt, aber in vielen Hinsichten reicht dies völlig aus. Es kommt halt darauf an, ob es einen Zweck für die Kommunikation gibt oder ob man sich einfach trifft, um zusammen zu sein, die Nähe zu spüren etc.

Wissenschaftler der University of Cambridge wollen nun jedenfalls herausgefunden haben, wie sie im Open-Access-Journal PLoS One schreiben, dass eine Psychotherapie, genauer eine kognitive Verhaltenstherapie, genauso wirksam über das Telefon wie mit der körperlichen Kopräsenz von Therapeut und Klient sei. Und die Telefontherapie habe auch noch den guten Nebeneffekt, dass die Schwelle sinkt, also mehr Menschen eine Therapie suchen, und sie vermutlich auch billiger ist.

Für die Studie im Rahmen des Programms Improving Access to Psychological Therapies (IAPT), das den Zugang zu Gesprächstherapien für Menschen mit weit verbreiteten psychischen Störungen wie Angst oder Depression erleichtern will, wurden die Daten von mehr als 39.000 Patienten aus sieben Angeboten kognitiver Verhaltenstherapie von NHS Midlands & East in Ostengland auf Unterschiede zwischen Telefontherapie (OTT) und "Face-to-Face"-Therapie (FTF) untersucht. Allerding besuchten nur 21.000 mehr als zwei Sitzungen. Für die Studie wurden schließlich 6.873 Patienten ausgesucht, denen eine Kurztherapie verschrieben wurde. 32,3 Prozent nahmen an der Telefontherapie teil, 46 Prozent an Face-to-Face-Sitzungen und 21,7 an gemischten Therapien, die aber für die Analyse ausgeschlossen wurden.

Danach sei für alle Patienten, abgesehen von solchen mit schwereren psychischen Erkrankungen, die Therapie übers Telefon genauso wirksam gewesen wie das Gespräch vor Ort. Und - erfreulich für die NHS, die privatisiert werden soll und unter Sparzwang steht - die Telefontherapie war auch pro Sitzung um 36,2 Prozent billiger.

Das sind, so könnte man vermuten, auch die gewünschten Ergebnisse, selbst wenn es heißt, dass man eigentlich mehr Menschen, die sonst durch Transportprobleme, Arbeitsverpflichtungen oder körperlichen Behinderungen verhindert wären, Gesprächstherapien angedeihen lassen will. Die NHS hat bereits mit einem Schulungsprogramm für Therapeuten begonnen, um sie für Telefontherapien fit zu machen und die Therapie standardisiert anbieten zu können. Die NHS gibt, so heißt es, für die Behandlung psychischer Krankheiten mit jährlich fast 10 Milliarden Pfund mehr aus als für die Krebs-, Herz-, Schlaganfall- und Asthma-Behandlungen. Ein Drittel ihrer Zeit würden praktische Ärzte für Tätigkeiten aufwenden, die mit psychischer Gesundheit zusammenhängen.

Die Wissenschaftler meinen, dass Telefontherapie weltweit interessant sein könnte, um den Millionen von Menschen, die unter Depressionen oder Angststörungen leiden, wirksam behandeln zu können: "Da die Verbreitung der Mobiltelefonie in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen wächst, besitzen die Menschen nun die Möglichkeit, einen Therapeuten in ihrer Hosentasche zu haben, was traditionelle Hindernisse zur Verschreibung wirksamer Therapien überschreitet."

Telefontherapie hätte natürlich den von den Wissenschaftlern nicht erwähnten Effekt, Kosten auch durch Outsourcing der Therapeuten in billigere Länder senken zu können, wenn diese die jeweilige Sprache beherrschen. Und dann könnte man das Ganze schließlich auch an noch billigere KI-Programme delegieren. Dass auch dies funktionieren kann, hatte Joseph Weizenbaum bereits in den 1960er Jahren prinzipiell mit dem noch sehr primitiven Programm Eliza demonstrieren können. Der Trend zu Onlinetherapien, die in vielfältiger Form angeboten werden, ist sowieso unübersehbar. Und sie werden eben auch deswegen gerne angenommen, weil die Barriere geringer ist, als wenn man einen Therapeuten in einer Praxis aufsuchen muss.