Der fremde Kandidat

Peer Steinbrück steht für den Niedergang der SPD. Warum es dennoch keine Debatten in der Partei gibt

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Knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl versucht die Führung der deutschen Sozialdemokratie das schier Unmögliche: Mit Peer Steinbrück soll ein mehrfacher Millionär, mutmaßlicher Lobbyist und Mitverantwortlicher der Hartz-IV-Reformen die SPD zum Sieg führen. Während die Debatte über die üppigen Nebeneinkünfte des 65-Jährigen anhält, versuchen die Wahlkampfstrategen, die Partei als Verfechterin von sozialer Gerechtigkeit zu positionieren.

Der massive Unmut über diesen Spagat an der Basis wird von der Parteiführung übergangen. Kritiker trauen sich aus Angst vor personellen Konsequenzen kaum, offen gegen den unbeliebten Kandidaten aufzubegehren. Steinbrück selbst reagiert mal eingeschnappt, mal aggressiv auf die öffentliche Debatte über seine Person. Doch dem wachsenden Druck der schlechten Umfragewerte wird er nicht ewig standhalten können. Je näher die Wahl rückt, desto deutlicher wird: Das Problem Steinbrück ist das Problem einer entwurzelten SPD.

Leger, mit intellektuellem Hintergrund sucht dieses SPD-Pressefoto den designierten Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück darzustellen. Bild: Daniel Biskup/SPD

Gerade einmal 29 Prozent konnte die ehemalige Volkspartei im letzten DeutschlandTrend verbuchen), ein Wert, der manchem langjährigen Aktivisten an der sozialdemokratischen Basis wohl die Tränen in die Augen treibt. In den siebziger Jahren lagen die Sozialdemokraten schließlich stabil über 40 Prozent und bis zum Ende der neunziger Jahre noch weit über 30 Prozent.

Obwohl der Niedergang der Partei mit den Hartz-IV-Reformen einsetzte, führt die SPD-Führung diese Linie mit Peer Steinbrück programmatisch und personell weiter. Die Folgen sind offensichtlich: Der zuletzt gemessene Wert korrespondiert mit dem ebenso schlechten Ergebnis, das der Kandidat in einer Vergleichsumfrage zu Spitzenpolitikern Mitte November einfuhr. In den Tagen zuvor hatte Steinbrück angesichts der Debatte über seine Nebeneinkünfte nochmals Prozentpunkte eingebüßt (Steinbrücks Nominierung schadet der SPD). Die amtierende Kanzlerin Angela Merkel hat bei solch einer Konkurrenz und bei Sympathiewerten von 53 Prozent kaum etwas zu befürchten. Die Grünen kündigten indes einen "eigenständigen Wahlkampf" an.

Juristisch ist der Kritik nicht mehr beizukommen

In der SPD ist inzwischen offen von einem "Fehlstart" Steinbrücks die Rede, wozu auch der Umgang des Kandidaten mit der Kritik beigetragen hat. Zunächst hatte der ehemalige Finanzminister versucht, die Pressebeiträge über ein 25.000-Honorar zu ignorieren. Mehrere Medien hatten darüber berichtet, dass Steinbrück im November 2011 an der Veranstaltung "Atriumtalk" der Bochumer Stadtwerke teilgenommen hatte. Nachdem er sich einer Stunde lang den Fragen eines Sportjournalisten gestellt hat, kassierte der SPD-Mann ein Honorar in Höhe von 25.000 Euro.

Auf den Skandal folgte das Skandälchen: Die Leitung der Stadtwerke widerrief Anfang November ihre Darstellung, Steinbrück habe das Honorar entgegen der mehr oder weniger expliziten Absprachen nicht für wohltätige Zwecke gespendet (Kommunikationsschwierigkeiten). Süffisant wies die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung unter Berufung auf eigene Quellen darauf hin, dass der Vorstand der Stadtwerke eine Unterlassungserklärung erst nach einer Unterredung mit Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz unterzeichnete. Die SPD-Politikerin habe "in ihrer Funktion als Aufsichtsratsvorsitzende der Stadtwerke" am 4. November - einem Sonntag - mit der Geschäftsführung des kommunalen Unternehmens hinter verschlossenen Türen getagt. Hinterher war von "Irritationen" und missverständlichen Absprachen die Rede.

Juristisch mag sich der Kandidat wehren können. Doch der zunehmend emotionale Verlauf der Debatte zeigt, dass Steinbrück als Vertreter einer sozialpolitisch ausgerichteten Partei kaum mehr Glaubwürdigkeit besitzt. Als ehemaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfahlen habe er um die klamme Haushaltslage Bochums wissen müssen, merkten Kritiker an. Die Verteidigung von Steinbrück machte die Sache fast noch schlimmer. Er verstehe nicht, weshalb immer nur die anderen Geld verdienen sollen und Sozialdemokraten nicht.

Parteiinterne Kritiker trauen sich nicht aus der Deckung

Zu den wenigen, die sich angesichts solcher Fauxpas aus der Deckung wagten, gehörte der Berliner SPD-Landeschef Jan Stöß. Im Interview mit der Bild-Zeitung äußerte der Vertreter des linken Parteiflügels Verständnis für die Kritik. Es sei richtig, so Stöß, "dass an einen Kanzlerkandidaten besondere Maßstäbe angelegt werden". Der Landeschef der Berliner SPD beklagte zugleich, dass für die Partei wichtige sozialpolitische Themen wie die Arbeitsmarkt-, die Renten- und die Mietpolitik in den Hintergrund treten.

Doch Stöß’ Wortmeldung blieb ein Einzelfall. Der Funktionär wagte sich offenbar nur aufgrund seiner bereits gewichtigen Position und der publizistischen Macht der Springer-Zeitung aus der Deckung. Fragen Journalisten dieser Tage bei bekannten Steinbrück-Kritikern in der Partei an, winken diese ab. Der Kanzlerkandidat sei bewusst inmitten der bundesweit laufenden Delegiertenwahlen benannt worden, heißt es aus ihren Reihen. In dieser Situation offen gegen Steinbrück zu protestieren, wäre einem politischen Selbstmord gleichgekommen.

Die Nominierung von Peer Steinbrück sei eine "konsequente Fortführung der Personalpolitik nach zehn Jahren neoliberaler Politik in der SPD", sagt ein bekannterer Steinbrück-Kritiker gegenüber Telepolis, der namentlich nicht genannt werden will. Es gebe in der Partei nach wie vor den starken Wunsch, an der Positionierung etwas zu ändern und wieder mehr Sozialpolitik zu etablieren. "Für uns ist es ein großes Problem, dass wir nach wie vor als die 'Agenda-Partei' zählen, also die Partei, von der die ‚Agenda 2010’ durchgesetzt wurde", sagte der Mann. Doch gerade dafür stehe Steinbrück.

Dass der derzeitige Kanzlerkandidat noch einmal als Juniorpartner in eine Bundesregierung unter Merkel eintritt, glaubt in der SPD niemand. Das heißt aber nicht, dass es keine neue Große Koalition gibt, zumal sich diese Option bei den derzeitigen Kräfteverhältnissen neben Schwarz-Grün aufdrängt. Steinbrück würde sich im Zweifel wohl zurückziehen und einem anderen SPD-Vertreter den Vortritt lassen, verlautet aus der Partei. Dann würden die Sozialdemokraten in einer neuen Großen Koalition erneut nur den Vizekanzler stellen.

Die Kandidaten der Medien

Offen geführt wird die Debatte nur von denjenigen, die keine Posten mehr besetzen. Albrecht Müller, der in den siebziger Jahren Planungschef im Bundeskanzleramt unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt war, hält Steinbrück jedenfalls nicht für einen geeigneten Kandidaten. Steinbrück habe als Finanzminister die Finanzmärkte dereguliert und das später in der damaligen Koalitionsvereinbarung mit der Union festgelegt, sagt der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete gegenüber Telepolis. Jetzt sei er für die Verschärfung der Regeln. Er habe die Beschäftigungsvorgabe polemisiert und jetzt trete er für die SPD für eine aktivere Beschäftigungspolitik ein.

Er habe, was inzwischen beinahe vergessen sei, die Mehrwertsteuer erhöht, so Müller weiter: "Noch 2005 hat die SPD mit einem Plakat gegen die "Merkel-Steuer" Reklame gemacht. Dabei habe die CDU-Politikerin die Mehrwertsteuer um zwei Prozent erhöhen wollen. "Herausgekommen sind hinterher drei Prozent, und das ist im Wesentlichen auf Herrn Steinbrück zurückzuführen", so Müller weiter. Zudem stehe der Kandidat nach wie vor hinter der Agenda 2010. "Dabei müsste sich die SPD eigentlich von dieser Linie lösen, denn viele Leute haben inzwischen die Folgen des Niedriglohnsektors zu spüren bekommen, der eng mit Hartz IV verknüpft ist", stellt Müller fest, der heute den Politblog Nachdenkseiten.de betreibt.

Die dennoch stabile Position des aktuellen SPD-Kanzlerkandidaten führt Müller im Wesentlichen auf mediale Kampagnen zurück. Peer Steinbrück sei ein Medienprodukt, sagt er: "Die Kampagne - einschließlich der Unterstützung von Helmut Schmidt - lief so massiv, wie vier Jahre zuvor für Herrn Steinmeier." Damit wiederhole sich das Phänomen, dass der Kanzlerkandidat der SPD zum vierten Mal nicht von der Partei, ihren Gliederungen und Mitgliedern bestimmt wurde, sondern dass sie der SPD "als Medienprodukte" vorschlagen werden. So habe Gerhard Schröder 1997 gegen Oskar Lafontaine gewonnen, weil es eine massive Medienkampagne im Kontext der Landtagswahlen in Niedersachsen gegeben habe. "Und diesen Fall haben wir wieder", so Müller.