Der geteilte Irak

Neue Regierung formiert sich in bürgerkriegsähnlichem Umfeld

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Gestern Abend hat der irakische Premierminister Dschafari den Entwurf seiner Kabinettsliste an den Präsidenten überreicht; heute Nachmittag sollen die Namen der Minister bekannt gegeben werden. Nach den gegenwärtig gültigen Regelungen hätte die neue Regierung dann noch sieben Monate Zeit zum Regieren - bis zur Wahl der ersten Nicht-Interimsregierung im Dezember.

Dschafari

Das derzeitige Machtvakuum wurde in den letzten Tagen häufig als Erklärung dafür herangezogen, dass sich Anschläge und Angriffe der "Aufständischen" mehrten und entsprechend wieder Platz auf den ersten Seiten der Zeitungen und in den Kommentaren gefunden haben. War vor wenigen Wochen noch die Rede davon, dass sich der Widerstand erschöpfe, schwenkt die US-amerikanische Berichterstattung jetzt wieder auf die andere Seite. In der gerne zitierten, immer ungenannt bleibenden Expertenrunde von "hochrangigen Strategen" in Washington, sieht man die Dinge wieder von der pessimistischen Seite: Die Gefahr des Bürgerkriegs sei größer denn je; kürzlich gemachte Vorhersagen, dass man die US-Truppen innerhalb eines Jahres deutlich reduzieren könnte, würden jetzt nur mit größter Vorsicht bedacht.

"Die Gewalt eskaliert stark im Irak", meldete die Washington Post vor ein paar Tagen. Die Anschlagserien hätten sich um 40% gegenüber März erhöht, die irakischen Sicherheitskräfte seien in Untätigkeit verfallen, Initiativen gegen die Aufständischen seien zum Erliegen gekommen.

In einer Stadt nach der anderen, an immer mehr Orten, haben die Sicherheitskräfte, die sich verpflichtet haben, den Irak zu sichern und die US-Truppen zu ersetzen, scheinbar ihre Posten verlassen oder sich darin verschanzt, aus Angst vor Angriffen.

Man sei wieder bei 50 bis 60 Anschlägen pro Tag, so der US-General Richard Myers gestern: das gleiche "Level" wie im letzten Jahr. Die Aufständischen, folgert der ranghöchste US-Militär für den Irak, hätten nichts von ihrer Kapazität eingebüßt.

Stattdessen wird einmal mehr eine neue Taktik der Aufständischen registriert: Die amerikanischen Strategen würden sich über die zwei groß geführten Angriffe auf US-Militärbasen wundern, meldet der altgediente Militärexperte von Knight Ridder, Joseph Galloway:

Gerade als die Kommandeure im Irak anfingen, optimistisch zu werden angesichts des markanten Niedergangs der Anschläge nach den Wahlen im Januar, haben die Aufständischen zwei gut geplante und organisierte Massenangriffe auf eine US-Militärstation bei dem Abu-Ghraib-Gefängnis und eine Marines-Basis an der syrischen Grenze lanciert.

Ob der 24stündige Angriff auf das "Camp Gannon" bei Husaiba an der syrischen Grenze, der nur mit Mühe, aber ohne Verluste auf Seiten der Amerikaner (19 Tote unter den Angreifern) abgewendet werden konnte, großes Selbstvertrauen und taktisches Geschick der Guerillas demonstriert oder deren Schwäche, ist Interpretationssache. Für die einen ist erstaunlich, dass es den "Widerständlern" gelungen ist, beinahe aus dem Nichts einen Trupp von 50 bis 100 Kämpfern aufzustellen und gegen mehrere Hundertschaften von Marines loszuschicken; für die anderen sind solche Aktionen ein verzweifeltes Bemühen um Aufmerksamkeit seitens der Aufständischen, die bei dieser Art der Kämpfe keine Chance gegen die besser gerüsteten und ausgebildeten Profisoldaten der Amerikaner hätten.

Entscheidend für die Stärke der "Insurgents" dürfte indes etwas anderes sein, nämlich die Unterstützung in der Bevölkerung, eine schwer abschätzbare Variable. Inwieweit die neue Regierung hier politisch eine Veränderung in Gang setzen kann, ist die große Frage. Der unendlich lange Postenschacher zwischen Schiiten, innerhalb der Allianz genauso wie gegenüber den Kurden und den Sunniten, hat ihr in der Bevölkerung einiges Vertrauen gekostet. Das laut proklamierte Streben nach Einigkeit hat sich an den verschiedenen Gruppeninteressen beinahe aufgerieben. Vieles hänge davon ab, wie die Sunniten in den politischen Prozess eingebunden werden, wird immer wieder betont. Nach letzten Informationen sollen die Sunniten den Verteidigungsminister und drei weitere Kabinettsposten stellen. Im Gegenzug sollen sich die Sunniten bereit erklärt haben, auf Altbaathisten in den obersten Rängen zu verzichten.

Man darf gespannt sein, wie sich der militärische "Widerstand", von dem behauptet wird, dass er im Kern aus sunnitischen Altbaathisten besteht, auf diese politischen Vorgabe reagiert. Einig ist das sunnitische Oppositionslager, wenn man diese Schablone heranziehen mag, nämlich nicht. Während die einflussreiche Association of Muslim Scholars in den letzten Wochen die Anschläge gegen Iraker verdammt hat und für ein Vorgehen gegen die ausländischen, "importierten" Guerillakämpfer eintrat, gab es auch Stimmen von sunnitischen Scheichs, welche zum Kampf gegen Kurden und Schiiten aufforderten und sie mit den verhassten Besatzern gleichsetzten (vgl. Sunniten am Katzentisch).