Der heilige Horst

Der Markenname "RAF" hat den großen Vorteil, erstens für zuverlässigen Umsatz zu sorgen und zweitens markenrechtlich nicht geschützt zu sein. Eine solche Ressource darf die Kulturindustrie nicht ungenutzt lassen

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Sie wird nicht ruhen, bis auch die letzte Story verwurstet ist, die mit der RAF irgendwie in Verbindung gebracht werden kann.

Neuester Beleg für diese Behauptung ist das Buch "Stammheim - Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck" von Kurt Oesterle, im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer erschienen. Jetzt kann man sagen, so was soll nicht in die Hand nehmen, wer gut durch den Tag kommen will; im Stammheim-Stadl sind schon viele Geschichten aufgeführt worden, und das ist nur eine mehr. Zudem wird das Buch wie ein drittklassiges Zirkusprogramm beworben: "In dieser wahren Geschichte kommen zutage: gänzlich unbekannte Details, unerhörte Geschichten, Bizarrerien, Gemeinheiten und Repressionen - und auch die Hackordnung unter den Gefangenen selber." Menschen, Tiere, Sensationen also, und schon beim Klappentext keimt der Verdacht auf, es könne mit der Pudeldressur etwas nicht stimmen, wenn sie eine Einführung wie diese nötig hat. Dann will man aber doch wissen, worum es geht, und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Worum geht es? Darum, dass jemand aus dem Nähkästchen geplaudert hat, und dass ein Journalist dabeisaß, um es später nach eigenem Gutdünken aufzuschreiben. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass das eine schlechte Ausgangslage für einen brauchbaren Text zur Zeitgeschichte ist, und weil Oesterle das weiß, macht er gleich Nägel mit Köpfen. Seine Geschichte ist nicht nur wahr, sondern auch nicht erfunden, wie eine übereifrige Stilblüte schon verkündet, bevor der Text eigentlich beginnt.

Und die Quelle der Erzählungen ist, das muss man auch gleich wissen, nicht nur über jeden Verdacht der bewussten Fälschung erhaben, sondern ihr Gedächtnis leistet wahrhaft Übermenschliches: "Aber legt man sich seine Erinnerungen nicht immer zurecht?", fragt Oesterle rhetorisch den ehrlichen Zeugen, und der antwortet treuherzig: "In diesem Fall nicht, denn alles, was ich in Stammheim erlebt habe, war zu groß, zu schwer und hat sich viel zu tief eingegraben. Außerdem hatte ich ja nichts zu verbergen. Nur wer etwas zu verbergen hat, lügt seine Erinnerung um." Schocksituationen schärfen also die Gedächtnisleistung, und wer so lauteren Herzens ist wie ein Horst Bubeck, dessen Interessen können seine Erinnerungen nicht färben. Dass er Lügen abstreitet, die ihm gar nicht vorgeworfen werden, fällt bei dieser Nachhilfestunde in Beamtenpsychologie schon gar nicht mehr auf.

So gegen jeden Selbstzweifel immunisiert, erinnert sich dann Horst Bubeck was das Zeug hält, und zwar an die Zeit von 1972 bis 1986, als er stellvertretender Vollzugsdienstleiter in Stammheim war. Zutage kommen tatsächlich unbekannte Details und unerhörte Geschichten: Die RAF-Gefangenen waren nicht der Liebe voll für die Vollzugsbeamten, sie durften in ihren Zellen auch Poster haben, und sie tranken manchmal sogar rohe Eier leer. Keine wirklichen Heiligen, wie die von der radikalen Linken immer noch kontrollierte Hegemonialpresse bisher behauptet hat, sondern finstere Gesellen. Nicht nur Mörder, sondern sogar so frech, deutsche Beamte zu beschimpfen.

Was aber tat Horst Bubeck im Angesicht des Schreckens, dem er, ein ehrliches und beinahe wehrloses Opfer, Tag für Tag ausgesetzt war? Er wappnete sich mit der Rüstung der Geduld, mit dem Schild der Liebe, mit Sanftmut und Mitgefühl. Nur so konnte er darauf vertrauen, "jedem Gefangenen nicht nur mit einem unvoreingenommenen Menschengesicht, sondern auch ohne die mächtige, einen Mann nur unnütz überhöhende Kopfbedeckung unter die Augen zu treten". Und nur aus einer Haltung der in langen Vollzugsdienstjahren geläuterten Menschlichkeit kann er seine ganze Fähigkeit zur Empathie zum Tragen bringen. "Selbstverständlich verbot sich auch jedes Lachen oder Grinsen - der Knast war weder komisch noch ein Vergnügen, nur das Lächeln aus Mitgefühl war von Zeit zu Zeit angebracht, wenn auch gewiss nicht schon bei der Einlieferung." Aber nicht nur den Gefangenen gegenüber, auch im Kontakt mit den weniger gefestigten Kollegen beweist der heilige Horst überlegene Empathiepower:

Er sprach freundlich, fast gütig mit ihnen, denn er selbst war es ja gewesen, der sie zusammen mit der Anstaltsleitung und dem Ministerium, ausgesucht hatte, sie und dreizehn andere Kollegen, weil er ihnen die Kraft und das Augenmaß zutraute, die wahrscheinlich schon bald ans Abenteuerliche grenzende Aufgabe im siebten Stock von Stammheim zu meistern.

Auf abenteuerliche Weise gemeistert hat es Kurt Oesterle, den Erinnerungs-Rappelsack von Horst Bubeck in eine Hagiographie umzuwandeln, die so peinlich ist, dass sie jede Satire in den Schatten stellt. Manchmal wird Oesterle sein eigener Stil unheimlich, und er gibt sich redliche Mühe, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen:

Im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim war der Vollzugsbeamte Bubeck weder ein Außenseiter noch ein einsamer Held der Nächstenliebe innerhalb einer grausamen Ordnung. Vielmehr gehörte er zu einem hierarchisch gegliederten System, dessen eigenwilligster Repräsentant er nur war (...)

Aber dann reißt es ihn wieder mit Macht fort, und er verliert sich in delirösem Geraune über die "Einkreisung", der die tapferen Vollzugsbeamten Stammheims und vor allem Horst Bubeck in jener Zeit ausgesetzt waren:

Wenn man die Lage des Vollzugs im siebten Stock von Stammheim als Kampfordnung auf dem Papier festhalten wollte, dann würde schnell sichtbar, dass Bubeck und die Seinen eingekreist waren.

Eingekreist von "Einkreisungsmächten" nämlich. "Die Namen dieser Mächte lauten: Staat, Presse, Prominente, Sympathisanten und Unterstützer, Angehörige und Anwälte, Bevölkerung, zum Teil sogar die eigenen Vorgesetzten". Man stelle sich vor: Bubeck und die Seinen umzingelt vom Bösen, im Kampf nur gestützt vom eigenen Glauben an das Recht. Tapfere Frontsoldaten des Rechtsstaats, denen eine intrigante und pflichtvergessene Umwelt den Dolch bis zum Heft in den Rücken stößt.

Natürlich misst sich das Buch eine politische Agenda zu. Die Fresszettelsammlung eines Rentners soll den Beweis erbringen, dass es in Stammheim so etwas wie Isolationshaft nie gab, dass moralisch minderwertige Gefangene praktisch Hotelvollzug genossen, und dass diese Tatsache nur deswegen nicht bekannt ist, weil sie von einer verschworenen Gemeinschaft von Dummköpfen geleugnet wird, die leider bis heute das Sagen in Presse und Kultur hat.

Nebenbei will das Buch auch zum einhunderttausendsten Mal beweisen, dass die Stammheimer Todesfälle von 1977 wirklich, wirklich, wirklich Selbstmorde waren, was so lange bewiesen werden wird, bis auch der Letzte daran zweifelt. Wie die meisten "Jetzt endlich!"-Bücher tritt dieses mit dem Anspruch auf, lange verhinderte Aufklärung zu bieten. Aus ihm spricht der Furor der Entzauberung, am nachdrücklichsten dort, wo schon lange nichts mehr entzaubert werden muss. Es weist der Mehrheitsmeinung den Weg zu sich selbst, und baut dem kleinen Mann, der sich schon immer als das eigentliche Opfer gesehen hat, das Denkmal, das er schon immer verdient zu haben glaubte.

Das könnte durchaus Erfolg haben bei einer Leserschaft aus lauter Opfern, bei der sich zum Beispiel die Luftkriegsprosa eines Jörg Friedrich verkauft wie geschnitten Brot.

Aber die Umsetzung ist so misslungen, der Heldenmythos so ungeschickt verengt auf die Zielgruppe der Justizbediensteten, die Darstellung so grotesk verzerrt von einer schon schmerzhaft zu nennenden Anbiederung an den Kronzeugen, dass einem angst und bang werden müsste, hätte man den kommerziellen Erfolg dieser Kunstanstrengung zu verantworten. Vielleicht hat deswegen der Verlagsgründer in seinem Herbstprogramm '03 das Buch nicht nur mit der Behauptung versehen, es sei eine "Entmythologisierung", sondern dieser Behauptung auch noch drei Auslassungspünktchen hinterhergeschickt, als müsse sich erst noch erweisen, ob sie auch geglaubt wird.

Die Strategie der RAF war von vornherein zum Scheitern verurteilt, ihre Praxis war grausam und ihre Theorie wirr. Wer etwas über den unglaublichen Druck erfahren will, der in dieser Gruppe herrschte, und über ihre enorme Verhärtung nach innen und außen, kann es aus erster Hand haben: das info (hrsg. von Pieter Bakker Schut, Malik Verlag, 1987) ist nur ein Beispiel dafür. Um zu einer historischen Einschätzung der RAF zu kommen, muss man schon an ihrer Strategie, ihrer Theorie und ihrer Praxis ansetzen. Die mühsam zusammengekitteten Lebenserinnerungen eines betroffenen Justizangestellten, der sich den Lebensabend literarisch veredeln lassen will, sind dazu nicht geeignet.