Der kleine Bruder des Schmerzes

Wissenschaftler rätseln über den Juckreiz

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Ein lauer Sommerabend, entspannt sitzt man draußen, lauscht dem Zirpen der Grillen und beobachtet das Leuchten der Glühwürmchen, da juckt es einen plötzlich irgendwo intensiv. Wahrscheinlich ist eine Mücke dafür verantwortlich und wo sie zugestochen hat, ist die Haut gereizt und fast mechanisch beginnt man sich an der Stelle zu kratzen, wo eine kleine Quaddel entsteht. Ein alltäglicher Vorgang, doch das Jucken und das Kratzen sind wissenschaftlich immer noch nicht vollständig verstanden.

Wer hat als Kind nicht mindestens einmal Juckpulver aus der Tüte oder aus selbst gestampften Hagebutten unter die Textilien gebracht und sich köstlich über die folgenden Kratzorgien amüsiert? Medizinisch definiert sich der Juckreiz (auch als Pruritus bezeichnet) als "hautspezifische Empfindung" und über den Kratzreflex, den er auslöst. Wie das genau funktioniert, darüber rätseln die Forscher noch. Es ist ein Zusammenspiel von provozierenden Molekülen, transportierenden Nerven und dem die Signale verarbeitenden Gehirn. Im Fall des Mückenstichs ist der eiweißhaltige Speichel des Quälgeistes für die Abwehrreaktion des Körpers verantwortlich. Der Botenstoff Histamin wird freigesetzt und provoziert über Nervenenden den Alarm, der über das Rückenmark zur Großhirnrinde ins Gehirn geschickt wird. Dort aktiviert er verschiedene Areale.

Der Ablauf nach der Berührung mir Hagebuttenhärchen oder Juckpulver sieht sehr ähnlich aus. So weit so gut, aber das ist die Reaktion auf simple Stoffe und Juckreiz kann von verschiedensten Ursachen herrühren. Der genaue Ablauf der Reaktion, der neurochemische Weg des Signals und seine Verarbeitung sind noch nicht genau geklärt.

Nicht alle Formen des Juckreizes sind vorübergehend und relativ harmlos. Der "kleine Bruder des Schmerzes", wie er auch genannt wird, kann in intensiver oder chronischer Form Patienten wahrlich bis aufs Blut quälen. Sie kratzen sich die Haut immer wieder auf, können nicht mehr schlafen oder werden sogar in den Selbstmord getrieben. Auf der Website der internationalen Juck-Forscher zeigen nächtlich aufgenommene Videos die starke Beeinträchtigung der Lebensqualität der Geplagten. Bis vor zehn Jahren war die Forschung in diesem Bereich eher ein Stiefkind der Dermatologie und Neurologie, aber das hat sich geändert. Noch stehen nicht genügend Therapien zur Verfügung, obwohl eine Vielzahl von Menschen an Juckreiz leidet. "Ich glaube, unsere Patienten verdienen besseres," meint Dr. Gil Yosipovitch von der Wake Forest University School of Medicine, einer der Initiatoren der Site gegenüber der New York Times.

Juckreiz ist im Grunde ein Symptom, er kann ausgelöst werden durch eine Vielzahl von Faktoren. Ekzeme, speziell Neurodermitis können ihn hervorrufen, Allergien, Nessel- oder Quaddelsucht (Urtikaria), Infektionskrankheiten wie z.B. die Windpocken, Parasiten und Pilze, Krebs, psychische oder hormonelle Störungen, aber auch innere Erkrankungen wie Leberfunktionsstörungen oder Diabetes. Selbst Sonnenbrand oder zu trockene Haut können ihn hervorrufen. Die Behandlungsansätze sind ebenso vielfältig wie die Ursachen.

Bis vor wenigen Jahren glaubten die Wissenschaftler, Schmerz und Juckreiz würden durch die gleichen Nervenbahnen transportiert, Jucken sei also eine Art Unterform des Schmerzes. Mit dieser Vorstellung räumte der Physiologe Dr. Martin Schmelz von der Uni Erlangen auf, der die eigenen Juck-Melder des Körpers, feine Nervenfasern in den oberflächlichen Hautschichten fand.

Schmerz und Jucken sind völlig unterschiedliche Phänomene, das entspricht der praktischen medizinischen Erfahrung, denn Juckreiz tritt im Gegensatz zu Schmerz nur auf der Hautoberfläche auf und er löst den Kratzreflex aus, während Schmerz lähmend wirkt. Starke Schmerzmittel wie Morphine betäuben das Jucken nicht, sie provozieren es unter Umständen sogar.

Eine eigene Forschung über das Jucken macht also Sinn. Zurzeit versucht Dr. Ulf Darsow von der Klinik für Dermatologie der TU München) mithilfe der Positronen-Emissions-Tomographie die Regionen des Gehirns im Detail zu definieren, die an der Verarbeitung der Juck-Impulse beteiligt sind. Er stellte fest, dass viele Areale intensiv aktiviert werden, um den Kratzreflex auszulösen. Es gibt also kein "Juck-Zentrum" im Hirn und die Gewichtungen der verschiedenen Aktivierungen auszuloten, bleibt eine umfassende Aufgabe für Folgestudien.

Dr. Earl E. Carstens von der University of California in Davis sieht auch noch Herausforderungen in der Erforschung des Kratzens: "Das große Geheimnis in diesem Feld ist der Link zwischen dem Signalweg des Juckens und dem Reflexweg des Kratzens."

Zweifelsfrei tut kratzen im ersten Moment gut, aber Selbstbeherrschung ist angesagt, denn wer sich kratzt oder reibt, den juckt es danach noch mehr, ein Teufelskreis. Und Stress ist ein Faktor, der den Juckreiz nachweislich verstärkt. Ablenkung tut Not und wem es nicht gelingt, sich auf etwas anderes als den Kratzimpuls zu konzentrieren, dem geht es wie Huckleberry Finn:

If you are with the quality, or at a funeral, or trying to go to sleep when you ain't sleepy - if you are anywheres where it won't do for you to scratch, why you will itch all over in upward of a thousand places.

Mark Twain, Adventures of Huckleberry Finn