Der schwedische Kurs in den Corona-Winter

Victoriaplatz in Haparanda/Tornio mit finnischem Grenzzaun. Foto: Andrea Seliger

Macht Schweden vor, wie "Leben mit dem Virus" funktioniert?

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Schweden hat noch keine Herdenimmunität, nicht einmal in Stockholm. Das zeigen die steigenden Infiziertenzahlen. Während in vielen Ländern aber schon wieder zu neuen Restriktionen gegriffen wird, bleibt Schweden weiter auf seinem eigenen Kurs. Die neuesten Maßnahmen zur Covid-Lage: Ein bisschen wird gelockert, ein bisschen wird angezogen. Macht Schweden vor, wie "Leben mit dem Virus" funktioniert?

Schweden gilt allgemein als das Land, in dem alles etwas lockerer lief. Das stimmt allerdings nur bis ungefähr Juni. Während die meisten europäischen Länder bald nach dem Lockdown auch wieder größere Veranstaltungen (mit Abstand) zuließen, lag die Grenze in Schweden fest bei 50 Personen. Vergnügungsparks blieben geschlossen, Profisportvereine zählten ihre letzten Kronen, Künstler drehten Däumchen oder improvisierten mit kleinem Publikum und Livestreams.

Anfang August forderte der Komiker und Autor Jonas Gardell öffentlich den Rücktritt der Kultur- und Sportministerin Amanda Lind. Nach langen Beratungen hinter den Kulissen liegt nun ein Änderungsentwurf der aktuellen Regeln vor: Ab dem 15. Oktober soll es unter bestimmten Auflagen Ausnahmen für sitzendes Publikum bis zu 500 Personen mit einem Meter Abstand geben - vorbehaltlich der weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehens.

Zur Normalität gehört, dass ältere Menschen in Heimen Besuch von Bekannten und Angehörigen bekommen können. In Schweden war dies bis zum 30. September nur sehr eingeschränkt möglich - es galt ein landesweites Verbot mit wenigen Ausnahmen. Etwa die Hälfte der knapp 5.900 mit Covid-19 Verstorbenen in Schweden lebte im Heim, es ist erwiesenermaßen die Gruppe, für die das Virus am gefährlichsten war. Dieses Besuchsverbot wurde nun von der Regierung aufgehoben.

Es ist nun Aufgabe der Einrichtungen, dafür sichere Möglichkeiten zu bieten. Es liege in der Verantwortung jedes Einzelnen, sich entsprechend zu verhalten und die Einrichtungen nicht mit potenziellen Covid-Symptomen zu betreten, so Sozialministerin Lena Hallengren. Diese Aufhebung ist von vielen heiß ersehnt, kommt aber zu einem Zeitpunkt, an dem wieder mehr Einrichtungen Infektionen unter Bewohnern und Personal melden. So hat beispielsweise die Kommune Jokkmokk mit Einverständnis des zuständigen Infektionsschutzarztes angekündigt, wegen eines aktuellen Ausbruchs das Besuchsverbot um zwei Wochen zu verlängern.

So sieht die schwedische Corona-Statistik aktuell aus: Die 14-Tage-Inzidenz pro 100 000 Einwohner wird mit 54,8 angegeben. Das ist zwar höher als in Deutschland, aber geringer als in sehr vielen anderen europäischen Ländern zurzeit. Bisher schlagen sich die höheren Infiziertenzahlen nicht signifikant in einer höheren Belastung für die Krankenhäuser nieder. "Zurzeit ist Covid eine Krankheit unter vielen" betonte Thomas Lindén, Abteilungsleiter der Sozialbehörde, bei der jüngsten Corona-Pressekonferenz.

Die Krankenhäuser seien zurück im Normalbetrieb. In ganz Schweden lagen am Freitag 22 Personen mit Covid-19 auf der Intensivstation. Wie in den meisten Ländern sind es nun die jüngeren Leute, die infiziert sind und die selten schwer krank werden.

Staatsepidemiologe Anders Tegnell und seine Kollegen in den Regionen predigen zwar weiterhin, die Pandemie sei noch nicht vorbei und ermahnen zur Einhaltung von Abstand, Händewaschen und zuhause bleiben, wenn man krank ist. Doch auch die Behörde ist zum Alltagsbetrieb übergegangen: Die öffentliche Corona-Statistik wird inzwischen nur noch von Dienstag bis Freitag aktualisiert - Begründung: Die Zahlen vom Wochenende kämen ohnehin verzögert. Die schwedischen Zahlen in der ECDC-Statistik sind deshalb auch nur von Mittwoch bis Samstag aktuell.

Isolation von potenziell Infizierten

Um die Verbreitung des Virus im Zaum zu halten, hat die schwedische Gesundheitsbehörde nun allerdings ein Instrument ausgepackt, das anderswo für Erstaunen sorgen mag - weil es erst jetzt kommt: "Verhaltensregeln für Menschen, die mit Infizierten in einem Haushalt leben.". "Quarantäne" mag Tegnell es nicht nennen, es geht auch längst nicht so weit wie deutsche Praxis von Kontaktverfolgung und Quarantäne.

So sollen in Schweden nun beispielsweise Partner von Covid-19-Infizierten eine Woche lang nicht zur Arbeit gehen, höchstens zuhause arbeiten. Kita- und Grundschulkinder sollen allerdings weiter ihre Einrichtungen besuchen (dürfen). Hier bleibt die Behörde bei ihrem Standpunkt, dass die jüngeren Kinder keine große Rolle bei der Virusverbreitung spielen und Schulbesuch wichtig ist. Bisher gab es überhaupt keine Einschränkungen für die nahen Kontakte von Infizierten - der Fokus war auf den Symptomen und allgemeinen Abstandsregeln.

Warum man dies nicht schon während des großen Ausbruchs im Frühjahr eingeführt hat? Das Verfolgen von Kontakten braucht Ressourcen, die es damals nicht gab - alle waren mit denen beschäftigt, die tatsächlich krank waren. Zudem wären zu viele Leute zuhause geblieben, die an den Arbeitsplätzen in den Krankenhäusern in der Pflege dringend gebraucht wurden, so Tegnells Erklärung auf diese Frage in der jüngsten Pressekonferenz.

Getestet wird in Schweden inzwischen recht umfangreich, 120 000 bis 140 000 Tests pro Woche in einem Land mit 10,3 Millionen Einwohnern. Mit den "Verhaltensregeln", die von offizieller Seite angeordnet werden können, aber nicht müssen, geht Schweden nun einen kleinen Schritt weiter in Richtung gezielter Viruseindämmung.

Essen gehen kann man in Schweden aber weiterhin, ohne seine Daten zu hinterlassen, und eine App zur Kontaktverfolgung gibt es auch nicht. Genausowenig wie eine allgemeine Maskenpflicht, auch wenn inzwischen vereinzelt Masken zu sehen sind und nicht ausgeschlossen wird, dass es irgendwann eine Empfehlung dazu geben kann.

Schweden und die Grenzen

Zu den Dingen, die Corona extrem schwierig gemacht hat, gehört das Reisen ins Ausland - sei es nun beruflich oder privat. Schwedens Nachbarländer Norwegen und Finnland fuhren hier einen besonders restriktiven Kurs. Zurzeit gibt es kaum noch europäische Länder, die deren Einreisekriterien erfüllen, auch Deutschland nicht.

Wer ein Bild für das Scheitern Europas in der Coronakrise sucht, dem sei der Victoriaplatz in Haparanda/Tornio empfohlen. Das Zusammenwachsen der Grenzstädte Haparanda (Schweden) und Tornio (Finnland) war ein Vorzeigeprojekt. Der Platz direkt auf der Grenze wurde einst von der EU mitfinanziert. Ende März kam dann, was die Einwohner beider Seiten niemals für möglich gehalten hätten: Ein Zaun quer über den Platz, aufgestellt vom finnischen Grenzschutz, den nun auch wieder Kontrollen durchführte und die Einreise verweigern konnte. Er verschwand für eine Woche, nachdem Finnland seine Regeln änderte.

Victoriaplatz in Haparanda/Tornio. Bild: Andrea Seliger

Nachdem Schwedens Infiziertenzahlen stiegen, steht er nun wieder da. Damit das Leben weiter funktioniert, gibt es zwar diverse Ausnahmeregeln. Doch die Grenzkontrolle auf dem Weg zur Arbeit gehört für viele nun seit Monaten zur sogenannten "Neuen Normalität".

Schweden hat sich zwar den von der EU beschlossenen Einreiserestriktionen angeschlossen. Für EU/EFTA/GB-Bürger war die Grenze jedoch immer offen. Man erwartete eben von den ausländischen Touristen, dass sie ebenso wie alle anderen Abstand hielten und sich die Hände wuschen. Die Virusverbreitung durch Ausländer spiele keine große Rolle verglichen mit der durch die einheimische Bevölkerung, so die pragmatische Auffassung der Gesundheitsbehörde. Der Härtetest für diese Theorie steht noch aus: Die meisten ausländischen Touristen blieben nämlich von selbst weg, weil ihnen sonst zuhause Quarantäne drohte (am Anfang des Sommers) oder weil sie der Lage insgesamt nicht trauten.

Nach einem halben Jahr Corona gehört Schweden zwar zu den Ländern mit den meisten Todesopfern in der Statistik. Die aktuelle Virusverbreitung liegt im europaweiten Vergleich aber im besseren Mittelfeld mit vergleichsweise wenig Einschränkungen.

Zur Herdenimmunität hat es selbst in Stockholm noch nicht gereicht - in der 39. Woche gab es 923 neue Covid-Diagnosen, die 40. Woche wird mindestens auf demselben Niveau enden. Das sorgt für erhobene Augenbrauen, aber nicht für Panik - und das dürfte auch so bleiben, solange man in den Krankenhäusern keine wachsenden Belastungen spürt.