Deregulierung: Die Staatsanwaltschaft gegen ein zynisches System

Anklage gegen Top-Manager wegen grausamen Mobbings, um Kündigungsziele zu erreichen: Die Selbstmordserie der Angestellten bei Télécom France hat ein Nachspiel

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In Frankreich bahnt sich ein interessanter Prozess an. Sollte dem Antrag der Staatsanwaltschaft zugestimmt werden, müssen sich die Top-Manager von France Télécom (heute Orange) wegen Mobbing vor einem Strafgericht verantworten. Das Strafmaß dafür steht laut Gesetz bei zwei Jahren Gefängnis und einer Zahlung von 30.000.

Auf dem Spiel steht jedoch mehr. Noch nie zuvor, so französische Medien standen die Spitzen eines Unternehmens, die "nicht die direkten Vorgesetzten der Angestellten waren", vor der Aussicht, dass sie wegen Mobbing angeklagt werden.

Genau genommen verwässert der Ausdruck Mobbing (im Original "harcèlement moral", übersetzt etwa mit beständiges Belästigen oder Bedrängen der inneren Verfassung) die Perfidität dessen, was im Namen der "ökonomischen Vernunft" eines Unternehmens in die Tat umgesetzt wurde. Es geht um ein System an Methoden, um Angestellte zur Kündigung zu treiben. Kurz: um die praktische Anwendung der berühmt-berüchtigten "Deregulierung".

Zur Erinnerung: Ende des letzten Jahrzehnts gab es eine Suizidserie von Angestellten der Télécom France. Von Ende 2006 bis 2009 gab es 60 Suizide, davon wurden von 35 in den Jahren 2008 und 2009 verübt. In Abschiedsbriefen machten die Angestellten auf die unerträgliche Situation im Unternehmen aufmerksam (siehe Mörderische Arbeitsbedingungen und individuelle Verzweiflungsakte, Persönliches Drama oder die Schuld des Unternehmens?).

"Entweder sie werden aus dem Fenster geworfen oder aus der Tür"

Auslöser der Dramen war ein Beschluss der Umstrukturierung des Unternehmens, der im Oktober 2006 verkündet wurde. Das Unternehmen hatte damals 110.000 Angestellte. Bei einem Treffen der 200 leitenden Manager gab der damalige CEO Didier Lombard einen Drei-Jahres-Plan bekannt: 22.000 Stellen sollten abgebaut und 14.000 Arbeitsplätze umgeschichtet werden, "zur Kompensation" soll es 6.000 Neuanstellungen geben.

Lombard setzte dabei einen gewissen Ton, der das Klima der nächsten Zeit vorgab. Man solle "dirigistischer" vorgehen als in der Vergangenheit, sonst sei die Zahl 22.000 Entlassungen nicht zu schaffen. Unmissverständlich sein Zitat dazu: "Im kommenden Jahr 2007 setzte ich das auf die eine oder andere Art um, entweder durch Rauswürfe aus dem Fenster oder aus der Tür."

Lombard gehört, wie die damalige Nummer 2 des Unternehmens Louis-Pierre Wenes und der Chef der Personalabteilung (Human Ressources) Olivier Barberot, zu dreien der insgesamt sieben Führungsmanager, denen ein Strafgerichtsprozess droht. Dass die drei sich selbst nach einem Italo-Western "Der Gute, der Böse und der Hässliche" (in der deutsche Übersetzung des Originaltitels) nannten, sagt schon einiges über ihr Selbstverständnis als Unternehmensführer.

Bonuszahlungen für Kündigungen

Die Methoden, die in ihrem Skript standen, sind weniger glamourös, aber effektiv: Bonuszahlungen wurden mit der Anzahl der Kündigungen, die ein Manager geschafft hat, verknüpft; es gab unzählige Powerpoint-Seminare, sogar eine eigene Managerschule (jährlicher Durchlauf 4.000 Manager), die sich völlig dem Projekt "Wie bringe ich die Angestellten zur Kündigung" widmeten. Härten waren eingeplant, dass die Angestellten zusammenbrechen ("faire craquer"), war Teil des Plans, Entmutigung und Degradierung Säulen der strategischen Methode, die französisch "Politik des leeren Stuhls" genannt wird.

Vier Jahre lang, so Le Monde, habe der Ermittlungsrichter Tausende von Korrespondenzen und anderes Material überprüft, mit Angestellten und Managern gesprochen. Man habe einen Überfluss an Beweisen für systematisches moralisches Bedrängen. Die Anklageschrift habe 193 Seiten. Sie werde nun an ein Strafgericht übergeben, das darüber entscheidet, ob es zu einem Prozess kommt.

In Gang gesetzt wurde die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige der Gewerkschaft, die bei Télécom France tätig war, aufgrund der Suizidserie. Der Anklagepunkt hieß: "Gefährdung von Menschenleben". Das war Dezember 2009.

Sollten die insgesamt sieben ehemaligen Führungsmanager vor Gericht kommen und ein Urteil gegen sie ausgesprochen werden, so könnte es sein, dass ehemalige Mitarbeiter des Telekomunternehmens Prozesse wegen Entschädigungszahlungen anstrengen.