Deutsche Politik in Lateinamerika

Lange war Lateinamerika das Stiefkind der deutschen Außenpolitik. Nun reagiert Berlin auf den politischen Wandel im Süden

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Die 180-Grad-Wendung wurde wenige Tage vor dem EU-Lateinamerika-Gipfel Mitte Mai deutlich. In Vorbereitung auf das Treffen in der peruanischen Hauptstadt Lima richteten beide Parteien der großen Koalition in Berlin internationale Konferenzen aus. Plötzlich stand Lateinamerika im Zentrum der christ- und sozialdemokratischen Politik. Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Bundeszentrale, erinnerte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier an die Zeit nach dem Putsch gegen die Allende-Regierung in Chile 1973. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte nach einer einwöchigen Reise von Brasilien bis nach Mexiko: "Wir tun gut daran, in unseren gesamten Beziehungen Lateinamerika eine größere Aufmerksamkeit zu widmen."

Die Christdemokratin folgte damit einem europaweiten politischen Trend. Anders als vor zwei Jahren, als sich die Staats- und Regierungschefs der EU und Lateinamerikas in Wien trafen, werden die politischen Umbrüche im Süden der USA inzwischen als ernste Gefahr für die wirtschaftlichen Interessen der Industrienationen gesehen. Dass der politische Konflikt Ausdruck divergierender Entwicklungsmodelle im globalen Norden und Süden ist, bleibt weitgehend unerwähnt.

Exponierte Vertreter der SPD wie auch der CDU fassen die neue Linke um Venezuela, Bolivien, Ecuador und andere Staaten Lateinamerikas stattdessen unter der Phrase "Populismus" zusammen. Ihm gegenüber stehe die "Demokratie", heißt es in einschlägigen Dokumenten der beiden deutschen Regierungsparteien CDU und SPD. Erst beim genauen Blick auf die jüngste Reise der Bundeskanzlerin und anderer Regierungsvertreter durch Lateinamerika werden die Hintergründe der neuen Berliner Lateinamerika-Politik deutlich.

Kontakte auch zur Linken - außer Venezuela

Aussagekräftig war schon die Route der deutschen Delegation aus Parlamentariern, Regierungs- und Wirtschaftsvertretern: Nach der ersten Station in Brasilien reiste die Gruppe nach Peru, Kolumbien und nach Mexiko weiter. Ziele und Gesprächspartner waren vom Kanzleramt zuvor festgelegt worden, Empfehlungen oppositioneller Parteien wurden dem üblichen Procedere entgegen nicht berücksichtigt.

Dass sich an der Route nichts ändern sollte, war schon in den Strategieberatungen der Unionsparteien zuvor deutlich geworden. Bei einer Tagung von CDU und CSU im Bundestag hatte die konservative österreichische Politikerin und EU-Kommissarin für Außenbeziehungen Benita Ferrero-Waldner in Berlin die Idee eines "pazifischen" und eines "atlantischen" Modell Lateinamerikas in die Diskussion gebracht. Europa müsse das "pazifische Modell" unterstützen, während in den Staaten des "atlantischen Modells" politisch nahe stehende Gruppen gefördert werden sollen. Solche Aussagen und Merkels Reiseroute - am Pazifik liegen Kolumbien, Peru und Mexiko - belegten einen Vorwurf des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der vor dem Gipfeltreffen in Lima für Aufsehen gesorgt hatte. Chávez hatte Merkel vorgehalten, einen Keil zwischen die lateinamerikanischen Staaten treiben zu wollen.

Auf ihrer Reise kam die CDU-Politikerin mit zehn Staats- und Regierungschefs der Region zusammen. Neben der bewussten Orientierung auf die neoliberal orientierten Staatsführungen von Peru, Kolumbien und Mexiko traf sie auch Vertreter der "gemäßigten Linken". Nach Angaben aus Delegationskreisen bot sie der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner Hilfe beim Schuldenerlass an. Deutschland ist als Mitglied des so genannten Pariser Clubs Hauptgläubiger von Buenos Aires. Auch den designierten paraguayischen Präsidenten trug Merkel die Unterstützung Berlins an: Die Regierung in Asunción könne mit der deutschen Unterstützung beim Aufbau eines Katasteramtes rechnen, sagte die CDU-Politikerin, zudem würde Berlin das südamerikanische bei der Diplomatenausbildung unterstützen. Mit dem ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa debattierte Merkel über die Quito unterstellte Unterstützung für die Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC).

Selbst mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales kam die Kanzlerin zusammen. Zwar habe es ein "einstündiges hartes Gespräch" mit Morales gegeben, informierte sie die Mitreisenden später. Grund der Differenzen waren jüngst in La Paz beschlossene Nationalisierungen von Unternehmen der Erdölindustrie, von denen auch ein mittelständischer deutscher Betrieb betroffen war. Allerdings habe sie Morales auch Unterstützung in der Auseinandersetzung mit rechten Separatisten im Osten Boliviens zugesagt - und ihn sogar nach Deutschland eingeladen. Nur mit Venezuela, dessen Regierung als Motor der anti-neoliberalen Politik in Südamerika gesehen wird, gab es keine Treffen.

Orientierung auf Wirtschaftsabkommen

Angesichts der Abkehr Lateinamerikas vom neoliberalen Entwicklungsmodell versucht die Bundesregierung verstärkt, auf die nicht eindeutig positionierten Staaten Einfluss zu nehmen. Auf der anderen Seite will sie rasch langfristige Abkommen mit den wirtschaftsliberalen Regierungen schließen. Schließlich bedroht nicht nur die Linksentwicklung die deutschen und europäischen Wirtschaftsinteressen südlich des Rio Grande. Russland, Indien und vor allem China drängen massiv auf den lateinamerikanischen Markt.

Während die Staaten der Bolivarischen Alternative für Amerika verstärkt auf diese alternativen Handelspartner setzen, versuchen Deutschland und andere EU-Staaten, ihre Interessen langfristig zu sichern. Mit der konservativen Regierung Mexikos kündigte Merkel eine strategische Partnerschaft und gemeinsame politische Initiativen im Bündnis der G-8-Staaten an. In Bogotá hatte Präsident Alvaro Uribe zuvor erfolgreich für mehr deutsches Wirtschaftsengagement geworben. Anders als die Nachbarstaaten setze seine Regierung auf "Freiheit und Demokratie" sagte der Staatschef beim Arbeitsessen mit den deutschen Gästen. Von den Dutzenden Millionen Hektar Flachland in Kolumbien werde nur ein Bruchteil genutzt, so Uribe, der größte Teil sei etwa für die Produktion von so genanntem Biosprit geeignet.

Solche Ankündigungen trafen bei den mitreisenden Wirtschaftsvertretern auf offenen Ohren. Neben Funktionären der Vereinigten BioEnergie AG wurde Merkel von einem Repräsentanten des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS, Lutz Bertling, begleitet. Bertling leitet in EADS die Eurocopter-Gruppe, die neben zivilen Fluggeräten auch Kampfhubschrauber produziert. Auf besonderes Interesse stieß diese Produktpalette deswegen in Mexiko und Kolumbien - zwei Staaten, die von schweren sozialen und militärischen Konflikten erschüttert werden.

Die Bundesregierung ist daher bereit, die wirtschaftliche Kooperationsbereitschaft der rechts regierten Staaten politisch aufzuwiegen. In Bogotá stellten Vertreter der Konrad-Adenauer- und der Friedrich-Ebert-Stiftung (CDU- und SPD-nah) die Lage in dem Bürgerkriegsstaat äußerst positiv dar. Der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien, Hans Blumenthal, bezeichnete nach Angaben von Gesprächsteilnehmern die "Gerüchte" um eine Verstrickung Uribes in paramilitärische Verbrechen als "nicht wahr". Dabei hatte vor wenigen Wochen erst hatte die kolumbianische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den Staatschef aufgenommen (Kolumbien schiebt unbequeme Paramilitärs in die USA ab. Auch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung bewertete die Innenpolitik der Uribe-Führung positiv. Dieses Bild solle nun "auch nach Deutschland getragen werden".

Gegen lateinamerikanische Vorschläge

Nicht nur die deutsche Regierung positioniert sich offen gegen die Opposition zum Neoliberalismus in Lateinamerika. Aus den Diskussionsprotokollen, die Telepolis vorliegen, wird deutlich, dass EU-Vertreter bereits im Vorfeld des Lima-Gipfels konsequent versucht haben, die politischen und wirtschaftlichen Reformpositionen aus Lateinamerika abzuwehren.

So legte die Lateinamerika-Arbeitsgruppe der EU ihr Veto gegen einen Passus ein, in dem die Unterzeichner nach einem Vorschlag aus Lateinamerika aufgefordert worden wären, "die souveräne Gleichheit aller Staaten zu erhalten und ihre territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit zu respektieren". Als die lateinamerikanischen Verhandlungspartner vorschlugen, die "demokratischen Werte und den Respekt vor Menschenrechten" in der Abschlusserklärung des Lima-Gipfels zu verankern, schlugen die Brüssler Diplomaten vor, die Formulierung durch den wesentlich unschärferen Terminus "gute Regierungsführung" zu ergänzen. Ein Verstoß gegen dieses Prinzip war Vertretern der neuen Linken in Lateinamerika fast zeitgleich bei einer Debatte im Bundestag vorgehalten worden.

Auch als lateinamerikanische Verhandlungsführer vor dem Lima-Gipfel vorschlugen, den "Aufbau eines effektiven multilateralen Systems" als Zielstellung in die Abschlusserklärung aufzunehmen, erhoben die EU-Vertreter Einspruch. Der Brüssler Vorschlag zielte stattdessen auf "die Stärkung des multilateralen Systems" ab. Ein kleiner, aber feiner Unterschied: Mit der Bolivarischen Alternative für Amerika, der an diesem Wochenende offiziell entstandenen Union der Südamerikanischen Nationen und anderen Bündnissen versuchen die Staaten Lateinamerikas derzeit eine Integrationspolitik in eigener Regie zu forcieren. Die Industriestaaten entlang der Achse Washington-Brüssel bemühen sich indes, eine solche Loslösung zu verhindern.

Historisch betrachtet sieht sich Lateinamerika wie schon in den 60er Jahren einer US-europäischen Allianz gegenüber, die über politische und wirtschaftliche Maßnahmen einen Dominanzeinfluss zu vermeiden versucht. Ab 1961 wurde diese Politik in den USA vom damaligen Präsidenten John F. Kennedy unter dem Begriff Allianz für den Fortschritt subsumiert. In dem Maße wie die lateinamerikanischen Staaten damals tatsächlich oder angeblich nach links (und damit an näher an Moskau) rückten, schlug die zunächst zivil orientierte Kooperationspolitik in militärische Aggression um. Eine Widerholung auch dieser Entwicklung ist nicht ausgeschlossen.