Deutsche Sicherheitsstrategie: Die Illusion über Kriegsführung in Europa

Seite 2: Euroatlantische Rückbesinnung

Im Gegensatz zum Weißbuch von 2006 wird – bei aller Widersprüchlichkeit in der Gesamtdiktion der VPR 2011 und 2023 – eine Besinnung auf den "Kernauftrag Landes- und Bündnisverteidigung" vorgenommen. "Der euroatlantische Raum ist hierbei der klare Schwerpunkt" (VPR 23: 17, 21). Als Ziele werden demgemäß hervorgehoben:

Maßnahmen zur Abschreckung potenzieller Gegner sowohl auf deutschem Hoheitsgebiet als auch im Bündnisgebiet in allen Dimensionen; Verteidigungsaufgaben auf deutschem Hoheitsgebiet einschließlich der nationalen territorialen Verteidigung; Verteidigung gegen Angriffe auf das Hoheitsgebiet von Bündnispartnern; Verteidigung gegen terroristische und hybride Bedrohungen; Festigung der transatlantischen und europäischen Verteidigungsfähigkeit. (VPR 23: 17)

Inwiefern hier, angesichts der negativen Ergebnisse der Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Vergangenheit, bei der deutschen Militärführung realistische Ansätze zur stärkeren Rückbesinnung auf das Grundgesetz beabsichtigt sind, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Deutsche Sicherheitspolitik schafft Unsicherheit

Militanz. Statt einer Entmilitarisierung der Sicherheit hat Deutschland mit der NSS und den VPR ein Programm zur Militarisierung der Sicherheit bekommen. Im Vordergrund der Aufgabenstellung steht der Ausbau der nuklearen Abschreckung, jährliche feststehende Rüstungsausgaben in Höhe eines Anteils von "mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes (VPR 23: 23) sowie Wahrnehmung einer Führungsrolle Deutschlands im Militarisierungsprozess.

Nach Aussagen von Wirtschaftsminister Habeck müsse Deutschland "dienend führen" – de facto also die Interessen der USA umsetzen.

Realitätsverlust. Eklatanter Mangel an praktischen Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen, Fehlern und Niederlagen der letzten Jahrzehnte: Nach 20-jährigem Afghanistankrieg schmähliche Niederlage und Flucht, Truppenrauswurf aus Mali, was auch im Niger absehbar ist, jahrzehntelang anhaltende Instabilität nach "siegreichem" Balkankrieg, Versagen im Syrienkrieg, usw.

Da der Westen gegen diese Entwicklungsländer mit den eigenen "werteorientierten" Zielstellungen "Freiheit, Demokratie, Menschenrechte", absurdem "state building" und "nation building" gescheitert ist, verfolgt die deutsche Regierung mit ihren Verbündeten jetzt eine militante Konfrontationspolitik gegen die Großmächte Russland, China und die sie unterstützende Weltmehrheit. Das erneute Scheitern ist absehbar.

Gefahren der Eskalation

Praxisferne. Bezeichnenderweise gibt es in den Dokumenten keine realistischen Aussagen, kein schlüssiges Konzept, wie die Regierung die angestrebte "Wehrhaftigkeit" sowie "Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime" (VPR 23: 27) unter den Bedingungen der langfristigen wirtschaftlichen Rezession und dem hunderttausendfachem Fachkräftemangel ökonomisch und personell sicherstellen will.

Und das, angesichts der dramatischen Folgen des Klimawandels, den anhaltend belastenden Flucht- und Migrationsbewegungen sowie der notwendigen alternativen Modernisierung der deutschen Energieversorgung und industriellen Zukunftswirtschaft. Die vorliegenden strategischen Konzepte der neokonservativen Zeitenwende à la Ampelkoalition bringen Deutschland keineswegs mehr Sicherheit, sondern sind realpolitisch, militärisch und wirtschaftlich destabilisierend sowie unsozial.

Die Konzentration auf eine nahezu unbegrenzte militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine gegen Russland sowie der bedingungslosen Unterstützung Israels im Nahostkrieg erhöht die Gefahren einer ausufernden Eskalation. Die einseitig beschränkten Positionierungen fügen der Sicherheit und dem Wohlstand der Bevölkerung Deutschland spürbaren Schaden zu.

Eine große Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Konfrontationspolitik der Ampelregierung ab und bringt es in Protesten, Demonstrationen und Umfragen zum Ausdruck. Die kommenden Landtags- sowie die Bundestagswahl 2025 ermöglichen Regierungswechsel.

Alternative Realpolitik

Ein alternatives Konzept ist dringend erforderlich, um die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten zu beenden sowie die Voraussetzungen für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa und seinen Nachbarregionen zu schaffen, die Russland einbezieht.

Dieses Konzept muss von den grundlegenden Lebensinteressen und Existenzbedingungen der Bundesrepublik bzw. der EU geprägt sein und diese Interessen widerspiegeln. Ausgangspunkt für ein alternatives Sicherheitskonzept sollte die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Industriegesellschaften sein. D.h., diese Gesellschaften können auf ihrem eigenen Territorium keinen Krieg führen, da er ihre Existenz infrage stellen würde – ob konventionell oder nuklear macht keinen großen Unterschied.

Darüber gab es eigentlich schon Ende der 1980er-Jahre in der deutschen Friedensforschung – Ost wie West – keinen Zweifel. Wir sehen eine düstere Bestätigung gegenwärtig an der Zerstörung der Ukraine, aber auch des städtischen Gaza-Territoriums.

Die Ukraine hat nur deshalb eine vage Überlebenschance, da der vereinte Westen seine ganze Kraft für die militärische Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland einsetzt. Zugleich führt diese "Hilfe" aber zu einem Ausbluten der Ukraine.

Frieden ist der Ernstfall

Insbesondere durch ihre Verschuldung an die USA gerät die Ukraine in eine totale Abhängigkeit vom Westen und verliert ihre staatliche Souveränität auf Jahrzehnte. Das ist ein Dilemma, für dessen Lösung ein realistischer, alternativer Ansatz gefunden werden muss.

Die Forderungen der Bundesregierung nach Resilienz der zivilen und staatlichen Infrastrukturen Deutschlands sind lediglich geeignet, Illusionen über die Führbarkeit eines konventionellen bzw. nuklearen Krieges in Europa zu wecken. Erster und oberster Grundsatz einer realistischen Sicherheitspolitik muss aber die Kriegsverhinderung sein.

Es gilt mehr denn je: Der Frieden ist der Ernstfall. Das erfordert ein qualitativ neuartiges Denken zur Gestaltung einer Verteidigungspolitik "Gemeinsamer Sicherheit"! Insofern müssen Politik und Diplomatie an die erste Stelle jeglichen Sicherheitsdenkens rücken – statt Androhung oder Anwendung militärischer und außermilitärischer Gewalt.

Damit sind wir bei einem weiteren Dilemma: In den gegenwärtigen internationalen Beziehungen der sich neu formierenden Blockstrukturen dominieren ein fatales Misstrauen sowie eine Mentalität, dass Frieden nur durch starke Streitkräfte gesichert werden kann. Dieses Misstrauen, diese Mentalität und Phobien müssen überwunden werden.

Vertrauensbildung und Rüstungsbeschränkung

Dazu bedarf es eines kühlen Kopfes und langen Atems. Das heißt, es muss sehr genau überlegt werden, welche (ersten) Schritte zur Überwindung dieser grundsätzlichen Hemmnisse für die Lösung der Friedensfrage notwendig und möglich sind. Es müssen Antworten gefunden werden für:

- Vertrauensbildung und Verständnis einer "gemeinsame Sicherheit"; Multilaterale Verhandlungen über Militärdoktrinen; Erarbeitung militärpolitischer Prinzipien sowie Inspektionen vor Ort

- Rückfahren bzw. Stopp der zunehmenden Konfrontation; Einstieg in einen neuen Modus der Rüstungsbegrenzung/-kontrolle

- Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Truppenstärke der Bundeswehr von ca. 180.000, inklusive Berufsarmee und Aussetzung der Wehrpflicht;

- Beschränkung des Rüstungshaushaltes und Aufgeben des Zwei-Prozent-Zieles sowie keine weiteren "Sondervermögen"

- Staatsschulden; Orientierung auf Sparmaßnahmen angesichts einer fehlenden militärischen Bedrohungslage und der wirtschaftlich-sozialen Probleme

- Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland; Unterstützung einer "Welt ohne Atomwaffen"; dezidierter Verweis auf Deutschlands Verzicht auf Kern-/Massenvernichtungswaffen sowie Atomenergie

Jenseits des Systems "gegenseitiger Abschreckung"

- Einleitung eines Prozesses der Rüstungsbegrenzung; Einstellung aller Waffenprogramme, die auf eine globale Kriegsführung orientieren; Verzicht auf alle Rüstungsprogramme, die dem Völkerrecht widersprechen

- Striktes Verbot des Waffen- und Rüstungsexports in Kriegs- und Krisenregionen; Neuauflage eines entsprechenden Gesetzes

- Stärkung der Vereinten Nationen; Initiativen zur Schaffung eines gesamteuropäischen kollektiven Sicherheitssystems, u.a. durch Wiederbelebung der OSZE; sind die USA nicht bereit, sich und die Nato einzubringen, ist eine europäische Lösung anzustreben.

Bereits das Nachdenken über solche Schwerpunkte scheint eine Utopie zu sein. Aber die Überwindung des Systems der gegenseitigen Abschreckung ist alternativlos. Abschreckung ist heute fragiler als vor 30 bis 35 Jahren.

"Hinlänglichkeit der Verteidigungspotenziale"

Statt einer Abschreckung nach dem Prinzip der gegenseitig gesicherten Zerstörung (Mutual Assured Destruction – MAD) brauchen wir eine Landesverteidigung, die dem Grundsatz der "Hinlänglichkeit der Verteidigungspotenziale" bei gleichzeitiger Orientierung an struktureller "Angriffsunfähigkeit" gerecht wird.

Dabei kann es keinen Zweifel geben, der Schlüssel für eine Entwicklung in diese Richtung ist die Beendigung der Kriege in der und um die Ukraine und im Nahen Osten. Einstellung des ideologischen Geschwätzes von Sieghaftigkeit und Vernichtung der Gegner.

Ein Ende der Kriege bringt nur dann Frieden in Europa und seinen Nachbarregionen, wenn alle Beteiligten durch einen Verhandlungsfrieden Garantien für die Berücksichtigung ihrer Sicherheitsinteressen erhalten. Deutschland wird nur dann einen konstruktiven Beitrag für Frieden und Stabilität in Europa leisten können, wenn seine Sicherheitsstrategie zum Abbau der Konfrontation beiträgt und nicht zu ihrer weiteren Verschärfung.

Gefragt ist ein neues sicherheitspolitisches Denken, das den Veränderungen der globalen multipolaren Ordnung gerecht wird. Dazu scheint die gegenwärtige Regierung weder bereit noch fähig.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends und wird in der kommenden Magazinausgabe im Januar 2024 veröffentlicht.

Prof. Wilfried Schreiber, geb. 1937, ist Ökonom und Militärwissenschaftler, Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik, Mitglied im Gesprächskreis Frieden und Sicherheit der RLS.

Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, geb. 1953, forscht und lehrt Außen- und Militärpolitik, 2008 bis 2021 Professor für Wirtschaftspolitik und Außenwirtschaft an der bbw-Hochschule in Berlin. Vorsitzender von WeltTrends e.V.