Deutsches Wahlrecht für Großbritannien?

Gordon Brown kündigt seinen Rücktritt vom Parteivorsitz an und Nick Clegg nimmt offizielle Verhandlungen mit Labour auf

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gestern Abend gab der liberaldemokratische Parteivorsitzende Nick Clegg der britischen Presse bekannt, dass er offizielle Verhandlungen mit der Labour Partei über eine Regierungszusammenarbeit aufnehmen werde. Allerdings wolle er die begonnenen Gespräche mit den Tories ebenfalls weiterführen. Sie seien, so Clegg, "sehr konstruktiv" gewesen, hätten aber noch zu keiner Einigung geführt.

Kurz vorher hatte Premierminister Gordon Brown verlautbart, dass er bis zum September vom Vorsitz der Labour Party zurücktreten wolle. Brown galt als wichtigstes Hindernis für eine "progressive alliance" aus Labour, Liberaldemokraten, der schottischen Regionalpartei SNP, der walisischen Plaid Cymru und der nordirischen Katholikenpartei SDLP. Nick Clegg kommentierte die Ankündigung des Premierministers als "wichtiges Element für einen sanften Übergang zu einer stabilen Regierung", betonte aber gleichzeitig, dass er damit keineswegs vorwegnehmen wolle, was bei den Verhandlungen zwischen Liberaldemokraten und Labour herauskommen wird. Auch die Regionalparteien äußerten sich positiv: Angus Robertson, der Fraktionsführer der SNP, bezeichnete die Rücktrittsankündigung als "richtig" und "unvermeidlich". Plaid-Cymru-Fraktionssprecher Elfyn Llwyd meinte, Brown habe "anständig" gehandelt, den Willen der Wähler akzeptiert und ein Zeichen dafür gesetzt, dass die Labour Party zu ernsthaften Verhandlungen mit anderen Parteien bereit sei.

STV-Wahlverfahren

Durch die Gespräche mit beiden großen Parteien dürften sich die Liberaldemokraten nicht zuletzt mehr Zugeständnisse bei der von ihnen geforderten Reform des Wahlrechts erhoffen. Dass die Partei so viel Wert darauf legt, liegt auch daran, dass sie fürchtet, bei Neuwahlen für die Zusammenarbeit mit einer der großen Parteien abgestraft zu werden. Dieser Effekt droht ihr unabhängig davon, ob sie sich mit den Tories oder mit Labour einlässt: Die Brown-Partei gilt nämlich als abgewirtschaftet und abgewählt, weshalb viele Wähler eine Zusammenarbeit mit ihr als Betrug am Wandelversprechen wahrnehmen würden - und die Tories weichen in vielen Punkten so stark vom LDP-Programm ab, dass andere Wähler beim nächsten Mal versucht sein könnten, statt der Liberaldemokraten eine sich in der Opposition vom Blair-Filz befreit gebende Labour Party zu wählen. In einem First-past-the-post-Mehrheitswahlrecht, wie dem derzeitigen, kann so etwas leicht zum Untergang einer Partei führen, auch wenn sie insgesamt noch auf einen ganz passablen Prozentanteil kommt.

Tory-Verhandlungsführer William Hague sagte nach Cleggs Ankündigung, nun auch mit Labour zu verhandeln, seine Partei würde den Liberaldemokraten eine Volksabstimmung über eine Änderung des Wahlrechts vom First-past-the-post hin zum AV-System "in Aussicht stellen". Labour dagegen wolle das AV-System ohne Referendum einführen, was undemokratisch sei.

Beim Alternative-Vote- oder AV-System, das in Nordirland bereits zur Anwendung kommt, können die Wähler entweder einfach einen Kandidaten ankreuzen oder ihren Präferenzen für die Kandidaten mittels einer Reihenfolge Ausdruck verleihen. Beim Auszählen werden die Stimmzettel zu Stapeln aufgetürmt. Pro Kandidat gibt es einen Stapel. Auf ihn kommen jeweils nur diejenigen Stimmzettel, auf denen er als einziger Kandidat markiert oder an die erste Stelle gesetzt ist. Dann werden die Stapel der Größe nach geordnet und die Stimmzettel gezählt. Liegt in diesem System ein Kandidat mit mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmzettel an erster Stelle, oder wurde er dort als einziger markiert, dann gilt er als gewählt. Ist dies nicht der Fall, dann wird der niedrigste Stapel aufgelöst und die auf diesen Zetteln an zweiter Stelle genannten Kandidaten werden dem jeweiligen Haufen zugeteilt. Hat dann immer noch kein Kandidat eine absolute Mehrheit, wird mit dem zweitniedrigsten Stapel genauso verfahren. Und so weiter.

Eine Zählung könnte also so aussehen, dass der Kandidat der Tories bei (der Einfachheit halber) insgesamt 100 abgegebenen Stimmzetteln 40 auf seinen Stapel bekommt, der Labour-Kandidat 21, der Liberaldemokrat 19, der Euroskeptiker 11 und die Grüne 9. Nach der ersten Runde kommen aus dem Grünen-Stapel sechs auf den der Liberaldemokraten, zwei zu Labour und einer zum Tory. In Runde drei werden schließlich die UKIP-Stimmen verteilt, deren Wähler zehn Mal den Tory an die zweite Stelle gesetzt haben. Der hat deshalb jetzt insgesamt 51 Stimmen und gilt als gewählt. Vorteil des Systems ist, dass es weniger Anreize zum taktischen Wählen setzt (Vgl. Entscheidungsfindung via Software).

Die Liberaldemokraten kritisieren an AV jedoch, dass das System Ergebnisse zulässt, bei denen Stimmanteile und Mandate noch weiter auseinanderklaffen können als beim gültigen Mehrheitswahlrecht, in dem die Partei gerade mit 22 Prozent der Stimmen 9 Prozent der Sitze bekam. Sie propagieren stattdessen ein anderes System, Single Transferable Vote (STV). Es ist im Grunde ein AV-System, in dem mehrere Wahlkreise zusammengefasst werden und Kandidaten nicht unbedingt an erster Stelle landen, sondern eine Quote erreichen müssen, damit sie als gewählt gelten. Erreicht ein Kandidat die Quote, dann kommen alle zusätzlichen Stimmen anteilig den jeweils Zweitplatzierten auf seinen Stimmzetteln zugute. Erreichen nicht genügend Kandidaten die Quote, dann werden - wie im normalen AV-Verfahren, die Stapel von hinten her so lange nacheinander aufgelöst, bis alle Plätze besetzt sind.

Das dritte von Nick Clegg im März ins Spiel gebrachte System nennt sich "AV plus" und hat auffällige Ähnlichkeiten mit dem deutschen Wahlrecht: In ihm erhält der Wähler neben seiner Kandidatenstimme, die mit dem AV-Verfahren verteilt wird, auch eine Parteistimme, mit der er für eine größere geografische Einheit als den Wahlkreis zusammengestellte Listen wählen kann.