Die Bevölkerung denkt nicht, sie fühlt nur

Der Direktor des Hasso-Plattner-Institutes fordert eine sachliche Debatte über die "Netzsperren gegen Kinderpornographie". Und führt seinen eigenen Aufruf sogleich ad absurdum, indem er sich jenen anschließt, die der Bevölkerung das Denken absprechen und auf Gefühle reduzieren.

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Persönliche Rückblende

Während meiner Schulzeit gab es ein paar Momente, die ich nicht vergesse. Einer davon fand während meiner Realschulzeit statt und damals fand ich mich richtig cool und mutig, obgleich ich im Endeffekt nur dumm agierte. Aber das sollte ich eben dann lernen. Ich fragte meinen Lehrer, ob ich am Ende der Stunde 10 Minuten Zeit bekäme, ich hätte ein Problem und wollte die Klasse gerne dazu befragen. Ich bekam meine 10 Minuten. Ich fragte die Klasse, was sie gegen mich hätte und es herrschte (nicht weiter verwunderlich) Schweigen. Ein paar Mitschüler murmelten "nichts", ansonsten gab es keine Antworten und die Stunde ging vorbei. Mein Lehrer sagte mir danach, dass es Menschen gäbe, die sich einbilden, dass andere etwas gegen sie haben, dass sie sich ausgegrenzt fühlen, aber dem gar nicht so ist. Ich verbrachte die Pause damit, ihm meine Erfahrungen zu schildern, die vom Ignorieren über Anspucken bis hin zu körperlicher Gewalt mit und ohne Hilfsmitteln (Zirkelspitzen wurden in die Füße gehackt oder in den Oberschenkel usw.) reichten. Am Ende der Pause wiederholte der Lehrer, dass sich Menschen ausgegrenzt fühlen würden, ohne es zu sein und wünschte mir alles Gute. Später verstand ich irgendwann, dass es wirklich nicht um mich persönlich ging, dass irgendjemand immer das Omegahuhn war und es eben mich getroffen hatte, wie auch andere. Persönliches Pech sozusagen.

An diesen Moment erinnere ich mich heute wieder, weil er mich so hilflos dastehen ließ. Ich hatte Argumente, hatte Belege, hatte Beweise, aber dennoch wurde das, was ich sagte, auf ein reines Empfinden reduziert, als sei ich nicht in der Lage, zu denken, als würde ich nur fühlen. Die Argumente erreichten mein Gegenüber nicht einmal, oder er ignorierte sie komplett, konnte oder wollte sie nicht wahrnehmen, blockte sie ab.

Reden und (zu)hören

Ein ähnlicher Moment ereignete sich als ich die Meldung über den Appell des Herrn Meinel las, seines Zeichens Direktor des Hasso-Plattner-Institutes. Die Anregung bzw. Aufforderung, die Debatte über die Netzsperren sachlich zu führen, ließ kurzfristig Hoffnung aufkommen, doch bereits ein Satz des Appells führte dazu, dass diese Hoffnung wieder erstickt wurde. Wer sich Herrn Meinels Aussagen durchliest, findet hier die üblichen Fehler:

Interessanterweise hat bei gedruckten Medien die Öffentlichkeit längst akzeptiert, dass Strafbares dort nicht veröffentlicht werden darf und versteht das nicht als Angriff auf die Meinungsfreiheit. Wir müssen lernen, dass dies auch für das noch sehr junge Medium Internet zu gelten hat.

Lässt man einmal die Frage, was Kinderpornographie überhaupt ist, beiseite, tritt hier erneut wieder ein Missverständnis zutage, was bei den Kritikern an den Kritikern oft auftritt. Sie verwechseln die Möglichkeit, etwas zu veröffentlichen, mit der Möglichkeit, dieses wahrzunehmen. Im Sinne des Artikel 5 GG wird die Meinungsfreiheit, also die Artikulationsfreiheit, mit der Informations- oder Rezipientenfreiheit verwechselt. Um einmal ähnlich plakativ zu formulieren wie jene, die die Kritik falsch verstehen (wollen):

Hier wird derjenige, der sich ein Kamerabild eines Mordes ansehen will, mit dem Mörder verwechselt. Es geht den Kritikern nicht darum, dass Strafbares veröffentlicht werden darf, im Gegenteil: die Kritiker machen sich dafür stark, diejenigen zu verfolgen und zu sanktionieren, die Kinderpornographie herstellen und verbreiten. Sie machen sich aber gleichermaßen dafür stark, dass nicht auf bloße Blindheitsstrategien gesetzt wird, dass also in der (bedingt wirksamen) Vermeidung der Möglichkeit, die Inhalte anzusehen, eine Lösung dafür gesehen wird, dass es diese Inhalte gibt.

Die Grenzen für die Rezipientenfreiheit sind weitaus schärfer angesetzt als die Grenzen für die Meinungsfreiheit, was durchaus einen Sinn ergibt, wenn man die Freiheit für Forschung und Lehre in diese Gleichung mit einbezieht. Die Möglichkeit, auf gegebenenfalls strafbare Inhalte Zugriff zu nehmen, bedeutet die Möglichkeit, hierüber zu berichten, dies zu analysieren oder weiter in diesem Bereich zu forschen. Hierbei ist wichtig zu bedenken, dass diese strafbaren Inhalte im allgemeinen im Ausland verfasst werden, wo ein anderes Rechtsverständnis als hierzulande gilt. Anders wäre es nicht möglich, dass zum Beispiel Menschen, die in ihrem Land von bestimmten Inhalten ausgeschlossen werden, sich in einem anderen Land eben über diese Inhalte informieren können.

Ein harmloses Beispiel hierfür wären Comics, die den deutschen Markt nur in einer modifizierten Form erreichen um etwa den Vorwurf der Verwendung von Hakenkreuzen zu vermeiden. In einem Comic des Verlages Marvel reisten die Mutanten Wolverine und Shadowcat (Kitty Pryde) in die Vergangenheit um die spätere britische Königin zu retten. Hierbei muss sich die dem jüdischen Glauben zugehörige Katherine "Kitty" Pryde entscheiden, ob sie die Nazis, denen sie begegnet, tötet um den Holocaust zu verhindern, oder nicht. Es interessierte mich zu sehen, ob tatsächlich nur Hakenkreuze oder auch andere Abbildungen verändert worden waren, weshalb ich mir in England die Originalversion ansah. Wenn ich nun dafür plädiere, dass ich mir die Originalabbildungen (samt Hakenkreuzen) zum Vergleich ansehen darf, dann kann dies bedeuten, dass ich zugleich auch dafür plädiere, dass die Originalversion auch hier erhältlich sein sollte. Es kann jedoch auch bedeuten, dass ich lediglich die Originalversion sehen möchte, eine Nichtverfügbarkeit in Deutschland jedoch befürworte.

Bei den Internetsperren gegen Kinderpornographie ist es noch einfacher. Die meisten Kritiker setzen sich sehr entschieden dafür ein, dass die Server mit den entsprechenden Seiten vom Netz genommen werden (wie gesagt: die Kinder- und Jugendanscheindspornographie und die Frage ob auch Schriften zur Kinderpornographie zählen sollten, klammere ich hier einmal aus). Nur stellt sich, auch angesichts der Erfolge mancher Kinderschutzorganisationen, was das "Vom Netz nehmen der Seiten, die sich auf den Listen befinden" angeht, die Frage, warum eben jene Veröffentlichung von Strafbarem weniger Beachtung findet als der müßige Versuch, Menschen durch technisch zur Zeit noch dümmliche Methoden von der Betrachtung des Strafbaren abhalten zu wollen, wodurch sich in Zeiten, in denen Videos, die zeigen, wie Netzsperren zu umgehen sind, zum Dauerbrenner werden, nichts ändert - weder an der Verfügbarkeit noch an der Erreichbarkeit.

Irrationale Ängste oder: Ich ignoriere gerne alle Argumente

Weitaus ärgerlicher aber ist die Ansicht des Herrn Meinel, dass diejenigen, die von einer Erweiterung der Sperrlisten ausgehen, "irrationale Ängste schüren". Hier wird, ähnlich wie bei meinem Lehrer oben, alles ausgeblendet, was zeigt, dass es keineswegs um Ängste, sondern um Befürchtungen oder Annahmen geht, die ihre Berechtigung haben weil sie auf Erfahrungen und belegbaren Quellen basieren.

Die Befürchtung, dass Befugnisse, so sie einmal vorhanden sind, ausgeweitet werden, ist nicht aus der Luft gegriffen. Vielmehr wurde dies in den vergangenen Jahren oft genug bewiesen. Das Gesetz, welches helfen sollte, Geldströme, die zur Finanzierung von Terror dienen, ausfindig zu machen, wurde zum Gesetz, dass alle ALG II-Empfänger zum fastgläsernen Kontoinhaber mutieren ließ, beim Mautgesetz ging es trotz aller Versicherungen schnell um die Frage, inwiefern sich dieses auch zur Strafverfolgung nutzen ließ, beim Thema Vorratsdatenspeicherung wurde aus den "schweren Straftaten" schnell ein Begriff, der "keine spezifischen Grenzen setzen soll" und die einst gegebenen Regelungen der EU wurden schnell noch ergänzt.

Doch abgesehen davon zeigen auch die diversen Sperrlisten der Länder, die stets als Vorbild für die Politik einer Frau von der Leyen angegeben werden, dass sich nicht nur Kinderpornographie auf den oft geheimgehaltenen Listen wiederfindet. Im Gegenteil: diese war eher wenig vertreten, stattdessen gab es vom Schwulenporno bis zum Glücksspiel alles mögliche außer Kinderpornographie auf den inkriminierten Seiten.

Herr Meinels Worte lassen also sämtliche oft genug artikulierten Argumente und Belege der Kritiker einfach außen vor und reduzieren die Kritik darauf, dass Meinungsfreiheit für strafbare Inhalte verlangt wird (falsch) und es für die Annahme, dass die Sperrlisten erweitert werden, es keinerlei Begründung gibt (falsch). Schon jetzt mehren sich die Stimmen derjenigen, die weitere Sperrungen fordern, was Herr Meinel aber entweder nicht registriert oder nicht registrieren will.

Beleidigend hierbei ist, dass die Meinung der Bevölkerung bzw. Teilen der Bevölkerung auf reines Fühlen reduziert wird, so als hätten außer Politikern und "Experten", Professoren etc. Menschen keine Argumente, als würden sie lediglich aus der Irrationalität heraus agieren.

Diese Ansicht erinnert an die kurze Auseinandersetzung um die sogenannte Prekariatsstudie. Während Professor Franz Walter mit dem Blick eines nachsichtig lächelnden Herrn im Elfenbeinturm darüber referierte, wie das Prekariat denkt, meinte Gabor Steingart, dass das Prekariat eben richtig fühlt, verweist auf Popper und die dritte Welt, die der Empfindungen, die quasi ausgestorben ist.

Was als Verteidigung des Prekariats gedacht war, wurde so zur Farce. Denn für die Meinungen und Annahmen, die durch die Prekariatsstudie öffentlich wurden, gibt es gute Gründe. Dies aber haben weder Gabor Steingart, Professor Franz Walter noch Herr Meinel verstanden. Für sie denkt das Volk nicht, es fühlt lediglich - und das zeigt um so deutlicher, wie weit der Graben zwischen denjenigen klafft, die die Bevölkerung verstehen oder gar vertreten wollen, und jenen, die vertreten werden sollten.