Die Demagnetisierung des Kunstobjekts

Ein neues Buch über ein neues kuratorisches Problem: wie erhält man Videokunst?

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"I couldn't care less!" Nam June Paik auf die Frage, ob er nicht befürchte, daß sich seine Videobänder nach seinem Tod nicht mehr abspielen lassen.

Leute wie Dalibor Martinis sind der Alptraum jedes Museumsmenschen: Bei einer Performance mit dem Titel "open reel" von 1972 wickelte der Künstler ein Videoband, das gerade bespielt worden war, um seinen Kopf. Die dadurch entsehenden Bildstörungen und Gleichlaufschwankungen des Videos waren Teil seiner künstlerischen Strategie, mit der er das Funktionieren der damaligen "open reel"-Videorekorder zugleich demonstrieren und dekonstruieren wollte. Diese künstlerische Strategie hat aber auch dazu geführt, daß wir über diese Videoperfomance heute nur noch in Büchern lesen können. Denn die Bänder haben Martinis Performance nicht überlebt, und für das Museum blieb von dieser Aktion kein ausstellbares Relikt zurück.

Viele der Künstler, die Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre mit Video gearbeitet haben, haben zunächst die technischen Eigenschaften und Beschränkungen des neuen Bildmediums erforscht. Inzwischen demonstrieren die Bänder von damals eine technische Eigenschaft an die in der euphorischen Frühzeit der Videokunst wohl niemand gedacht hat: sie zerfallen. Langsam, aber sicher.

Videos gelten für Archivare nicht als archivierbares Medium, weil sie - im Gegensatz etwa zu gedruckten Büchern - keine 100 Jahre halten. Nicht nur Archivare und Bibliothekare, sondern auch ganz normale Video-User müssen langsam feststellen, daß die Lebensdauer ihrer Tapes endlich ist: in der Regel halten sie nur etwa 20 Jare, bei guter Pflege auch länger. Aber irgendwann beginnen auch bei korrekt gelagerten und behandelten Bändern die magnetisierten Metallpartikel, auf denen die Bildinformation gespeichert sind, vom Band abzubröseln. Auch der Kunststoff, auf dem die Metallpartikel kleben, fängt im Lauf der Zeit oft an, sich aufzulösen.

Da inzwischen in fast allen Sammlungen moderner Kunst auch Videobändern und -installationen gezeigt und aufbewahrt werden, tickt in den meisten Museen eine Zeitbombe. Lucy Lippard hat im Zusammenhang mit der Konzeptkunst von einer "Dematerialisierung des Kunstobjekts" gesprochen, bei Videokunst droht nun eine "Demagnetisierung des Kunstobjekts". Und bisher sind sich nur die wenigsten Kuratoren in Deutschland dieser Gefahr bewußt. 1995 hat darum das Kunstmuseum in Wolfsburg ein Symposium zu diesem brennenden Problem veranstaltet.

Der Band "Wie haltbar ist Videokunst?", der Ende des vergangenen Jahres erschienen ist, versammelt nun die Vorträge, die bei dieser Konferenz gehalten wurden. Sie liefern zusammen einen guten Überblick über die restauratorischen, aber auch über die rechtlichen, ästhetischen und technischen Fragen, die sich in diesem Bereich auftun.

Denn der Zerfall der Videobänder ist nur eins der technischen Probleme, mit denen sich Museumsleute allmählich konfrontiert sehen. Ein anderes beschreibt Rudolf Frieling vom Karlsruher ZKM in seinem Beitrag: "Stellen Sie sich vor, sie erhalten eine Kiste mit Videobändern aus den 70er Jahren, möglicherweise von einem heute renommierten Künstler und vielleicht noch geschenkt. Mit großen Erwartungen öffnen Sie die Kiste und erkennen mit einem Blick auf das vergilbte Etikette, daß es sich um Betamax-Kassetten handelt. Sie verwechseln dieses Format hoffentlich nicht mit dem heute gängigen Betacam SP und fragen sich, wie um Himmels Willen diese Bänder abzuspielen sind. Ein Betamax- Videorekorder verstaubt höchstens noch beim Trödler, aber sicher nicht in einem Museumsdepot."

Dabei ist Betamax nur eins der vielen Videoformate, die es Anfang der Siebziger Jahre gab. Erinnert sich noch jemand an Video 2000? Oder an die offenen Halbzoll-Spulen, mit denen das alles einmal angefangen hat? In der Frühzeit von Video waren Künstler gerade von den Eigenschaften des Mediums begeistert, das es inzwischen zum Problem für Kuratoren macht: statt auratischer Einzel-Kunstwerke war das Video ein Medium, das zur Vervielfältigung einlud. Sie waren leicht zu produzieren, leicht zu kopieren und auch leicht wieder zu löschen. Und wenn beim fröhlichen Experimentieren mal eine Dose Bier über das Band kippte, war es auch egal. Daß zwanzig Jahre später genau an dieser Stelle "drop-outs" einem Kurator Kummer machen würden, daran hat damals wahrscheinlich niemand gedacht.

Natürlich wird inzwischen über Methoden nachgedacht, wie man Videos in weniger fragiler Form aufbewahren kann. Einige der Autoren hoffen auf die Digitalierung als Allheilmittel für den Videoschwund, und Museen wie das ZKM in Karlsruhe oder der Hamburger Bahnhof in Berlin sind inzwischen dazu übergegangen, ihre Videos auf CD- Roms oder auf der Festplatte eines Computers zu speichern. Auch Nam June Paik sagt in einem Interview, das der vorliegende Band enthält:

"Wenn du erst einmal auf einer digitalen Diskette bist, kannst Du nicht mehr sterben."

Ob die Digitalisierung allerdings der Weisheit letzter Schluß ist, darf bezweifelt werden: Erstens verbrauchen bewegte Bilder noch immer viel Speicherplatz, und darum werden bei der Digitalisierung durch Komprimierung den Videos oft wichtige Informationen entzogen, die später nicht wieder zurückzugewinnen sind. Und außerdem weiß jeder Computeruser aus eigener Erfahrung, daß sich die Computersysteme und die digitalen Speichermedien mit noch viel größerer Geschwindigkeit gegenseitig ablösen als in den siebziger Jahren die Videosysteme.

So stellt "Wie haltbar ist Videokunst?" auch mehr Fragen als es Antworten geben kann. Die nächste Konferenz zu diesem Thema ist in Wolfsburg darum bereits in Planung.

Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg): Wie haltbar ist Videokunst?, Konzeption. Bärbel Otterbeck und Christian Scheidemann, mit Beiträgen von Wulf Herzogenrath, Harald Brandes, Axel Wirths, Rudolf Frieling, Hans Ulrich Reck u.a., sowie einem Interview mit Nam June Paik, Wolfsburg 1997, 114 Seiten, 38 Mark