"Die EU ist keine Sozialunion"

Auch Kanzlerin Merkel macht Wahlkampf mit "Sozialleistungstourismus"

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"Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten. Die EU ist keine Sozialunion", sagte Kanzlerin Merkel gegenüber der Neuen Passauer Presse. Merkel würde den Ton in der Debatte verschärfen, heißt es dazu in der konservativen FAZ. Es sind die letzten Tage vor einer von vielen als lau oder uninteressant wahrgenommenen EU-Wahl, deren Spannung, so die nicht selten gehörte Meinung, vor allem darin besteht, wie stark der Anteil der Nichtwähler und der Rechtswähler sein wird.

Merkels Wahlkampfspruch fällt ähnlich aus wie die Anfang der Woche bekannt gewordene Stellungnahme des Generalanwalts Wathelet beim Europäischen Gerichtshof. Wathelet stützte die deutsche Regelmentierungen bei der Vergabe von Sozialleistungen an EU-Ausländer:

Deutschland kann (..) von solchen Leistungen die Personen ausschließen, die einzig und allein mit dem Ziel kommen, eine Beschäftigung zu suchen oder Sozialhilfe zu beziehen.

In seine Ausführungen hatte Wathelet auch das Wort vom "Sozialtourismus" einbezogen: Das Unionsrecht stehe "mit dem den Mitgliedstaaten überlassenen Gestaltungsspielraum in diesem Bereich in Einklang". Das erlaube es "mit anderen Worten, Missbräuche und eine gewisse Form von 'Sozialtourismus' zu verhindern".

Angela Merkel. Foto: Martin Rulsch, Wikimedia Commons; Lizenz: CC-by-sa 4.0

Begleitet wird die Merkel-Aussage von der Nachricht, dass ein Gesetzesentwurf der Regierung zum Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Ausländer sehr weit gediehen ist. Noch Anfang Juni soll die Bundesregierung darüber entscheiden, berichtet die Zeitung Der Freitag.

Einreiseverbote und Beschränkungen des Aufenthaltsrechts

Herausgehoben werden folgende Maßnahmen: befristete Einreiseverbote für EU-Bürger bis zu fünf Jahren, denen das Aufenthaltsrecht "von Amts wegen" aberkannt wurde. Laut Reuters konnten bisher EU-Bürger "jederzeit in die Bundesrepublik zurückkehren, auch wenn ihnen wegen rechtlicher Verstöße das Aufenthaltsrecht aberkannt wurde". Werden zur Beschaffung von Aufenthaltsbescheinigungen "falsche oder unvollständige Angaben" gemacht, können darauf künftig Geldstrafen oder Haftstrafen bis zu drei Jahren ausgesprochen werden.

Zudem soll das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern zur Arbeitssuche stärker reglementiert werden: Nur bei einer begründeten Aussicht auf eine Anstellung, wird es künftig für einen "Zeitraum von mehr als sechs Monaten" erteilt. Auch dem missbräuchlichen Bezug von Kindergeld solle ein Riegel vorgeschoben werden, indem die Antragsteller dazu aufgefordert werden, die Steuer-Identifikationsnummern anzugeben. Der Freitag wertet dies als Sieg der CSU, bekanntlich hat man dort am Anfang des Jahres die Kampagne "Wer betrügt, fliegt" gestartet, um mit dem Thema Sozialhilfemissbrauch durch Ausländer zu punkten.

"Missbräuchliche Anwerbung"

Innenminister de Maizière machte im März darauf aufmerksam, dass Sozialleistungen systematisch und professionell von Gruppen/Banden ausgernutzt werden, um mit billigen Arbeitskräften Geld zu machen; er sprach von "missbräuchlicher Anwerbung" und der Beobachtung, "dass Menschen, die kein Wort Deutsch sprächen, mit perfekt ausgefüllten Anträgen auf dem Amt erschienen und Kindergeld oder gar einen Gewerbeschein beantragten".

Bislang sei das Problem aber auf sechs bis sieben Städte in Deutschland begrenzt. De Maizière ist aber der Ansicht, dass sich das "gewichtige" Problem verstärken werde. Auch Volker Kauder bestätigte Mitte März, als erste Gesetzesvorschläge debattiert wurden, dass die Hinweise der CSU berechtigt und notwendig gewesen seien.

Die Leidenschaftlichkeit von Politikern - Steinmeier

Dass die Debatte über den Anspruch von Sozialleistungen für Ausländer politisch stark aufgeladen ist, muss nicht eigens betont werden. Häufig wird das Thema benutzt, um sich opportun Wähler gefällig zu machen oder das Profil zu publikumswirksam schärfen; Emotion kommt an, wie das Beispiel der Rede Steinmeiers zeigt, die gerade wegen ihrer "Leidenschaftlichkeit" gefeiert wird.

Obwohl die lauten Äußerungen des Außenministers gerade ein Ausweis dafür sind, wie blind Wut machen kann, Steinmeier wirft alles Mögliche in einen Topf, Kritiker der EU-Politik in der Ukraine, Gegner des Verbleibs Griechenlands in der Euro-Zone, D-Mark-Anhänger etc.. Hauptsache laut aus dem Bauch herausreden, um sich Gunst zu holen?

"Hartz IV nicht für EU-Bürger, die sich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten"

In der Debatte über Soziallleistungen für Ausländer wäre es besser von lagerpolitischen Tendenzangeboten abzusehen und genauer hinzuschauen. Dafür wäre es auf der linken Seite des politischen Spektrums geboten, sich das Phänomen des Sozialleistungs-Missbrauchs genauer anzuschauen. Zum Beispiel bei de Maizères Hinweisen auf Vereinigungen, die unter Ausnutzung der deutschen Sozialleistungen Geld machen. Dass dagegen vorgegangen werden muss, versteht sich.

Man sollte aber auch bei der Merkel-Aussage genauer hinschauen: "Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten." Was heißt das: "die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten"?

Mit dem Gutachten des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof ist das nur bedingt in Einklang zu bringen. Beim Fall, zu dem er die Schlussanträge formuliert, handelt es sich nämlich um eine Person, die, wie Wathelet an mehreren Stellen betont, keinerlei Interesse an einer Erwerbsarbeit in Deutschland gezeigt hat. Sie sei nicht nach Deutschland "eingereist, um Arbeit zu suchen" und habe sich auch "nicht darum bemüht, dort eine Beschäftigung zu finden", ist dort etwa unter Punkt 92 zu lesen.

Die Feststellung, die in der Zusammenfassung seiner Expertise ganz oben genannt wird - "Deutschland kann somit von solchen Leistungen die Personen ausschließen, die einzig und allein mit dem Ziel kommen, eine Beschäftigung zu suchen (!) oder Sozialhilfe zu beziehen" - leitet sich aus der EU-Richtlinie 2004/38 ab:

(21) Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu bestimmen, ob er anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, die diesen Status beibehalten, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder im Falle von Arbeitssuchenden (!) für einen längeren Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt.

Wathelet geht es prioritär darum, eine Argumentation zu führen, wonach der jeweilige Aufnahmestaat im Einklang mit Unionsrechten auf einer Regelung bestehen kann, die Staatsangehörige gegenüber EU-Ausländern bevorzugt. Da er dies bejaht, folgt auch daraus, dass die Vorschrift des deutschen SGB, wonach "Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt..." von der Gewährung von Sozieistungen ausgeschlossen werden, gültig bleiben.

Eine Frage der Integration

Ob allerdings der EuGH auch so entscheidet, ist ungewiss. Das Statement der EU-Kommission in der Grundsatzfrage plädierte bekanntlich für aufwändige Einzelfallprüfungen ("Hartz-IV auch für Zuwanderer, die nicht aktiv nach einer Arbeit suchen"). Es gibt hier also Widersprüchlichkeiten, die Frage bleibt offen. Das Statement Merkels ist durch Wathelet nicht gedeckt.

Zumal er vor allem auf die Integration als zentarles Kriterium abhebt. Die entscheidende Frage für ihn ist, ob ein EU-Ausländer Sozialleistungen in einer für den Aufnahmestaat angemessenen Weise bezieht, wie sehr die Person im Land integriert ist. So haben auch andere Gerichte in der Frage entschieden.

Es stünde der Bundesregierung gut an, den Akzent ebenfalls mehr auf Integrationsleistungen zu legen, umso mehr als man künftig auf den Zuzug von außen angewiesen ist. Und mehr Sozialunion würde der Wirtschaftsunion EU auch nicht schaden.

Laut Zahlen der FAZ, die sich auf eine Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage stützen, wurden 2013 Hartz-IV-Leistungen in Höhe von rund 5 Milliarden Euro an 900.000 in Deutschland lebenden Ausländern bezahlt und 1,7 Milliarden Euro an 311.000 Zugewanderten aus den anderen EU-Ländern. Insgesamt sollen die Hartz-IV-Leistungen im vergangenen Jahr 33,7 Milliarden Euro betragen haben. 26,8 Milliarden Euro erhielten deutsche Staatsbürger. Die 6,7 Milliarden Euro für Ausländer entsprechen einem Viertel der Gesamtsumme.