Die Erfolgsgeschichte eines Experiments

Internetjournalismus in Russland und die Kunst, sich täglich neu zu erfinden

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Wie es sich anfühlt, neue journalistische Maßstäbe zu setzen, hat Natalja Losjewa von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti, im Laufe ihrer Karriere gleich mehrfach erfahren. Heute muss sie lachen, wenn sie von den Anfängen des publizistisch professionellen russischen Internets (RuNet) erzählt. Wenn sie sich daran erinnert, dass Kollegen der Print-Redaktion der renommierten russischen Tageszeitung Izwestija sie um Hilfe baten bei technischen PC Problemen, weil man die Mitarbeiter der neu gegründeten Internetabteilung für Programmierer hielt.

Damals jedoch sei es ein Kampf gewesen. Ein ideologischer Kampf, der die Redaktion spaltete. In Traditionalisten und Visionäre. "Es war ein Kampf und eine ständige Suche. Wir arbeiteten selbst an der wissenschaftlichen Grundlage dessen, was wir machten", erinnert sich Losjewa. Entdeckergeist und Experimentierfreudigkeit seien die Losungsworte der Stunde gewesen. Erst als feststand, dass sich die Leserzahl der Izwestija nicht trotz, sondern aufgrund der Internetpräsenz erhöht hatte, war das traditionelle Lager bereit, die Umverteilung der Kräfte zu akzeptieren.

Der Erfolg gab Losjewa letztendlich recht: Bereits im ersten Jahr belegte die Onlineausgabe der Izwestija einen Platz in den Top Ten der populärsten russischen Internetseiten. Im Rückblick auf diese Zeit zitiert Losjewa ein russisches Sprichwort: Der Russe spannt langsam ein, fährt aber schnell.

Mittlerweile ist Losjewa Direktorin der Internet-Abteilung der Russischen Agentur für internationale Informationen, "RIA Nowosti", und hat sich daran gewöhnt zu experimentieren. Aber was heißt es konkret, im Russland des 21. Jahrhunderts und in der zweiten Amtszeit von Präsident Wladimir Putin zu experimentieren? Welche gesellschaftliche und kulturelle Rolle kann das Medium Internet hier übernehmen? Gerade im Rahmen einer der größten Nachrichtenagenturen des Landes mit einem eigenständigen Korrespondentennetzwerk in über 40 Staaten und einem nicht weniger beeindruckenden Kundenkreis, zu dem u.a. die Präsidential-Administration, das russische Parlament und die Staatsduma zählen?

Schnelle Nachrichten für junge Leser

Wenn man Natalja Losjewa bei der Beschreibung ihres Aufgabengebietes zuhört, lässt sich nur schwerlich ein Unterschied zu westlich geprägten Vorstellungen über modernen Internetjournalismus ausmachen. Themenmanagement, Schnelligkeit, Flexibilität und Umweltbeobachtung. Schlagworte, über die man sich aus dem Mund international angesehener Journalisten oder PR-Strategen nicht weiter wundern würde. "Man muss die Informationsumwelt fünf, sechs Schritte im voraus ausrechnen können."

Wir bereiten Trends vor, weil wir versuchen, den Tagesablauf vorherzusagen.

Genau hierin sieht Losjewa den Vorteil ihrer Branche: "Wir erkämpften uns das experimentelle Recht, die Berichte zu publizieren, unmittelbar nachdem sie geschrieben wurden". 80 Prozent des Onlineangebots von RIA Novosti machen eben jenen Teil aus: Journalistisch schnell verarbeitete Nachrichten, die aber gerade deshalb für Qualität und Authentizität stehen, weil sie nahe am Puls der Zeit generiert werden. Losjewa legt großen Wert darauf, dass Informationsschnelligkeit nicht Qualitätsverlust bedeutet. Die Konkurrenz sei viel größer als im Fernsehen, der Leistungsdruck entsprechend hoch. Sie selbst charakterisiert ihre Leserschaft als denkende, analytische Menschen. Nicht materielle Voraussetzungen seien ausschlaggebend für die Nutzung des Internet, sondern mentale Grundhaltungen, die bestimmte kulturelle Einstellungen widerspiegeln und zugleich ein gewisses Umdenken beinhalten würden. Möglicherweise erklärt dies auch den Erfolg der Internetseite besonders bei jungen Konsumenten: Rezipientenuntersuchungen haben ergeben, dass der Großteil der privaten User zwischen 25 und 35 Jahren alt ist.

Doch gibt es hier nicht einen Widerspruch zwischen einem offen deklarierten journalistischen Professionalismus, dem Anspruch, die Gegenwart nicht einfach nur zu verwalten, sondern ihr Bild zu prägen, und den durchaus autoritären Methoden der Kontrolle der Massenmedien im zeitgenössischen Russland? Solche Worte freilich wird man nicht zu hören bekommen an dieser vornehmen Moskauer Adresse am Subowski Boulevard. Der schnörkellose graue Betonbau im Herzen der Stadt wirkt kühl und imposant zugleich. Die Sicherheitskontrollen indes, die jeder Besucher über sich ergehen lassen muss, erinnern an ein Hochsicherheitsgefängnis. Auch das ist das Russland des 21. Jahrhunderts - die Angst vor Terroranschlägen ist allgegenwärtig.

Im Inneren hingegen erwartet den Besucher eine lockere, familiäre Atmosphäre. Losjewas` Team ist jung, eher leger gekleidet. Helle, freundliche Flure und Großraumbüros, deren Wände von unzähligen schwarz-weiß Fotografien geschmückt sind: Schnappschüsse russischer und internationaler Politprominenz der vergangenen Jahrzehnte. In skurrilen Arrangements, oft doppeldeutig interpretierbar und überraschend privat. Für einen kurzen Augenblick kann der Besucher erahnen, wie es sich anfühlen muss im Zentrum der politischen Macht: Wer auch immer all diesen historischen Ereignissen beigewohnt hat, um derartige Momentaufnahmen für die Nachwelt festzuhalten, er muss den abgebildeten Persönlichkeiten sehr nahe gestanden haben. Eine klare Grenzziehung zwischen Presse und Staat wird hier zur idealisierten Unmöglichkeit.

Qualitätsjournalismus und Geld

Wie aber beschreibt Losjewa selbst den Stellenwert des Internet innerhalb der russischen Gesellschaft? Danach gefragt hebt sie die einzigartige Funktionalität und Interaktivität des Mediums hervor, und verweist nicht ohne Stolz auf die enormen Fortschritte, die die Internetseite von RIA Novosti in den vergangenen Jahren gemacht hat. So sei es heute beispielsweise schon möglich, das Nachrichtenangebot von RIA auf PDAs und Handys zu empfangen. Lieblingsspielzeug nennt Losjewa den medialen Entwicklungsschritt, der im Fachjargon ihrer Disziplin als die Konvergenz der Massenmedien definiert ist, und man merkt ihr an, wie sehr sie sich noch immer für die Gestaltungsmöglichkeiten des Internetjournalismus begeistern kann.

Aber nicht nur technische Innovationen hätten dem russischen Internet zu seinem Siegeszug verholfen: Gerade das stetig ansteigende qualitative Niveau wertet Losjewa als Indiz für die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz des Onlinejournalismus.

Man kann innerhalb des Informationsmilieus qualitative und moralische Veränderungen beobachten. Es erfolgt geradezu eine natürliche Auswahl der Internetmedien im RuNet. Der Leser hat "billigen Traffic" satt, und wendet sich den Seiten zu, denen er aus welchen Gründen auch immer vertraut.

Sogar einen generellen sozialen Wertewandel schließt Losjewa in diesem Zusammenhang nicht aus, weil sich das Medium Internet nach wie vor über einen hohen Grad an Reflexivität charakterisieren lasse. Verändere sich die Qualität des Onlinejournalismus, so verändere sich zeitgleich auch die Qualität des Auditoriums. Womöglich verhält es sich aber gerade andersherum?

Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei die gesteigerte gesellschaftliche Akzeptanz ein wichtiger psychologischer Moment gewesen. Losjewa betont, dass Qualitätsjournalismus ohne ein entsprechendes finanzielles Budget nicht realisierbar sei. Auch bei RIA Novosti lässt sich ein Trend erkennen, der Parallelen zur Entwicklung der europäischen Medienlandschaft aufweist: Die Nachfrage an journalistisch hochwertigen Produkten, aufwendig recherchierten Hintergrundberichten, Reportagen und Analysen nimmt täglich zu. "Die Tatsache, dass dem russischen Internet endlich Werbeeinnahmen zukommen, ist nicht nur ein Glück für das Portemonnaie des Eigentümers" so Losjewa. Dies sei vor allen Dingen ein großes Glück für die Qualität des Internetjournalismus. Jetzt habe man die Möglichkeit, externe Autoren für spezielle Themenbereiche zu engagieren, um das eigene Angebot weiter zu diversifizieren. Eine Gefahr kommerzieller Einflussnahme kann Losjewa hier nicht erkennen. Vielmehr werde diese Entwicklung das Ansehen des russischen Internets langfristig steigern.

Losjewa spricht auch von der Verantwortung, die man in ihrer Funktion trage. Eine Konkretisierung jedoch, wem sie sich verantwortlich fühlt, bleibt sie dem Zuhörer schuldig. Es mag an der Erwartungshaltung und Perzeption ihrer Gäste aus Deutschland liegen, dass man ein revolutionär anmutendes Vokabular vermisst. Internet in Russland, so könnte man vermuten, habe auch die gesellschaftliche Funktion, einer freiheitlich-liberalen Öffentlichkeit Artikulationsmöglichkeiten zu bieten. Doch Informations- und Nachrichtenmanagement in Russland folgt nicht den Gesetzmäßigkeiten der westlichen Medienpraxis und des Wissenschaftsdiskurses. "Die Arbeit mit Informationen im Internet erfindet sich jeden Tag neu" so Losjewa. Vielleicht liegt die Stärke des RuNet aus dieser Sicht weniger in seinen "liberalen" Werten als vielmehr gerade in seinem experimentellen Charakter? Und vielleicht fühlt sich Natalja Losjewa auch nur diesem verantwortlich.

Russian-cyberspace.org dankt Natalja Losjewa ganz herzlich für die Bereitschaft zu dem Gespräch, das am 6. April 2005 in Moskau geführt und bis Juli 2005 über das Internet fortgesetzt wurde. Und der Mitwirkung von Jekaterina Kratasjuk. Fotos von Russian-cyberspace.org