"Die Erwartung des Gesetzgebers hat sich erfüllt"

Die Bundesregierung bilanziert die Folgen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und sieht offenbar keinen Handlungsbedarf

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Schon in den frühen 70er Jahren beauftragte der Deutsche Bundestag die Regierung, das Parlament in regelmäßigen Abständen über die Folgen des im August 1972 ausgefertigten Gesetzes "zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung" (http://bundesrecht.juris.de/a_g/BJNR113930972.html zu informieren. Mittlerweile liegt die elfte "Unterrichtung" vor, die mit besonderer Spannung erwartet wurde, weil sich die Gesamtsituation in den vergangenen Jahren grundlegend verändert hat. Ist doch mit den Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre ein Billiglohnsektor entstanden, der das viel zitierte Abstandsgebot in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt (Vom Verschwinden des Lohnabstands).

Zahlreiche Unternehmen nutzen die gesetzlichen Möglichkeiten, um sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu ersetzen und massives Lohndumping zu betreiben. Mit Blick auf die entsprechenden Praktiken des Drogeriediscounters Schlecker erklärte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Mitte Januar:

Bei Schlecker gucken wir sehr genau hin, ob da Missbrauch betrieben wird oder ob Gesetze umgangen werden. Wenn das der Fall ist, werden wir diese Schlupflöcher schließen. Da gibt es auch Mechanismen. Wir sind ja nicht im Wilden Westen.

Ursula von der Leyen

Mitte vergangener Woche erklärte sich Schlecker bereit, mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Verhandlungen über einen Beschäftigungssicherungstarifvertrag und einen Sozialtarifvertrag für die rund 41.000 Beschäftigten aufzunehmen. Mit der Zeitarbeitsfirma Meniar, die zur drastischen Senkung der Personalkosten beitragen sollte, will der Konzern keine neuen Verträge mehr abschließen.

Verdoppelung der Zeitarbeitnehmer

Die unternehmenspolitische Kehrtwende ist allerdings nicht einer neuen gesetzlichen Regelung zu verdanken, die der unbeschwerten Ausbeutung von Arbeitskräften Einhalt gebieten würde. Schleckers Gesprächsbereitschaft dürfte in erster Linie der Sorge um einen fortschreitenden und schwer reparablen Imageschaden geschuldet sein.

Wo sich der Markt in so erfreulicher Weise selbst reguliert, kann die Politik den Kampf gegen Wild-West-Zustände auf dem deutschen Arbeitsmarkt getrost den Beteiligten überlassen. Dieser Erkenntnis folgt denn auch die Unterrichtung der Bundesregierung in Sachen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz.

Zwischen 2004 und 2008 sei die Zahl der Verleihbetriebe zwar um 143 Prozent und die der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer im Jahresdurchschnitt von 385.000 auf 760.000 gestiegen. Im Jahresdurchschnitt 2008 sei somit der Höchststand seit Inkrafttreten des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Jahre 1972 erreicht worden. Auch hätten vor allem mittlere und große Betriebe die Zeitarbeit "deutlich häufiger und intensiver genutzt" als noch vor vier Jahren. Insgesamt spiegelten diese Zahlen allerdings nur "die hohe Flexibilität dieser Beschäftigungsform" wider.

Die Erwartung des Gesetzgebers, die mit der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Rahmen des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 verbunden war, zusätzliche Beschäftigungschancen in der Zeitarbeit für arbeitslose Frauen und Männer zu erschließen, hat sich erfüllt. Insbesondere für Langzeitarbeitslose ist die Zeitarbeit eine unverzichtbare Chance auf einen Zugang zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich auch mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit.

Elfter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes

Was genau bedeutet nun "überwiegend" und wie lange dauert "mittelfristig"? Ein wenig Aufschluss gewährt nicht die Unterrichtung der Bundesregierung, aber eine Studie, die das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben und im Dezember 2008 vorgestellt hat. Demnach dauerten 58 Prozent der im bevölkerungsreichsten Bundesland beendeten Zeitarbeitsverhältnisse keine drei Monate. Etwa 60.000 der 147.000 Zeitarbeitnehmer/innen seien "schon nach wenigen Wochen" wieder arbeitslos gewesen, stellte der zuständige Fachminister Karl-Josef Laumann fest und folgerte daraus: "Zeitarbeit bietet keine sichere berufliche Perspektive." Außerdem beklagte Laumann die unterdurchschnittliche Entlohnung, die sich trotz laufender Tarifverträge durchgesetzt und zu einer bedenklichen Ungleichbehandlung geführt habe.

Die untersten Tariflöhne in den drei großen Tarifverträgen liegen bei etwa 7,20 Euro. Der Lohnunterschied zwischen Leiharbeitnehmern und den Stammbelegschaften der Unternehmen ist oft beträchtlich. Aus der Studie ergibt sich, dass ein Leiharbeitnehmer in vergleichbaren Gehaltsgruppen 36 bis 45 % weniger als sein Kollege an der gleichen Werkbank verdient.

Karl-Josef Laumann

Noch kritischer als der CDU-Minister bewertete der Deutsche Gewerkschaftsbund die Auswirkungen der Leiharbeit fünf Jahre nach der umfassenden Deregulierung der gesetzlichen Bestimmungen zum 1. Januar 2004. Freilich würde man sich auch hier eine zahlenmäßige Fixierung der Formulierungen "erheblich überschätzt", "zunehmend", "teilweise" oder "vielfach" wünschen, doch die Arbeitnehmerüberlassung bewegt sich auch sechs Jahre nach der flächendeckenden Flexibilisierung in einer Grauzone.

Leiharbeit bleibt eine umstrittene und oftmals problematische Beschäftigungsform. Die Bedeutung der Leiharbeit für den Arbeitsmarkt wird erheblich überschätzt und die sozialen Kosten unterschätzt. Die Gewerkschaften kritisieren vor allem die zunehmende Verdrängung regulärer Beschäftigung und damit eine zunehmende Destabilisierung des Arbeitsmarktes. Man könnte erwarten, dass Arbeitnehmer/innen, die flexibel sind, teilweise weite Anfahrten in Kauf nehmen und sich erhöhten Gefahren aussetzen, wenigstens anständig bezahlt werden. Doch dies ist nicht der Fall. Die Beschäftigten fühlen sich vielfach wie Arbeitnehmer zweiter Klasse. Das liegt vor allem an dem hohen Lohnabstand zu vergleichbaren Beschäftigten in den Einsatzbetrieben.

DGB

Das jüngste Zahlenmaterial der Bundesagentur für Arbeit lässt ebenfalls wenig Raum für optimistische Deutungen. Nur "etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse" auf dem Zeitarbeitssektor dauern drei Monate oder länger an. Branchenangaben zufolge sind die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise allmählich überwunden. Bis Ende 2009 seien bundesweit schon wieder rund 100.000 neue "Arbeitsplätze" entstanden, sagte ein Sprecher des Bundesverbandes am Wochenende.

Strategische Überlegungen

Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena, hat im Auftrag der Otto Brenner Stiftung den Funktionswandel von Leiharbeit analysiert und die Diskussion schon im August 2009 um einige interessante Aspekte bereichert. Nach seiner Einschätzung wurde die Leiharbeit in den vergangenen Jahrzehnten "überwiegend reaktiv" und in genau dem Sinne genutzt, den die Politik auch im Zusammenhang mit den Deregulierungsmaßnahmen des Jahres 2004 versprach.

Mittlerweile dient sie allerdings nicht mehr nur dem Zweck, flexibel auf personelle Engpässe reagieren und besonders arbeitsintensive Auftragslagen abfedern zu können oder Langzeitarbeitslose wieder in Kontakt mit dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Immer mehr Betriebe gingen stattdessen dazu über, "Leiharbeit als Instrument einer kurzfristigen Absicherung der Kapitalrendite oder der Profitabilität gegen das Absatzrisiko einzusetzen". Leiharbeit habe sich so zu einem variablen "Instrument der strategischen Konzern- oder Unternehmensführung" entwickelt.

Zwar handelt es sich – noch – um eine vergleichsweise geringe Anzahl von Betrieben, aufgrund ihres stilbildenden Charakters geht von diesen Nutzern jedoch schon jetzt erheblicher Druck auf die Arbeitsbeziehungen aus.

Klaus Dörre

Jenseits aller ökonomischen Aspekte vermutet Dörre in der aktuellen Praxis ein eminentes "Disziplinierungspotenzial", das auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirkt und die Struktur von Beschäftigungsverhältnissen nachhaltig beeinflussen kann.

Durch die strategische Nutzung der Leiharbeit werden auch langjährige Stammkräfte und ihre Arbeit über einen "Reservearmeemechanismus" enger an den externen Arbeitsmarkt gekoppelt. Zum einen wirken die Leiharbeiter im Nahbereich, auch wenn sie geringer qualifizierte Tätigkeiten ausüben, symbolisch als ständige Mahnung. Den drohenden gesellschaftlichen Abstieg vor Augen, wird das eigene feste Beschäftigungsverhältnis zu einem verteidigungswürdigen Privileg. Zum anderen bildet die enge Verflechtung im Arbeitsprozess den Boden für eine Steuerung der Arbeit durch Konkurrenz, die in den Fallbetrieben zum Teil erhebliche arbeits- und leistungspolitische Folgen zeigt.

Klaus Dörre

Da die betriebliche Funktion der Leiharbeit von der Führungsetage eines Unternehmens vorgegeben wird, die konkreten Arbeiten aber von den unmittelbaren Vorgesetzten beauftragt werden müssen, glaubt Dörre, dass die Interessenvertreter der Arbeitnehmer eine Schlüsselrolle spielen könnten, wenn es um die Besserstellung der ungleich behandelten Kollegen geht. Zu diesem Zweck müssten sich Gewerkschaften allerdings durchgängig so engagieren wie etwa ver.di im Fall Schlecker.

Zum einen kann die materielle Prekarität der Leiharbeit durch betriebliche Besserstellungen gemildert werden. Zum anderen sind die Betriebsräte in der Lage, das Disziplinierungspotenzial der Leiharbeit ein Stück weit einzuhegen. Voraussetzung hierfür ist eine Interessenvertretung, die die Belegschaft inklusive der Vorgesetzten für das Thema Leiharbeit und die Probleme der Leiharbeiter sensibilisiert.

Klaus Dörre

Aktuell sieht die Lage vielfach anders aus. Bei den Verhandlungen um einen Tarifvertrag für die Zeitarbeitsbranche stehen sich auch die Interessenvertreter der Arbeitnehmer - in diesem Fall der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Christliche Gewerkschaftsbund - im Weg.

Leiharbeit im Wahlkampf

Nach der Kritik des Bundesverfassungsgerichts an den derzeitigen Hartz IV-Regelungen und –berechnungen dürfte der Niedriglohnsektor in Deutschland noch stärker unter Druck geraten (Hartz IV und der hausgemachte Niedriglohnsektor). Ein ideales Wahlkampfthema für die bevorstehenden Auseinandersetzungen in Nordrhein-Westfalen, und so nutzte Sigmar Gabriel das Gespräch mit einer der größten regionalen Zeitungen (um seine Partei weiter zu sozialdemokratisieren. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" heißt das wiederentdeckte Motto der SPD, die den vor Jahren selbstgebastelten Billiglohnsektor nun schnellstmöglich einebnen möchte.

Spätestens wenn ein Leiharbeiter eingearbeitet ist, hat er das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ich halte aber auch einen Flexibilitäts-Zuschlag, wie es ihn in Frankreich gibt, für denkbar. Dort erhalten Leiharbeiter einen Lohnzuschlag von zehn Prozent als Ausgleich für die unsichere Beschäftigung. Das sollte auch in Deutschland diskutiert werden.

Sigmar Gabriel

Gabriels Parteifreundin Malu Dreyer, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz, will es bei Absichtserklärungen nun nicht mehr bewenden lassen, sondern mit einem Entschließungsantrag im Bundesrat für Rechtssicherheit sorgen.

Es darf in dieser Frage nicht nur geredet, es muss endlich gehandelt werden. Wir möchten dafür sorgen, dass den Worten der Bundesarbeitsministerin politische Taten folgen. Die Fehlentwicklungen sind den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht länger zuzumuten. Es muss umgehend Rechtssicherheit durch eine Gesetzesänderung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geschaffen werden.

Malu Dreyer

Man darf gespannt sein, wie Union und FDP auf diesen Vorstoß reagieren werden.