Die Illusion von der gesellschaftlichen Toleranz?

Eine EU-weite Umfrage der Europäischen Union für Grundrechte zeigt, dass die Angst der LGBT-Personen vor Diskriminierung, Schikanen und Gewalt groß ist und nicht grundlos

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jede zweite nicht heterosexuelle, sondern schwule, lesbische, bisexuelle oder transgender-orientierte Person in EU-Ländern meidet öffentliche Verkehrsmittel, öffentliche Straßen und Plätze sowie öffentliche Gebäude "aus Angst aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung angegriffen, bedroht oder belästigt zu werden". Sollten wir nicht schon weiter sein?

Die Zahl stammt aus einer EU-weiten (plus Kroatien) Umfrage, die von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) durchgeführt wurde. Es ist eine Umfrage mit einer sehr hohen Teilnehmerzahl. In ihr finden sich Erfahrungen von über 93.000 Einzelpersonen wieder, die Daten sind nicht repräsentativ, schränkt der Bericht ein, aber die hohe Zahl der Teilnehmer gewährleistet schon, dass die Ergebnisse nicht einfach methodisch abgetan werden können. Die Umfrage macht deutlich, dass eine höhere Toleranz und Offenheit gegenüber Personen, die nicht ins heterosexuelle Norm-Schema passen, eher der Sphäre der Illusion zugehört, als dass sie gesellschaftliche Wirklichkeit ist.

Die Erfahrungen der befragten LGBTs (homosexuelle, bisexuelle und Transgender-Personen) erzählen von einem Lebensumfeld, das deutlich mehr von Ablehnung, Einschüchterungen, Diskriminierung, Angst und Angriffen geprägt ist, als dies die vermittelten Realität suggeriert. Schwule und lesbische Paare in Familienfernsehserien sind längst kein Tabubruch mehr. In den letzten Wochen häuften sich Berichte über das nächste Land, den nächsten Staat, der die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Bewegungen, die sich für mehr Bürgerrechte für LGBTs einsetzen, werden im gesellschaftlichen Konsens als eindeutiges Zeichen des Fortschritts unterstützt, in Zeiten, wo die einstmals bezeichnenden politischen Zuschreibungen "progressiv" oder "konservativ" viel von ihrer Aussagekraft verloren haben.

Auch die Lebenswirklichkeit, der man seit vielen Jahren schon in Münchener Ausgehvierteln oder in Berlin erfährt, lässt die Umfrageergebnisse der FRA wie die Wiederkehr doch eigentlich schon totgeglaubter böser Geister erscheinen.

Zwei Drittel halten aus Angst, hierfür angegriffen, bedroht oder belästigt zu werden, in der Öffentlichkeit ungern die Hand ihres gleichgeschlechtlichen Partners. Unter den homo- und bisexuellen männlichen Umfrageteilnehmern liegt dieser Anteil bei 75 %.

Sind wir in Europa also doch nicht so weit, wie es der Medienmainstream suggeriert? Zunächst zeigt das zitierte Ergebnis eine bedeutende Schwäche der Untersuchung an. Sie ist so undifferenziert wie der oben erwähnte Schluss vom Münchener Gärtnerplatz auf eine allgemeine Realität. Die Untersuchung unterscheidet nicht, in welchen Länder oder Orten spezifische Erfahrungen gemacht werden. Bei den Ergebnisse wird weitgehend nicht berücksichtigt, wo die Befragten leben (eine Ausnahme macht aber zum Beispiel die Grafik hier, Einf. d.V.). Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist nicht in allen Städten oder Vierteln europäischer Länder für LBTGs genauso gefährlich.

Ein Viertel war in den vergangenen fünf Jahren tätlich angegriffen worden oder Gewaltandrohungen ausgesetzt

Umso bedenklicher sind dann allerdings auch die insgesamt so hohen Prozentzahlen der Angaben, die von Diskriminierung, Ablehnung, die in Hass umschlägt, Schikanen und Gewalt berichten. Das beginnt bei der Stimmungsmache von Politikern. Wenn beinahe die Hälfte der 93.000 Befragten der Auffassung ist, dass "unter den Politikern in ihrem Wohnsitzland verbale Beleidigung von LGBT-Personen weit verbreitet ist", wie finster geht es da in bestimmten Gebieten Europas zu?

Bei der aufgeladenen Diskussion über die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Frankreich wurde in Diskussion öfter ein seltsame Art von "Toleranz" ausgestellt und als Argument vorgebracht. Sinngemäß lautet es etwa so: Man habe nichts gegen andere sexuelle Ausrichtungen, sie sollten aber im Privaten bleiben ("im Bett") und nicht öffentlich zur Schau getragen oder gar zum Ausgangspunkt politischer Forderungen - nach gleichen Rechten (!) - gemacht werden. Diese Einstellung hat eine Kehrseite, die in den Antworten der Befragten auftaucht: die Angst sich als abweichend von einer schimärischen Norm erkennbar zu zeigen - besonders in der Schule:

2 von 3 an der Umfrage teilnehmenden LGBT-Personen verbargen oder verheimlichten in der Schule ihre sexuelle Ausrichtung. Mindestens 60 % von ihnen wurden in der Schule mit abwertenden Kommentaren bedacht oder begegneten dort negativem Verhalten. Außerdem äußerten mehr als 80 % der UmfrageteilnehmerInnen aus allen EU-Mitgliedstaaten, dass sie sich an negative Äußerungen oder schikanöses Verhalten gegenüber LGBT-Personen während ihrer Schulzeit erinnerten.

Auch am Arbeitsplatz oder bei der Stellensuche fühlen sich 19 Prozent trotz des durch Unionsrecht garantierten Schutzes diskriminiert.

Dass diese Angst keinesfalls auf Einbildung oder Spekulation beruht, darauf verweisen Erfahrungen:

26% der LGBT-Personen, die an der Umfrage teilnahmen, waren in den vergangenen fünf Jahren tätlich angegriffen worden oder Gewaltandrohungen ausgesetzt. (…) Es wurde auch festgestellt, dass Fälle von Diskriminierung und Hassverbrechen nur selten gemeldet werden, und das, obwohl 56 % der UmfrageteilnehmerInnen wissen, dass Diskriminierung aufgrund sexueller Ausrichtung oder Geschlechtsidentität gesetzlich verboten ist. Die Hälfte der Personen, die Opfer von Gewalt oder Bedrohung geworden waren, hatte den Eindruck, von der Polizei keine Hilfe erwarten zu können.