"Die Kinder der Einwanderer verurteilt sie zum sozialen Tod"

Frankreich: Emmanuel Todd wirft den Sozialdemokraten vor, dass sie die Werte der Gleichheit aufgegeben haben und die arbeitslose Jugend und stattdessen den Interessen der Oligarchen dienen

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"Endlich ein Tag, der Hoffnungen weckt, endlich Bürger, die für positive Werte auf die Strasse gehen und nicht welche, die andere ausschliessen wollen". Beteiligte, Zuschauer und die großen Medien, ganz Frankreich, so der Eindruck, feierte die Demonstrationen am 11.Januar, nach den Terroranschläge in Paris, als grandioses Zeichen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Bis auf ein paar Kritiker ("Wir sind Charlie" - zur Staatsveranstaltung umfunktioniert), die das Aufgebot der Politiker für fragwürdig hielten (Netanjahu in der ersten Reihe winkend) und sich die Botschaft der Bildinszenierungen genauer anschauten (Die Wahrheit ist nur eine Fußnote der Geschichte). Keiner der Kritiker ging allerdings so weit wie Emmanuel Todd.

Todd ist nicht der einzige, der beobachtete, dass ein Teil Frankreichs bei dieser Solidaritätsbezeugung fehlte, nämlich die Bewohner der Vorstädte. Aber er ist der Einzige, der daraus eine größere politische Perspektive entwickelt. Sie trifft regierenden Sozialdemokraten schmerzhaft in ihrem Selbstverständnis. Und Todd ist keiner von den Linken, die die Seiten wechseln und sich rechten Positionen annähern. Das macht seine Kritik interessant.

In Deutschland dürfte der Mann, den französische Medien mal als Historiker, mal als Demograf, mal als Intellektuellen bezeichnen, vor allem als Autor des Buches "Weltmacht USA - Ein Nachruf" bekannt sein. Darin, so bringt es Wikipedia auf den Punkt, skizziert er die "Entwicklung Amerika von der stabilisierenden Supermacht zum Unruhestifter in der Welt". Das Buch stammt von 2002; viele Jahre zuvor, 1976, so sagt man, habe er in einem anderen, auch berühmten Buch, den Untergang der Sojetunion "vorausgesagt". Ein anderes Buch hat "Die neoliberale Illusion" zum Thema und darin das Phänomen der Oligarchie.

Dies nur als Hintergrund zur Erklärung, weshalb seinen Äußerungen in Frankreich Gewicht beigemessen wird. So fühlte sich der amtierende Ministerpräsident Valls bemüßigt, eine Reaktion auf die Kritik Todds zu veröffentlichen ("Nein, das Frankreich des 11. Januar ist kein Betrug") .

Todd wirft in seinem Buch den Sozialisten in Frankreich, dass sie nur mehr die Interessen von Kadern vertreten, die Interessen eines besser verdienenden Milieu und die Interessen einer weltweiten Oligarchie, ersichtlich am Auftritt der eingeladenen "Wir sind Charlie"- Politiker, indes sie die Interessen von größeren Teile der Bevölkerung ausklammern.

Die Linke: "etwas ganz anderes, als sie vorgibt"

Der Sozialismus in Frankreich hat sich selbst unterwandert, lautet eine These aus seinem neuen Essay-Buch "Wer ist Charlie", das in Frankreich seit seinem Erscheinen Ende April Wellen schlägt. "Es gibt eine Subversion dessen, was einmal die französische Linke war", erklärt Todd, "sie ist heute unter der Dominanz des PS in Wirklichkeit etwas ganz anderes, als sie vorgibt."

Die Linke betrüge, so Todd. Der 11.Januar sei ein Betrug, wie auch die Entwicklung der letzten Jahre. Die Linke habe die Werte der Gleichheit aufgegeben und sich stattdessen zur aktivsten und stabilsten treibenden Kraft von wirtschaftpolitischen Maßnahmen entwickelt, die zur gegenwärtigen Massenarbeitslosigkeit geführt hat. Schon mit dem starken Franc unter Mitterand habe die Politik der Sozialisten diesen Kurs aufgenommen, fortgesetzt wurde er mit der Forcierung der Euro-Währung, die die Sozialisten unterstützten.

Das Niveau des "gutes Gewissens" in diesem Land ist unerträglich geworden. Das Frankreich von heute berauscht sich an guten Gefühlen. Aber die Wirklichkeit in diesem Land sieht so aus, dass es wahrscheinlich die einzige Gesellschaft unter den am meisten entwickelten europäischen ist, die es akzeptiert mit 10 Prozent Arbeitslosigkeit zu leben, indem man die die Welt der Arbeiter massakriert und die Jungen massiv aus ihr ausschließt, nicht zuletzt diejenigen, die aus dem Maghreb stammen. Der PS hat kürzlich noch zu glauben machen versucht, dass die Partei der natürliche Vertreter der Kinder der Einwanderer sei. Tatsächlich kommt dem PS hier eine große Kraft zu. Aber in einem anderen Sinne. Seine politische Hauptströmung verurteilt sie zum sozialen Tod.

Politik des Ausschlusses

Todd polemisiert, das geht aus den Aussagen im Interview, das die Debatte in Frankreich in Gang brachte, glasklar heraus. Allerdings stützt der Mann seinen Hauptangriff - die Linken betreiben eine Ausschlusspolitik und vertreten mittlerweile die Interessen von Kadern (höheren Angestellte, Führungsebene etc.) und katholisch gefärbten Traditionalisten - durch "empirisches Material". Todd ist dafür bekannt, dass er sich die demografische Hintergründe, Materialien, Karten usw. von politischen Phänomen genau anschaut, so auch beim Phänomen "Wir sind Charlie".

Dabei fiel ihm auf, dass bei der nationalen Einigkeit, die am 11.Januar auf mehreren Kundgebungen im Land millionenfach demonstriert wurde, viele fehlen: "Die milieux populaires (frei übersetzt: die sozio-ökonomische schlechter Dastehenden, Einf. d. A) waren nicht Charlie, die Jungen aus den Vorstädten, ob sie nun Muslime waren oder nicht, waren nicht Charlie, die Arbeiter aus der Provinz waren nicht Charlie." Dafür waren die Regionen gut vertreten, die traditionell nicht für ihren Hang zur Laizität bekannt sind, sondern für ihr katholisches Engagement. Bös gesagt für einen "katholisch-reaktionären" Geist à la "Vichy".

Die Linke habe sich diesem angeschlossen, darauf läuft ein weiterer Vorwurf Todds hinaus. Man habe auf die Attentate im Januar "hysterisch" reagiert, angesichts der unterschiedlichen Dimensionen noch übertriebener als die USA nach 9/11. Mit dem betrügerischen Etikett einer Einigkeit, auf Kosten der Muslime.

Denn, so die Zuspitzung Todds, während auf der einen Seite, aufseiten der regierenden PS, ein faktischer Block gebildet wird, der die Interessen der oligarchischen Herrschaft vertritt, wird ihm als Feindbild ein künstlicher, falscher gegenüber gestellt. Die Muslime sind kein einheitlicher Block, so Todd, sie werden aber als solcher behandelt, unter Absehung dessen, dass sie sich sehr voneinander unterschieden, allein schon in ihren Herkunftsländern.

"Lasst die französischen Muslime in Ruhe"

Allerdings konstatiert auch Todd in den Vorstädten so etwas wie ein gemeinsames Kennzeichen, nämlich den Antisemitimus, der ein gravierendes Problem darstelle. Todd warnt in diesem Zusammenhang vor einem zunehmenden Antisemitismus nicht nur in den Vorstädten - aus seiner Sicht ist der Anschlag auf den jüdischen Supermarkt angesichts der "Charlie-Hysterie" zu sehr in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung getreten.

Die Befürchtung, die er der Entwicklung der französischen Gesellschaft gegenüber hegt, nimmt das Muster des Antisemitimus als Vorlage für eine Gefahr, die gegenwärtig die Muslime betrifft. Die Reduzierung von Individuen auf eine kollektive Identität, die von der Gesellschaft ausgeschlossen und zum Gegenstand eines Verdachts und zum Sündenbock erklärt wird

Man soll sie in Ruhe lassen, die französischen Muslime. Dass man ihnen nicht antut, was man den Juden in den 1930er Jahren angetan hat, als man sie in den selben Sack gesteckt hat, ganz egal wie sehr sie sich angepasst hatten, ganz egal, was sie als menschliche Wesen waren. Dass man aufhört die Muslime dazu zu zwingen, sich als Muslime zu begreifen.