Die Kollateralschäden des Neuen Krieges

Auch wenn nach den Anschlägen noch nicht gekämpft wurde, stehen die Opfer schon fest

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Der angeblich "Neue Krieg" gegen internationale Terrornetzwerke und ihre Unterstützer hat, auch wenn bislang militärisch noch nicht begonnen, durchaus vertraute Folgen, die bei Kriegen immer entstehen. Die "Kollateralschäden" tragen vornehmlich die Zivilisten, in diesem Fall viele der afghanischen Bürger, die aus Angst vor einem Militärschlag oder vor den Taliban oder vor der schon länger bestehenden Notsituation fliehen oder bereits geflohen sind. Die angrenzenden Staaten haben die Grenzen dicht gemacht. Die USA und ihre Verbündeten im Kampf gegen die Terroristen haben auch humanitäre Hilfe versprochen, doch das Dilemma könnte sein, dass die Vergeltungsversuche wesentlich mehr unschuldige Leben kosten könnten als die Terroranschläge selbst.

Wie in Kriegssituationen mittlerweile üblich geworden ist die Weltöffentlichkeit weitgehend von der Beobachtung der Geschehnisse ausgeschlossen. Auch die Medien werden im parallel laufenden Informationskrieg, dessen Strategie im Golfkrieg bislang am deutlichsten zu sehen waren, instrumentalisiert und möglichst weitgehend in ihrer freien Berichterstattung von den Kriegsschauplätzen behindert. Dass hatte im Kosovo-Krieg nicht so gut geklappt, da hier auch die Medien der Gegner präsent waren und die Menschen selbst über das Internet Informationen, Haltungen und Meinungen an die Außenwelt vermitteln konnten.

Afghanistan scheint hingegen für den Informationskrieg optimal geeignet zu sein. Hier haben die Taliban bereits dafür gesorgt, dass das Land vom Internet abgeschlossen ist, nur wenige überhaupt ein Telefon besitzen, es keinen Fernsehsender gibt (nur in der von der Nord-Allianz kontrollierten Region), selbst Radiostationen nur sporadisch senden. Afghanistan ist ein Schwarzes Loch in der globalen Informationsgesellschaft, wie es dies selten gibt. Daher haben die Militärs hier vermutlich sehr viel stärker als während des Kosovo-Krieges Lufthoheit auch über die Informationen und Bilder, die vom aktuellen Geschehen aus an die Weltöffentlichkeit gelangen, während die bilderfeindlichen Taliban dem vermutlich nicht wirklich eine eigene Propagandamaschine entgegen setzen können.

Wie schon im Golf- und im Kosovokrieg wird die Zivilbevölkerung von den bedrohten Regimen taktisch eingesetzt, um aus der "humanitären Katastrophe" Profit zu ziehen, die eher dem Angreifer zur Last gelegt wird. "Es ist ein großer logistischer Albtraum", warnte UN-Generalsekretär Kofi Annan, "da der Schnee bald kommen wird. Wir sprechen von 7,5 Millionen Menschen, die zum Überleben auf dauerhafte Hilfe angewiesen sein werden." Der UN-Sprecher Eric Laroche sagte gestern in Islamabad, dass die afghanischen Kinder schon jetzt schwächer als jemals zuvor sind. Die Hälfte der Kinder seien unterernährt, ein Viertel der Kinder werde bis zum Alter von 5 Jahren an behandelbaren Krankheiten sterben. In den Flüchtlingslagern Afghanistans würde bereits eines von drei Kindern sterben. Allerdings waren vor allem wegen der Dürre schon vor den Terroranschlägen vier Millionen der 27 Millionen Afghanen von Lebensmitteln abhängen, die vornehmlich von den USA ins Land gebracht wurden.

Man rechnet damit, dass etwa 1,5 Millionen der Flüchtlinge noch das Land verlassen können, so dass immer noch 6 Millionen Menschen zurückbleiben, die ohne Hilfe verhungern. Diese Hilfe müsste aber schnell erfolgen, denn der Schnee macht viele Wege nach Angabe von Experten unpassierbar. Innerhalb weniger Wochen müssten jetzt also fast 600.000 Tonnen allein an Lebensmitteln nach Afghanistan gebracht werden, wenn man davon ausgeht, dass ein Mensch monatlich 18 kg an Essen benötigt. Auch wenn die USA nicht militärisch vorgehen sollten, besteht also bereits jetzt die Gefahr einer riesigen Katastrophe für Millionen von Menschen.

Als Folge der Terroranschläge steht aber zu befürchten, dass unter dem Rückgang der Weltwirtschaft besonders die armen Länder leider werden. So sieht die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) eine "wirkliche Gefahr", dass die Wirtschaft in den USA, in Europa und Japan sich einer Rezession nähern könnte, was für Entwicklungsländer zu zurückgehenden Exporten, sich verschlechternden Handelsbedingungen und sinkenden Investitionen führen kann.

Die Weltbank geht nach einer Analyse der Wirtschaftslage gleichfalls davon aus, dass die Terrorangriffe das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern in den Jahren 2001 und 2002 hemmen könnten, was dazu führt, dass nächstes Jahr 10 Millionen Menschen mehr in Armut leben werden. Ging die Weltbank bislang davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in den reichen Ländern 2002 2,2 Prozent und in den Entwicklungsländern 4,3 Prozent betragen würde, so sieht man jetzt nur noch ein Wachstum von 1-1,5 bzw. 3,5-3,8 Prozent.

James Wolfensohn, der Direktor der Weltbank, weist darauf hin, dass es neben den Toten in den USA weitere, bislang meist übersehene Opfer der Anschläge überall in den Entwicklungsländern und vor allem in Afrika geben wird: "Wir schätzen, dass Zehntausende Kinder mehr an Hunger weltweit sterben werden und dass 10 Millionen Menschen mehr unter der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag wegen der Terrorangriffe leben müssen. Der Grund ist einfach der Einkommensverlust. Und viele weitere Menschen werden in die Armut rutschen, wenn die Entwicklungshilfe unterbrochen wird."

Vornehmlich steigende Versicherungs- und Sicherheitskosten sowie Verzögerungen durch Zollkontrollen tragen nach Ansicht der Weltbank zur Erhöhung der Kosten und einer geringeren wirtschaftlichen Aktivität bei. Investitionen werden eher in sichere Länder fließen, die Weltbank sieht einen starken Rückgang des privatwirtschaftlichen Kapitalflusses in die Entwicklungsländer von 240 Milliarden Dollar im letzten Jahr auf 160 Milliarden Dollar in diesem Jahr voraus. Der Preis für Exportgüter aus den Entwicklungsländer wird eher sinken, was besonders die in der Landwirtschaft Tätigen betreffen werde. Besonders der Tourismussektor sei als Folge der Anschläge stark betroffen. Viele Reisen und vor allem Flüge seien storniert worden. Die Entwicklungshilfe der OECD-Länder, die eigentlich auf Höhe von mindestens 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts liegen sollte, liege jetzt, so kritisiert die Weltbank, durchschnittlich nur bei 0,22 Prozent.

Um der drohenden Rezession entgegen zu wirken, hat die US-Regierung gestern angekündigt, bis zu 75 Milliarden Dollar in die Wirtschaft zu pumpen. Präsident Bush will überdies Steuersenkungen erreichen. Doch selbst wenn die Weltwirtschaft wieder auf Touren kommt, sagt dies noch nichts für die Situation der Menschen in Afghanistan aus, die jeden Moment mit einem Angriff rechnen müssen, der sich offenbar jetzt verdichtet, nachdem die USA die NATO-Mitgliedsstaaten nun aufgrund ihrer Beistandserklärung zur (militärischen) Mithilfe aufgefordert hat. Das militärische und politische Spiel beider kriegführenden Seiten mit den Flüchtlingen kennt man noch aus dem Kosovo-Krieg. Allerdings flüchten die Menschen offenbar nicht nur aus Afghanistan, sondern angeblich sind aus Pakistan bereits Tausende von jungen Männern zu den Taliban gegangen, um sich als heilige Krieger gegen den ungläubigen Feind zur Wehr zu setzen. Manche haben dort ein ganz anderes Bild von den Terrorschlägen und behaupten, dass der israelische Geheimdienst sie inszeniert hat, um die Amerikaner auf der Suche nach Vergeltung auf die Spur der arabischen Länder zu lenken. Und sollte der Westen verlieren und sich eine arabische Geschichtsschreibung nach dem heiß ersehnten Tod Amerikas durchsetzen, so könnten bin Ladin und die Taliban mitsamt den Selbstmordattentätern zu den Ursprungshelden der neuen Weltordnung gehören.