Die Künstliche Intelligenz sind wir

Drohanrufe, Morde, Obdukionsberichte - die Marketingkampagne zu Steven Spielbergs neuem Film "Artificial Intelligence"

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Um das Bildverständnis Amerikas steht es besser als die Angst vorm dargestellten Sex vermuten lässt. Nicht jeder bleibt vor Bildern stehen und glaubt Wirklichkeit zu sehen. Es gibt Menschen, die gehen in und hinter die Bilder, weil sie wissen, dass nur dort Wirklichkeiten zu finden sind. Sie betrachten zum Beispiel im Gegenlicht die Rückseite des Filmplakats zu Steven Spielbergs für Ende Juni angekündigten Film A. I. - Artificial Intelligence und entdecken dort silberne Kreise und goldene Rechtecke, die gewisse Buchstaben einrahmen. Sie lesen gewissermaßen das Bild: "Evan Chan was murdered" und "Jeanine was the key".

Das ist nur ein Startpunkt der Marketingkampagne für das von Stanley Kubrick begonnene und von Steven Spielberg nun fertiggestellte Science Fiction Projekt. Ein anderer findet sich in einem im Netz verfügbaren Trailer. Da wird in den Credits zwischen der Kostümdesignerin und dem Komponisten eine Jeanine Salla als "sentinent machine therapist" aufgeführt. Eine Robotertherapeutin in einem Film des frühen 21. Jahrhunderts?

Jemand mit dem Namen Jeanine Salla hat bisher an keinem Film mitgewirkt, in Nachschlagewerken existiert der Name nicht. Irgendetwas Fremdes ragt hier in die Bilder der Trailer und Plakate hinein, wie die Signatur "luc" in die Buchillustrationen in Polanskis "Neun Pforten". Um eine Bedeutung zu finden, hätte man vor langer Zeit vielleicht Vögelbäuche aufgeschnitten. Oder man hätte an mythisch aufgeladenen Orten, wo das Bewussten und das Unbewusste aufeinandertreffen, gesucht. In Bibliotheken etwa, wie Filmhelden es immer schon taten: in "Indiana Jones und der letzte Kreuzzug", in "Die Neun Pforten", zuletzt in "Die purpurnen Flüsse". Ein solcher Ort ist heute das Internet.

Wer "Jeanine Salla" in eine Suchmaschine eintippt - und das taten einige - trifft zunächst auf zwei mysteriöse Netzseiten. Die der "Bangalore World University"und die der Familie Chang. Zur Universität gehört eine Abteilung für Künstliche Intelligenz, von dort kann man zu Sallas privaten Seiten gelangen. Unter ihrer dort geführten privaten Telefonnummer ist nur eine Ansage zu hören. Eine Ansage über das Begräbnis von Evan Chan.

Wer weiter forscht wird mit immer schwierigeren Rätseln konfrontiert. Da müssen versteckte Verweise im Quelltext von Dateien entdeckt, Fotografien vergrößert und Identitätskennungen aus ihnen herausgelesen werden. Langsam bekommt der Spieler ein Gefühl für die Erde des Jahres 2142: Weit entwickelte Roboter werden als Freundes- und Kinderersatz verkauft, militante Gruppen kämpfen für, andere ebenso militante gegen die Rechte von Robotern und Polizeisondereinheiten suchen nach flüchtigen Maschinen. Den manche Roboter wehren sich: Spieler, die ihre Telefonnummer auf der Seite der Anti-Roboter Bewegung "Unite-and-Resist" angaben, wurden am 13. April angerufen. Eine metallische Stimme sagte: "Wir beobachten dich. Einen schönen Tag."

Der Mord an Evan Chan ist noch nicht aufgeklärt. Ständig tauchen im Netz neue Seiten mit neuen Spuren - Obduktionsberichten zum Beispiel - auf. Ingesamt existieren nun schon etwa 50 - von www.denkendeneshaus-de.dk bis zu catskillseaviewclinic.org. Das eigentliche Geheimnis jedoch ist, was Chan und Salla außer der Zeit, in der sie leben, überhaupt mit Spielbergs Film zu tun haben.

Ein Hinweis findet sich hinter den Bildern: Die meisten der Internetseiten wurden von einer Bianca Ghaepetto bei Network Solutions registriert. Gepetto heißt der Schreiner, der Pinocchio schuf und nachher mit seiner Schöpfung zu kämpfen hatte. Es geht hier nicht so sehr um künstliche Intelligenz, als vielmehr um die Beziehung der Menschen zu ihr.

Kubricks Drehbuchfassung basierte auf der Kurzgeschichte "Super-Toys Last All Summer Long", die der Science Fiction Autor Brian Aldiss 1969 im Magazin Harper's Bazar veröffentlichte. Es ist eine Geschichte über die Einsamkeit der Menschen in einer überbevölkerten Zukunft und ihre Sehnsucht, diese mit Hilfe der Technologie zu überwinden. Aldiss erzählt von der Beziehung einer Mutter zu ihrem Roboterkind, das die tote Tochter ersetzen soll.

Es ist kein Zufall, dass Aldiss Geschichte kürzlich in Wired, dem US-Magazin der libertären Technologieelite, nachgedruckt wurde. Die Marketingkampagne zu "A. I." will uns etwas über unser Verhältnis zu Technologie vor Augen führen, das der Autor von "2001", Arthur C. Clarke, einmal so schön beschrieben hat: "Jede ausreichend weiterentwickelte Technologie ist nicht zu unterscheiden von Magie." Zu sehen war das schon im Film "Blair Witch Project", der wie "A. I. - Artificial Intelligence" stark das Internet für seine Kampagne nutzte (Wir wollen in die Köpfe der Zuschauer eindringen). Er begann mit zwei Sätzen: "Im Oktober 1994 verschwanden drei Filmstudenten im Wald nahe Burkittsville, Maryland, während sie einen Dokumentarfilm drehten. Ein Jahr später fand man ihr Filmmaterial." Der Wald, jener Ort in dem man Vögelbäuche aufschnitt bevor es Bibliotheken gab, hatte die Bilder ausgespuckt.

Technik ist nicht in der Ratio begründet, sondern im Mythos. Das Internet ermöglicht die bisher konkreteste Manifestation des Un- und Halbbewussten. Ohne das Netz wären Verschwörungstheorien nie so sichtbar geworden wie sie es heute sind, Elaine Showalter hätte ihr Buch "Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien" wohl nie geschrieben. Das Streben ins All leitet sich vom Konzept der "frontier" im amerikanischen Westen an. Und wie man schon oft genug gehört hat, gäbe es einige Forschungsprojekte nicht ohne den jugendlichen Star Trek Konsum vieler Wissenschaftler. Das ist das Thema, welches den Film "A. I." mit seiner Werbekampagne verbindet.

Ein Journalist erzählte von einer Szene aus den ersten fünf Minuten des Films, die am 1. Mai im Bostoner M.I.T. zu sehen waren folgendes: Ein Dozent erzählt seinen Studenten von der Entwicklung eines fühlenden Roboters. Er befiehlt einer Studentin, den Mund zu öffnen. Sie folgt ohne Zögern, denn sie ist ein Roboter. Der Dozent drückt einen Knopf, ihr Gesicht gleitet zur Seite, er holt einen kleinen Würfel aus ihrem Kopf. Die Studenten blicken auf das Gehirn, und fragen: Wenn ein Roboter einen Menschen wirklich lieben könnte, was hätte der Mensch dann für eine Verantwortung gegenüber seiner Schöpfung? Worauf wir auch schauen, wir werden und müssen letztlich uns selbst erblicken.