Die Maus kam aus Missouri

"Hmm - misstrauischer kleiner Mickey, ganz wie Sherlock Holmes." Aus: "Mickey Mouse in The Case of the Hungry Ghost", Walt Disney's Comics and Stories, Vol. 16, No. 10, July 1956. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Vor 100 Jahren wurde Paul Murry geboren, der bedeutendste Mickey-Mouse-Zeichner der Disney-Welt. Leider ist sein Name bis heute vollkommen unbekannt geblieben

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Das Phänomen ist indessen nichts Neues. Als ich vor 20 Jahren in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über Carl Barks veröffentlichen wollte - Barks, der bedeutendste "Duck Man" der Disney Comics, stand vor seinem 90. Geburtstag und sollte - im realen Leben, ähnlich wie seine bekannteste Schöpfung, "Onkel Dagobert" - schließlich noch steinalt, nämlich 99 Jahre alt werden - war die Reaktion zunächst, wie damals üblich, ein "Ha-ha, wie heißt der Mann? Karl Marx?" (Das hat sich seither geändert. Möglich, dass manche Leute bei Nennung des Marxschen Namens mittlerweile eher zunächst an Carl Barks denken.) Aber egal. Damals sah sich die SZ jedenfalls außerstande, dem Thema eine ganze Seite zu widmen. Ich durfte meinen Artikel auf eine einzige Spalte herunterkürzen.

Unterdessen hat Barks’ Werk - immer in Kombination mit den Übersetzungen von Erika Fuchs - im deutschen Sprachraum einen Platz eingenommen, der gut und gerne dem eines Wilhelm Busch im vorausgegangenen Jahrhundert entspricht. Die Vermittlung bedeutsamer lokaler Künstler - etwa eines Gottfried Helnwein mit der Ausstellung "Donald Duck - und die Ente ist Mensch geworden", plus dem ausgezeichneten Katalog/Buch dazu aus dem Karikaturmuseum Krems - hat ihren Teil dazu beigetragen. Die deutschsprachige Barks-Comics Reihe aus dem Ehapa-Verlag und entsprechende Pendants in Amerika - eine neue Barks-Reihe ist dort unlängst gestartet worden und soll 2026 (!) abgeschlossen sein - erweitern die Barks-Rezeption. Heute sind Artikel mit Titeln wie "Ducks und Disney - die nachhaltige Menschlichkeit des Carl Barks" quasi "Alltag".

Was insgesamt wenig daran ändert, dass ein Paul Murry heute, an seinem 100. Geburtstag, völlig unbekannt ist - nicht allein in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Disney-Welt selbst, wo man gerade jetzt das sechzigjährige Jubiläum der Panzerknackerbande abfeiert, aber den wichtigsten Mäuse-Mann der Disney-Comics offenbar völlig übersehen hat.

"Duck Man" (hier eine Don Rosa gewidmete Webseite) war offenbar eine gängige Namensgebung im Disney-Imperium für Zeichner, deren Talent eindeutig zu den Ducks hinüberneigte. Auch Barks zeichnete andere Figuren, selbst aushäusige, für Walter Lantz, etc. - (auch wenn dieser sehr Barkssche Woody Woodpecker nicht von ihm stammt!) -, aber selten wirkten sie ebenso überzeugend, lagen sie ihm so natürlich in der Hand, wie die Ducks. Er war der "Duck Man" schlechthin. Ich kenne nur eine einzige Mickey-Mouse-Story von Barks: "Mickey Mouse and the Riddle of the Red Hat". Und wer mit den übrigen Barks-Stories vertraut ist, erkennt deutlich die Welt wieder, die sonst von den Enten bewohnt wird. Der fremde Serienheld mit dem kurzen Höschen wirkt hier indessen etwas deplatziert.

Der eigentliche "Mouse Man" war immer nur Walt Disney selbst. Mickey Mouse ist die Figur, die am engsten mit dem Talent des Zeichners und Trickfilmpioniers Disney in Verbindung gebracht wird. Mickey, geboren 1928, ist, gewissermaßen, Disney. Ob Disney selber die Maus so super hingekriegt hat, steht auf einem anderen Blatt. Aber es konnte eben neben Disney in seiner Welt keinen zweiten "Mouse Man" geben. Vielleicht war es das, was zur kreativen Agonie führte - jedenfalls wussten die Disney-Studios schon recht bald mit dem pfiffigen kleinen Mäuserich nichts Richtiges mehr anzufangen.

"Fantasia", Disneys aufwändiger Musik-Film aus dem Jahr 1940, sollte als Wiedergeburt des Firmensymbols fungieren. Und tatsächlich ist das musikalische Mickey-Segment mit dem "Zauberlehrling" recht hübsch gelungen. Andererseits war es eigentlich auch schon der Abgesang auf die Maus-Karriere. Im Trickfilm hatte das Mäuschen vom Beginn der Vierzierjahre an nicht mehr viel zu melden. Und als Goebbels - (der musste hier natürlich auch seinen Senf dazugeben!) - vermeldete, Mickey sei "the most miserable ideal ever realised - mice are unclean" (das Zitat habe ich nur auf Englisch, er wird es aber so oder ähnlich auf Deutsch gesagt haben) -, da zog nicht etwa Mickey in den antifaschistischen Kampf, sondern Donald.

"Das hab ich doch geahnt! - Der Kapitän war Kater Karlo in Verkleidung." Aus: "Mickey Mouse and The Giant Pearls of Agoo Island", Walt Disney's Mickey Mouse, No. 49, Aug.-Sept., 1956. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Mickey Mouse feierte unterdessen fröhliche Urständ im Comic-Strip - täglich vier Panele, in irgendeiner amerikanischen Tageszeitung. Die Bildlein trugen den markenzeichenartig geschwungenen Schriftzug "Walt Disney" als Autorenangabe, gezeichnet waren die Tages-Strips aber von den Herren Arthur Floyd Gottfredson in Amerika, und später, in Italien, von Romano Scarpa.

Gottfredson, dessen 25. Todestag im Juli dieses Jahres vorbeizog, war der typische anonyme Disney-Künstler jener Zeit. Rund ein halbes Jahrhundert lang erfuhr niemand seinen Namen. Seine Zeichnungen sind liebevoll und lebensvoll gestaltet, sie atmen das städtische Ambiente der damaligen Abenteuer- und Kriminalfilme. Hätte Gottfredson die Strips unter eigenem Namen veröffentlicht - oder beispielsweise mit einer anderen Hauptgestalt als der Disney-Maus - wer weiß? Er hätte Berühmtheit unter eigener Flagge erlangen können und wäre heute vielleicht ein gefeierter Künstler, den jeder kennt, wie einen Charles Schulz, den Schöpfer der "Peanuts", wie Harold Gray, der Little Orphan Annie kreierte, wie Crockett Johnson, der den unvergesslichen "Barnaby" in Szene setzte, wie Chic Young, mit Blondie, oder, keineswegs zuletzt, wie Chester Gould mit seinem "Dick Tracy", dem Vorbild für Nick Knatterton.

Andererseits bietet gerade der Umstand, dass Gottfredson für Disney arbeitete, die Chance, dass seine Strips irgendwann einmal wieder - in Buchform oder in einem anderen Medium - wiederauferstehen könnten.

Romano Scarpa, der in Italien für die Firma Mondadori unter Disney-Lizenz separate Maus-Strips zeichnete, hielt sich zunächst aufs Pingeligste an Gottfredsons Vorgaben, so dass man ein wenig Mühe hat, den individuellen Stil des jeweiligen Künstlers auf Anhieb zu erkennen. (Ich besitze beispielsweise ein fotokopiertes PDF mit 300 Gottfredson-Tages-Strips aus dem Jahr 1947, das ebenso gut von Scarpa sein könnte. Scarpa allerdings schuf seine Stories Mitte der Fünfzigerjahre als bewusste Wiederbelebung und Hommage an Gottfredsons klassischen Stil.)

Freilich dauerte es nicht lange, bis Scarpa die Gottfredsonschen Muster hinter sich ließ, und sein eigenes Mickey Mouse-Universum erschuf. Seine Mäuse sind zweifellos die genialsten, zugleich auch die italienischsten. Man merkt, wenn Mickey (oder Topolino, wie er auf Italienisch heißt) mit seiner Minnie abends ausgeht, dass er sich in Schale geworfen hat, und auch sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen.

Es ist klar, dass am Ende des Abends, wie bei Mäusen nicht anders zu erwarten, ein Quentchen Sex auf dem Programm stehen könnte. Und es gibt Geschichten, bei denen nicht nur unterschwellig, sondern expressis verbis ein ganz unzweideutig sexuelles Element anklingt. Bei den amerikanischen Mickeys kommt nicht mal ein Verdacht in dieser Richtung auf, auch nicht in der obenerwähnten Barks-Story, bei der es ja explizit um ein weibliches Bekleidungsstück geht. Dass die Leute der Maus so lieblos hinterherpfeifen, hat wohl auch viel damit zu tun, dass Mickey/Micky/Topolino ein eher südländischer Typ ist. Bei Scarpa sowieso. Aber auch bei Murry haben Mickey und Goofy, wenn sie mal die Schuhe ausziehen, komplett schwarze Füße.

"Äußerst merkwürdig" befindet Mickey und Goofy findet den Weg. Aus: "Mickey Mouse inThe Unlighted Lighthouse", Walt Disney's Mickey Mouse, No. 52, Feb.-Mar., 1957. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Wie gesagt, bei Scarpa war der Mäuserich eindeutig der Größte. Mickey hatte Sex Appeal. Donald? Null. Trotzdem zeichnete Scarpa mit gleichem Talent auch die Enten. Und obschon seine Duck-Stories nicht an die Barks-Originale heranreichen, sind sie über weite Strecken hinweg durchaus vergleichbar. Quasi wie Barks an einem etwas weniger inspirierten Wochentag. Aber es ist wohl der eher sexuell repressiven Seite der Ducks zu verdanken, dass gerade diese Geschichten als kindertauglicher angesehen wurden, weshalb denn auch Scarpa in Deutschland und Amerika heute eher als Enten-Zeichner bekannt ist, während man nach seinen wirklich überragenden Mäuse-Geschichten - etwa "The Blot’s Double Mystery" (1955/1988) - lange suchen muss - ohne immer fündig zu werden. Immerhin, es gibt sie.

Die Tages-Strips, die auf einen kleinen Gag im vierten Panel hinarbeiteten, erwiesen sich irgendwann einmal als ein zu enges Korsett für das Erzählen kontinuierlicher Geschichten, vor allem auch, weil die Zeitungsleser die jeweils vorausgegangenen Segmente oft nicht mehr in Erinnerung hatten. Als Disney die Continuity ganz abschaffte und der Strip nur noch Tages-Gags brachte, erlosch allerdings das Interesse an Mickey Mouse als einem Zeitungs-Strip für Erwachsene.

Glücklicherweise waren zu Beginn der Fünfzigerjahre bereits die regelmäßig erscheinenden Comic-Hefte mit Mickey Mouse-Geschichten für Kinder (oder jugendliche Leser) aufgekommen. Die meisten Comic-Zeichner, die in diesem Medium arbeiteten, hatten ihr Metier zunächst in der Abteilung für Trickfilm-Animation bei Disney gelernt. Das galt ebenso für Barks, der seine Scripts und Zeichnungen selber anfertigte - das Lettering seiner Sprechblasen überließ er seiner Gattin, ich vermute, weil er - wie es bei Zeichnern und Grafikern öfters der Fall ist - Probleme mit der Rechtschreibung hatte. Trotzdem waren seine Texte - entgegen der im deutschsprachigen Bereich vorherrschenden Meinung, dass sie erst durch Erika Fuchs "veredelt" worden seien - geladen mit der knappen, poetischen Wucht von Haikus. Die handgeletterte Sprechblase verlangte, als Form-Vorgabe, nach ihrer eigenen Poetik.

Paul Murry war, wie Barks, Autodidakt, saß lange als Zeichner in Disneys Animations-Studios, und die Filme, an denen er mitarbeitete, inkludierten "Pinocchio", "Fantasia" und "Dumbo". Zwischendurch machte er sich selbständig und versuchte sein Glück mit einem humorigen Western-Strip "Buck O’ Rue", der entfernt an Al Capps "Li’l Abner" erinnert, aber im direkten Vergleich doch stark abfällt. Der Wikipedia-Artikel über Capp ist übrigens recht aufschlussreich, was die Arbeitsmethoden amerikanischer Cartoon-Zeichner betrifft. "Li’l Abner" geriet aber erst mit dem Zeichner Frank Frazetta zu jenem Meisterwerk des Comic-Olymps, das dann einem Albert Uderzo zu seinen Höhenflügen verhalf, "Oumpah-pah" und "Asterix", wobei allerdings "Asterix" ohne den Script-Schreiber Goscinny nur noch die halbe Drehzahl schaffte.

Gerade Goscinny ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig ein guter Szenarist oder Drehbuchschreiber für einen Comic-Strip ist. Alle Zeichner, die mit Goscinny zusammen arbeiteten, hatten große Hits - wie "Lucky Luke", "Iznogoud", "Der kleine Nick". Und natürlich musste erst ein Mann mit seinem besonderen Sinn für Humor daher kommen, um das Comic-Potential aus dem strohtrockenen "Herrn der Ringe" herauszufiltern.

"Der Telegrafenjunge erhält ein üppiges Trinkgeld zu Weihnachten." Aus: "Mickey Mouse in The Big Christmas Tree Mystery", Walt Disney's Christmas Parade, No. 7, 1955. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Paul Murry musste indessen feststellen, dass er sich beim selbständigen Scripten seines "Buck O’Rue" verfranste, dass ihm die Sprechblasen außer Kontrolle gerieten, und dass seine "funny people" einfach nur langweilig waren. Seine Pferde und Landschaften besaßen indessen bereits jene Qualitäten, die sie nachher für "Mickey Mouse" so unerlässlich machen würden.

Und, wie Barks, ließ auch Murry in den damaligen Humorblättern die gezeichneten Herrenwitze krachen - bei denen beispielsweise zwei dickbäuchige, angeglatzte Mittfuffziger in Badehosen eine blonde und eine brünette Strandnixe im Bikini angaffen, und der eine sagt zum andern, "So, du hast also gehört, dass sie jetzt anfangen werden, einteilige Badeanzüge zu tragen? Klingt interessant - ich frage mich nur, welches Teil sie wohl ablegen werden!"

Har-har. Heutige Leser werden sich beim Betrachten solcher Bildlein bestenfalls mit Mühe ein müdes Lächeln abwringen. Man kann sagen, der Cartoonist Murry wäre längst der Vergessenheit anheimgefallen, wenn ihm nicht rechtzeitig die Muse der Maus über den Weg gelaufen wäre.

Murry hatte bereits bei Disney die "Gevatter Hase" ("Brer Rabbitt") Comics gezeichnet, und hatte dort die wunderschön schlappen Gestalten Gevatter Bär und Gevatter Fuchs entwickelt, die später mit Ede Wolf zum Trio vereint den Bösen Buben Klub in "Der kleine böse Wolf" bilden sollten. Die Bösewichter, die er für seinen Western-Strip gezeichnet hatte, bekamen nun die "Funny Animal"-Knopfnasen und Hundegesichter aufgesetzt, die in Entenhausen gang und gebe waren, dazu die Murry-typischen struppigen Bärte und Frisuren - und etablierte damit seinen eigenen Kosmos. Eine Welt ein wenig abseits von Entenhausen.

Der kleine, runde, etwas allzuglatte Mickey brauchte neben sich noch einen Langen Lulatsch, einen liebenswürdigen, aber leicht bescheuerten Kompagnon, einen umgebauten Ede Wolf, und Murry änderte die Gestalt des Goofy, die es bereits gab, nochmals in subtiler Weise ab. Ich vermute, dass er dabei das gleiche anatomische Vorbild benutzte, wie für seine gestreckten Strandnixen, vielleicht eine verzerrte, langgezogene, Gliederpuppe. Auch Goofys Gesicht basiert auf der Anatomie des menschlichen Fußes. Es ist ein Leichtes, ein Goofy-Gesicht auf jeden Fuß aufzumalen.

Jedenfalls wurde Goofy bei Murry eine vollkommen überzeugende, lockere, anatomisch richtige Nebenfigur, der neben Mickey Mouse gleiches Star-Billing zukommt. Sie wurden, ähnlich wie "Laurel und Hardy" - ein unzertrennliches, gleichwertiges Paar. Daneben tritt eine ganze Galerie von Bösewichtern auf, allen voran natürlich Kater Karlo, und zudem verrückte Professoren und seltsame Gestalten en gros, die sich bruchlos in Murrys Welt einfügen.

Goofy begegnet Kater Karlo und dessen Zwillingsbruder, Ede. Aus: "Mickey Mouse in Double Trouble", Walt Disney’s Mickey Mouse, No. 49, Aug.-Sept., 1956. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Gelegentlich verpflanzt Murry Figuren aus Entenhausen, Oma Duck oder Daniel Düsentrieb, in seine Welt hinein, vermutlich, um die Einheit des Disneyschen Universums zu demonstrieren. Ich empfinde die Enten hier immer als ein wenig störend. Tatsächlich besitze ich nur ein einziges Heft, in dem Murry durchgängig Duck-Geschichten illustriert hat (Donald Duck, No. 211, September 1979, mit zwei Nachdrucken aus den Jahren 1959 und 1962). Schöne Storys, super gezeichnet, aber die Enten wirken ein wenig verkniffen; Donald, Daisy und die Kids sind sich auf dem fremden Set offenbar ihrer Gastrolle unangenehm-überdeutlich bewusst.

Murry verwendete bei den Ducks ebenfalls den etwas dickeren Strich, mit dem er die Mickey-Geschichten zeichnete. Barks kritisierte ihn dafür, während umgekehrt Murry den Barksschen Strich als "zu dünn" empfand. Barks seinerseits konnte der Figur des Goofy nichts abgewinnen. "Ich verstehe nicht," sagte er sinngemäß, "wie man über einen Schwachsinnigen lachen kann."

Tja, Barks sah das irgendwie schon ganz richtig. Goofy ist ein Dussel. Betrachtet man sich das obige Bild noch mal, wo Goofy mit zweifelnd misstrauischem Blick sagt: "Ihr seht beide aus wie Kater Karlo. Besteht da vielleicht irgendeine Verwandtschaft?" Und der eine antwortet: "Ich BIN Kater Karlo. Und das hier ist mein Zwillingsbruder, Ede." Da ist Goofy schon sehr blöd. Aber solche Albernheiten gehören auch recht typisch zum amerikanischen Humor. Zum Humor beispielsweise eines Mark Twain.

Selber eine Landpomeranze aus Oregon erkannte Barks natürlich die Landpomeranze aus Missouri, eben Murry, vom Typ her, schon von Weitem, und der Standardwitz über diesen angeblichen Hinterwäldlerstaat im Herzen der USA lautet ja bis heute, dass die Leute dort allesamt der Inzucht entstammen. Ich denke, dass Murry seinen Goofy durchaus mit diesem Gefühl der eigenen Beschämtheit ausgestattet hat. Typisch etwa die Geste, wie Goofy immer die Hand vor den Mund hält, als wollte er sein schlechtes Gebiss versteckt halten.

Aber mehr noch sehe ich in ihm das typische Produkt dieser Region, den verarmte ländlichen "Trash", der sich gegen die Unbillen der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre nicht anders zu helfen wusste, als unverzagt Konservendosen auf dem Fußboden zu verteilen, wenn es durch das löcherige Dach hereinregnete. Dieses Bild taucht in Murrys Geschichten mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder auf. Und wer einmal die Armutsgemälde der Großen Kunst hernimmt - Carl Spitzwegs berühmtes "Der arme Poet" - man sieht, wie der reimende Künstler da in seiner Mansarde unterm undichten Dach sitzt, unterm Regenschirm, neben sich das Reimlexikon, und wie er die Silben an den Fingern abzählt, ob auch alles passt. Oder Van Goghs berühmte Darstellung seiner ärmlichen Bude. Bei Murry sieht man hier die unendlich viel ärmlichere Szene, Mickey und Goofy übernachten in einer schäbigen Hütte, noch schäbiger als bei van Gogh, sogar der Stuhl ist umgefallen. Mickey unterm Schirm macht sich Sorgen, aber Goofy ist es komplett egal, er schnarcht überlaut vor sich hin... denn so wie hier lebt er immer.

... Armut wie bei Spitzweg oder van Gogh. Aus: "Mickey Mouse in The Sunken City", Walt Disney’s Comics and Stories, Vol. 18, No. 1, October 1957. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Nun, was hat es mit dem US-Bundesstaat Missouri - miz-ZUR-ree, im Norden, im Süden miz-ZUR-rah genannt - auf sich? Kurz ein paar Daten: Missouri gilt als der Staat der Skeptiker, der ungläubigen Thomase. Wer den zweifelnden, misstrauischen Gesichtsausdruck von Mickey Mouse kennt, wenn ihm wieder einmal etwas nicht ganz lupenrein vorkommt, versteht, woher das stammt. "Ich bin aus Missouri, zeigt mir die Beweise", heißt dort die Parole. Kurz: "Show Me." Missouri gilt als der "Show Me"-State.

Mehr als ein Viertel der Bevölkerung, die größte Gruppe, ist deutschstämmig, also ich denke nicht, dass es bei Murry den Spitzweg-Anklang ganz zufällig gibt. Und es fließt ein Fluss quer durchs Land, der Missouri, der die Städte Kansas City und St. Louis verbindet. St. Louis ist bekannt als Geburtstadt von T. S. Eliot, der das Drehbuch für das Musical "Cats" schrieb. Weiterhin hat dieser Bundesstaat den US-Präsidenten Truman hervorgebracht, der noch ohne Begleitschutz durch Washington spazieren ging, aber die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwerfen ließ.

Außerdem gehört zu den großen Namen dieser Region Mark Twain, der die beiden abenteuerlichen Jungens, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, erfand. Und, wichtiger im Kontext dieses Artikels: auch Walt Disney kam aus Missouri. Die Maus ist ihm erst in Kalifornien eingefallen, aber Murry hat sie nachher wieder in Missouri angesiedelt. Wer Murrys "Mickey Mouse" Geschichten liest, begibt sich, über weite Strecken, auf Abenteuer in Missouri, besonders wenn Mickey wieder einmal, eher mäuse-untypisch, seiner Lust am Fischfang frönt.

Über Murry selbst wissen die historischen Internet-Quellen nichts zu berichten, wohl aber über Disney. Immerhin gibt es Hinweise auf zahlreiche Murrys in Missouri. Die Familie scheint also dort schon länger ansässig gewesen zu sein. Dass dieser Murry in den Disney Olymp vorgestoßen ist, scheint den Lokalhistorikern und Universitätsgelehrten seines Staates jedoch keiner weiteren Erwähnung wert gewesen zu sein. Der einzige nennenswerte biographische Aufsatz über ihn stammt von dem schwedischen Autor Germund von Wowern, der zuvor unter dem Namen G. Silvegren schrieb. Bei Wowern findet sich auch das einzige Foto von Murry.

Ich muss den Beitrag hier nicht in voller Länge zitieren, es reicht der Link. Erwähnenswert finde ich aber, dass Murry selber eine Familie mit neun Kindern hatte. Da ich den Zeichner Murry als Realisten und Skeptiker einschätze, halte ich diesen großen Kinderreichtum für weniger seiner Religion, als seinem ländlichen Ambiente geschuldet. Es passt außerdem zum Schöpfer einer Mäuse-Serie. Auch Mäuse sind für ihren zahlreichen Nachwuchs bekannt.

Den Witzblattzeichner Murry, der in einem einzigen Panel, oder in einer Serie von zwei aufeinanderfolgenden Bildern, einen Witz, oft "ohne Worte", verpacken konnte, erkennt man leicht an seinen Cover-Illustrationen für die "Goofy"-Reihe. Einmal hat sich Goofy in unendlich viele Knoten verstrickt und neben ihm liegt ein Buch mit dem Titel: "Wie man Knoten schnürt." Jedes Kind versteht das als lustige Zeichnung. Die Eltern verstehen den Ausdruck "How to tie knots" als "Wie man eine Ehe führt", und lächeln über etwas anderes. Dito: Goofy, der mit einem Ei in der Pfanne geduldig neben der Henne sitzt und auf ein zweites Ei wartet, während sie ihn mit schnippischem Gesichtsausdruck am ausgestreckten Arm verhungern lässt, deutet auf stürmische Eheszenen hin, die hier gewissermaßen in Aspik gefasst sind.

Bildwitze am Cover...."ohne Worte". Aus: Covers, Goofy No. 747, 1956, und Goofy No. 802, 1957. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Andererseits denke ich nicht, dass man sich bei Disney allzutief in Freudianische Interpretationsebenen hinein begeben hat. Insgesamt ist es im anglo-amerikanischen Raum unüblich, etwas anderes als Oberflächenphänomene zu identifizieren - das Tabakrauchen eines alten Mannes bei Enid Blyton wird durch Bonbon-Essen ersetzt, potentieller Rassismus in Kinderbüchern wie "Huckleberry Finn" wird rigoros und chirurgisch glatt entfernt. Wer etwa das erste Kapitel von L. Frank Baums "Ozma of Oz" liest und dort Päderastie wittert, kann nur ein "Continental" sein.

Die europäischen Donaldisten, die Carl Barks bestätigen, dass er seinen jungen LeserInnen eine Hornhaut für die Seele verpasst habe, als einen Schutz ihres Innenlebens, indem er sie durch Comic-Lesen als Kind die Eltern nur als Comic-Figuren erlebt ließ, deren Bedrohlichkeit man einfach weglachen konnte, haben, wie ich meine, kein amerikanisches Äquivalent. Die Barkssche Welt ist allerdings recht komplex strukturiert, während Murrys Geschichten auf dem alten Buddy-Schema basieren. Mickey und Goofy sind gewissermaßen Tom Sawyer und Huck Finn, sie sind zwei erwachsene Jungs. Weswegen denn auch Morty und Ferdy, Mickeys Neffen, wenn sie denn mal mit dabei sind - oder auch Pluto - eher störend wirken. Die Charaktere funktionieren da am besten, wo sie einfach, in eine Detektivgeschichte verpackt, quasi als Sherlock Holmes und sein dusseliger Amanuensis, Dr. Watson, figurieren.

Da erweist sich Murrys Geschick aufs Schönste. "Der Fall des verschwindenden Banditen" eröffnet mit einem etwas missverständlich kolorierten Panel, Straße und Gehsteig wirken verschneit, es ist aber der erste Frühlingstag. Mickey und Goofy flanieren, unter sich den für Murry typischen Fünf-Minuten-nach-High-Noon-Schatten, der seine Figuren stets grundiert. "Was für ein schöner Tag, da fühlt man sich so beschwingt", meint Mickey. "Ja, man kriegt richtig Lust zum Rennen", meint Goofy, und im Bildhintergrund sieht man soeben einen Mann mit verdächtiger Gesichtsmaske und zwei Geldsäcken in den Händen hurtig aus der Bank davon eilen.

Ein schöner Frühlingstag.... für einen Banküberfall Aus "Mickey Mouse in The Case of the Vanishing Bandit". Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide.

Dies ist der Erstdruck der Geschichte aus Mickey Mouse, No. 48, June-July, 1956. Das gleiche Bild, aus einem australischen Nachdruck, Sydney, 1974, zeigt eine bonbonfarbene, und im weiteren Verlauf der Story völlig konfuse Kolorierung. Ich selber schätze die etwas farbversetzten, nicht immer sauber gedruckten, ganz offensichtlich in großer Eile angefertigten Letraset-basierten Einfärbungen der amerikanischen Erstausgaben. In den nächsten beiden Panelen sieht man deutlich, wenn man die größere Version der Bilder anklickt, mit welcher Eile die Ladies in der Bebuntungsabteilung gearbeitet haben müssen. In der edlen und sehr viel sorgfältiger gearbeiteten holländischen Fassung stimmt soweit alles - bis auf den eher drögen Text. Murry schafft es hier, in zwei Bildern, eine ganze Welt erstehen zu lassen.

Der offenbar etwas kurzsichtige Bahnarbeiter im ersten Bild, der sich keine Brille leisten kann und deshalb für ein Zubrot auf kriminelle Machenschaften bauen muss, heißt, wie wir im zweiten Bild erfahren, "Squint" - sagen wir, "der Blinzler". Auch die beiden anderen Gangster sind als Charaktere sofort komplett miteinander und gegeneinander kontrastiert und charakterisiert. Auch die beiden Telefonapparate, die sich deutlich von einander unterscheiden, der eine durch sein etwas kurioses "Gesicht", der andere durch seine schlichtere Form, oben am Berg, transportieren das Telefonat unverwechselbar, dramatisch klar und eindeutig, von A nach B, und versetzen uns gleichzeitig, hier im Jahr 1955, sofort in eine ländliche, um gut 30 Jahre ökonomisch zurückgebliebenere Region.

Klassische Momente der Comic Literatur...in kleinen Szenen am Rande Aus: "Mickey Mouse in Riding the Rails", Walt Disney’s Comics and Stories, Vol 15, No. 7, April, 1955 und "Mickey Mouse, Tussen de Rails", aus Walt Disney’s Donald Duck en andere Verhalen, Oberon, Amsterdam, 1974. Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Disney Publishing Worldwide. Alle Bilder stammen aus dem Archiv Tom Appleton.

Die Bilder, die diesen Artikel begleiten, erscheinen mit ausdrücklicher Genehmigung von Walt Disney Deutschland in München und sind aus Comic-Heften in meinem eigenen Besitz gescannt worden. Für einen ausführlichen Artikel über Murrys Kunst und Kunstfertigkeit bräuchte man sicher sehr viel mehr Platz und viele weitere Bilder, und zudem ein eigenständiges Kapitel über Carl Robert Fallberg, Murrys Szenaristen, der bei Disney an solchen Filmen wie "Bambi", "Fantasia" oder "Dumbo" mitgeschrieben hat. Im Übrigen möchte ich noch anmerken, dass es zahlreiche Disney-Zeichner gab, die mit großem Geschick sowohl Enten und Mäuse-Stories selber scripteten und zeichneten, darunter Toni Strobl und Dick Moores, die einige der schönsten Comics produzierten, die ich kenne. (Ein wenig Disney History kann man hier einsehen.)

Es wäre das Thema eines eigenen Artikels, wie die Leser der Zukunft diese Geschichten konsumieren - oder überhaupt je zu Gesicht bekommen werden. Das Comic-Heft der Fünfzigerjahre gibt es nicht mehr, und Comics insgesamt liegen in der Agonie; gerade auch in Amerika. Die klassischen Disney-Stories erscheinen in Buchform für eine oft schon stark gealterte Leserschaft, oder nicht-mehr-lesende Sammlerschaft, oder für jüngere Fans um die 40, die sich die stark überzuckerten Preise leisten können. Das eigentliche Medium unserer Zeit für das Comic-Lesen wäre natürlich das iPad - wo dann auf unterschiedliche Weise aufbereitete Versionen der Stories mit allen nur irgend erdenklichen Background-Infos für Leser jeden Alters (unter 20) zwischen Daumen und Zeigefinger sofort abrufbar wären. Man kann nur hoffen, dass die Leute in Burbank das irgendwann auch mal spitzkriegen.