"Die Mittelklasse ist ein furchteinflößender Ort"

Ein britischer Politiker will, dass soziale Barrieren, Berührungsängste der unteren Schichten zur Mittelklasse, abgebaut werden. Dem steht das Gefühl vieler Jugendlicher entgegen, dass "weiter oben alles besetzt ist"

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Der Handlungsablauf war lange Zeit gut fürs Kino; für Filme, die einem erzählten, dass Aufstieg auch aus den ärmtsen Verhältnissen möglich ist, wenn man nur wach ist und sich anstrengt: eine junge Frau oder ein junger Mann wird für den Eintritt in eine höhere Gesellschaftsklasse vorbereitet.

Dazu bekommt die junge Hoffnung aus benachteiligten Verhältnissen Unterrricht in Sprache und Umgangsformen. Gezeigt wird, wie er aufrechte Haltung am Tisch lernt, mit Büchern in die Achseln geklemmt, das elegante Hantieren mit Messer und Gabel, dem Hummerbesteck und den kleinen Löffelchen, dazu streut man kleine brauchbare Konversationshäppchen ein, damit er oder sie auch das Tischgespräch möglichst ohne erkennbare Anstrengung am Laufen halten können.

Zum Gesamtpaket gehören auch Theater- und Opernbesuche, die Einführung in klassische Musik und Literatur, das comme-il-faut-Bildungsprogramm, eine neue Frisur, neue Kleidung. Am Ende der Premiere gibt es ein Schulterklopfen "Geschafft!". Und heute?

Peter Brant, politischer Leiter der britischen Regierungskommission für soziale Mobilität und Kinderarmut (SMCP) plädiert in einem SMCP-Blogbeitrag für eine Förderung mit ähnlicher Ausrichtung.

Gute Schulabschlüsse reichen nicht für eine Karriere

Er ist der Auffassung, dass gute Noten nicht ausreichen, um Talente, die das Land so dringend brauche, an die richtigen Stellen zu bewegen. Man müsse den Kindern, die aus weniger gut gestellten Verhältnissen stammen, dabei helfen, soziale Barrieren abzubauen, die der Entfaltung ihres Potentials im Wege stehen. Das werde bei allen Diskussionen über das Abschneiden von Schulen und Schülern vergessen.

Man müsse den Talenten aus den unteren Schichten die Angst vor der Mittelklasse nehmen, so sein Anliegen. Angeregt ist es vom Erlebnisbericht eines Cambridge-Studenten, der anhand seines Unbehagens bei einem gemeinsamen Essen in der Traditionsuniversität zur Feststellung kommt, dass sozioökonomische Gleichheit sehr viel mehr ist als der Besuch der richtigen Schule. Dass es große Unterschiede in den Erfahrungs-und Herkunftswelten gibt, die schwer überbrückbare Gräben ziehen.

"Voller ungeschriebener Gesetze und Regeln"

Die Mittelklasse sei ein furchterregender Ort, voller ungeschriebener Regeln, fremd für jemanden, der aus einem Milieu komme, in dem Überleben an erster Stelle steht. Die Kultur sei unterschiedlich, die Referenzen an Filme, Musik etc, Essen, Kleidung und Haltungen, die man gegenüber anderen Personen einnehme.

Man habe keine geeigneten Rollenmodelle wie die Kinder aus Mittelklassefamilien, geschweige denn die informellen Karriertipps, über die die anderen verfügen. In den unteren Einkommensschichten beginne man mit einem schwachen Selbsbewusstsein und das Gefühl setze sich dann im Kontakt mit anderen Kreisen, die einen spüren lassen, dass man Zugang zu anderen Erfahrungen und einer anderen Kultur habe, fort.

Diese Erfahrung ist für Peter Brant nicht nur eine individuelle, sondern exemplarisch, weswegen er fordert, dass die staatlichen Schulen hier etwas gegenüber Vorteilen der Privatschulen unternehmen müssen, deren Elitestatus als Ausgangspunkt vieler Karrieren in Großbritannien immer wieder zu Diskussionen über Ungleichheit führt - soweit sein Anliegen, am Ende überrascht der Politiker allerdings mit einer großen Lücke.

Es fällt ihm nämlich nichts ein, was man nun mit der Aufmerksamkeit für dieses "potentielle Thema" machen könnte. Nur dass Aufmerksamkeit schon mal gut wäre und es auch gut wäre, wenn man ein besseres Verständnis dafür entwickle, was nötig wäre, um diese Barrieren abzubauen. "Any Ideas?", fragt er am Schluss.

Der Stolz der Arbeiterklasse - "gegen die Gleichmacherei"

Im Telegraph, wo Brants Blogeintrag immerhin so dargestellt wird, dass seinem Willen zum Abbau solcher Barrieren ein gewisser Schwung beigemessen wird, stößt sein Anliegen im Forum auf sehr viel Einspruch.

Die Kommentare zeigen Wut und Spott auf die Mittelklasse, vor deren Durchschnittlichkeit man bitte keine Angst zu haben brauche, und Stolz auf die Werte der Arbeiterklasse. Traditionell möchte man meinen, aber wie lebendig ist er noch, außerhalb der Foren? Vielleicht im Willen der Abgrenzung gegen ein normiertes Leben, gegen eine unerwünschte Gleichmacherei, wie ein Forumsbeitrag zeigt:

So the disappearance of regional dialects, customs and traditions, replaced by a rootless, homogenous dialect and set of norms of behaviour. Sounds like an EU dream.

Dass Peter Brant keine praktischen Vorschläge eingefallen sind, mag wahrscheinlich damit zusammenhängen, dass ihm klar ist, dass altvorderne Benimmkurse, Museums-und Theaterbesuche an dem, was er anspricht, nichts ändern würden; was im Film eine schöne Aufstiegsgeschichte hermachte - zu Zeiten, als Wirtschaftswachstum in der kollektiven Psyche noch mit großen Chancen individiduellen Aufstiegs in eins gesetzt wurde - ist heute eine andere Geschichte.

Jetzt ist das anders, die sozialen Barrieren, die sich hier zeigen, sind Mauern von einer materiellen Substanz, die sich kaum mit kulturellen Annäherungskursen auflösen lassen. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr - bzw. wer erbt, ist auf der guten Seite. Und die anderen? In Großbritannien haben die gewöhnlichen Familien nichts vom Wirtschaftswachstum, schrieb der Chef der Labour Party, Ed Milliband, Ende letzten Jahres im Economist.

"Der Mythos der Meritokratie hat sich in Stücke aufgelöst"

Zum sozialen Aufstieg gehört der Glaube daran, dass die Gesellschaft tatsächlich ist, was sie als Leistungsgesellschaft vorgibt zu sein, "meritokratisch". Das Wort ist längst zum Spott verkommen. Eine Befragung von französischen Jugendlichen mit sehr großer Stichprobe (Frankreichs Jugend: Draußen vor der Tür, Wut im Bauch) gab vor kurzem Aufschluss darüber, wie die "Meritokratie" im Leben der Jungen ankommt: "Der Mythos hat sich in Stücke aufgelöst." Fast drei Viertel der Befragten äußerten das Gefühl, dass ihnen die Gesellschaft nicht die Möglichkeiten gibt, zu zeigen, wozu sie fähig sind.

2006 waren das noch 53 Prozent. Die Studie stellte zugleich heraus, dass diese Generation gut ausgebildet, informiert und hochmotiviert sei, wenn es um Arbeit gehe. Ein weiteres Zeichen dafür, dass es um den Aufstiegsgedanken, der lange Zeit die Beweggründe für Anstrengungen abgab, nicht zum Besten steht, ist die mittelweile als beinahe als Selbstverständlichkeit in vielen Umfragen abgegebene Auffassung, dass diese Generation vielleicht noch auf dem Niveau der Eltern leben kann, keinesfalls aber besser, und es für die nächste noch schlimmer steht.

Deutschland: auf einen, der sozial aufsteigt, kommen knapp zwei, die absteigen

Auch Deutschland stellte Michael Hartmann, Professor für Elite- und Organisationssoziologie an der Technischen Universität Darmstadt, im Februar 2013 ein ernüchterndes Zeugnis für die soziale Mobilität aus. In Deutschland kämen auf einen, der sozial aufsteigt, knapp zwei die absteigen, so Hartmann, der sich auf einen damals aktuellen Bericht des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung bezieht. Dort habe man bereits in einer 2010 veröffentlichten Studie festgestellt, dass die soziale Mobilität "alles in allem deutlich rückläufig" sei.

Im Jahr 2012 stimmten laut einer Allensbach-Umfrage nur noch 18 Prozent der Unter-30jährigen aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status "der Aussage zu, dass der, der sich anstrengt, es in der Regel auch zu etwas bringt. Unter den Gleichaltrigen aus Familien mit einem hohen Status waren es mehr als dreimal so viel".

Von den Topmanagern stammen nach wie vor ca. vier Fünftel aus dem Bürger- oder dem Großbürgertum, d.h. den oberen knapp vier Prozent der Bevölkerung, und bei den höchsten Beamten des Bundes und den Bundesrichtern sind es immerhin noch zwei Drittel. Selbst für Kinder aus Mittelschichtfamilien, deren Eltern schon höhere Bildungsabschlüsse erlangt haben, ist der Zugang in Spitzenpositionen außerhalb der Politik also weitgehend versperrt.

Und "eine Gruppe von ungefähr einem Fünftel", mit Startplätzen in den hinteren Reihen, droht "vollkommen abgehängt" zu werden.