Die Mobilität der Zukunft oder: da fehlt ein "individuell"

Die Visionen der "Mobilität der Zukunft" beinhalten größtenteils Modelle der Nutzung eines Fahrzeuges durch mehrere oder sogar viele Personen. Dass Adjektiv "individuell" in Bezug auf Verkehrsmodelle bleibt dabei außen vor.

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Züge, die mit erneuerbaren Energieträgern betrieben werden und das Auto ersetzen; Autos, die von zig Personen genutzt werden, anstatt überwiegend auf Parkplätzen herumzustehen; Taxen, die stets nur mehrere Personen zugleich befördern ... die Visionen der "Mobilität der Zukunft" setzen oft auf Transportformen, die vom Teilen und dem Miteinander geprägt sind. Der Individualverkehr wird durch Modelle abgelöst, die die Umwelt schonen und von ökonomischen Gesichtspunkten aus betrachtet werden.

Wieso soll das Auto stundenlang in der Garage stehen, wenn es doch in dieser Zeit von jemand anderem benutzt werden kann? Wieso sollten vier Menschen mit der gleichen Arbeitsstätte nicht automatisch eine Fahrgemeinschaft bilden? Das Adjektiv "individuell" wird hier durch "einzeln" ersetzt, so dass die alleinige Nutzung eines Fahrzeuges durch eine Person oder Familie allein der Ökonomie geopfert wird, ohne dabei zu bedenken, dass auf diese Weise diverse Aspekte der Fahrzeugnutzung außen vor bleiben.

Meine Anmerkungen bzw. Überlegungen dazu sind auf die Fahrzeuge konzentriert, die sich zu Lande bewegen, können aber auch analog auf solche angewendet werden, die in der Luft oder auf See unterwegs sind.

Das Fahrzeug als Statussymbol

Fortbewegungsmittel waren schon früh auch Statussymbol. Das "Goldene Zeitalter der Kutsche", wie die Zeit zwischen 1750 und 1900 bezeichnet wird, zeugt davon. Kutschen verbreiteten sich rasch und dienten nicht nur dem Warentransport, sondern auch der Beförderung von Personen und nicht zuletzt von Informationen in Form von Briefen (Postkutschen). Die Kutschen zur Personenbeförderung wurden auch dazu genutzt, die Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsschicht und die finanzielle Ausstattung der beförderten Personen hervorzuheben.

Herrschaftliche Kutsche um 1870

Neben der reinen Kutsche diente die gesamte Equipage der Abgrenzung - die Rasse und die Ausstattung der Pferde, die Anzahl der Bediensteten, die die Kutsche begleiteten und natürlich die Kleidung des Kutschers (bzw. dessen Vorhandensein an sich) zeigten deutlich, wann es sich um eine Kutsche handelte, die eine Person mit höherem gesellschaftlichen bzw. finanziellem Status beförderte. Bei Kutschen der Königshäuser trieb man diese Idee auf die Spitze - allem voran bei der des englischen Königs George IV, die zugleich eindrucksvoll zeigte, was Fahrzeuge neben der reinen Fortbewegung hinaus leisten sollten: Sie dienen als Schutz.

Seit dem Zeitalter der Kutschen hat sich in Bezug auf die Zurschaustellung von Reichtum und gesellschaftlicher Stellung in Bezug auf Fortbewegungsmittel wenig geändert. Teure Autos zeugen von finanzieller Potenz, allzeit bereite, ggf. livrierte Chauffeure demonstrieren die Möglichkeit, sich für triviale Tätigkeiten wie Fortbewegung und Parkplatzsuche entsprechendes Personal leisten zu können. Die Autos selbst strahlen teilweise einen obszönen Reichtum aus und wirken manchmal wie das Fortbewegungsäquivalent zum fast fortwährend im Safe eingesperrten Collier, das höchstens kurzfristig der Zurschaustellung dient.

Schutzräume

Wie das Beispiel der Kutsche George IV. zeigt, dienen Transportmittel bis heute auch dem Schutz - sowohl was Waren als auch was Personen angeht. Die goldene Kutsche war von Außen nur sehr schwer zu öffnen, was verhindern sollte, dass der Insasse bei einem Überfall allzu leicht von Räubern aus dem Gefährt gezerrt wird. Heutzutage sind (vom Panzer bis zur gepanzerten Limousine) viele Fahrzeuge auch Schutzräume, die eine Fahrt zu einem bestimmten Ziel ohne Hindernisse und Gefahr für den Fahrer nebst Insassen ermöglichen sollen. Die "ganz normale Form" des Schutzes zeigt sich in Airbags, Gurten etc.

My (mobile) home is my castle

Abgesehen von dem reinen Gedanken, seine eigene Stellung zu zeigen, sind Fortbewegungsmittel auch zu einer Art Ersatzwohnung geworden. Jene, die eine nicht geringe Zeit in LKWs verbringen, richten diese nicht nur praktisch, sondern auch "heimelig" ein: Blinkende Weihnachtsbäumchen, Kaffeemaschinen und zahlreiche andere Gegenstände zeugen von dieser Idee. Doch auch die, die das Fahrzeug nur relativ kurze Zeit über nutzen, geben ihrem Wagen etwas Eigenes, rüsten es mit Aufschriften, Folien oder dergleichen mehr aus, während im Inneren Duftbäume, Billardbällchen für die Schaltung und der altbekannte Wackeldackel nur den unteren Bereich der Individualisierungsskala abdecken.

Automobilhersteller und andere Unternehmer haben die Individualisierungsbestrebungen längst als gewinnbringend erkannt und bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten an, den PKW vom Standard zum "eigenen Modell" mutieren zu lassen - vom pinkfarbenen Plüschautowürfel der "Tussi on Tour"-Reihe über Lenkradschoner, Sitzbezüge in schillerndsten Farben oder aus diversen Holzkügelchen, falschen Wimpern für die Scheinwerfer bis hin zu einem Rentierkostüm für das Auto.

PKWs sind auch Rückzugsräume geworden. Sie sind zwischen Arbeitsplatz, Einkaufsmöglichkeiten und Zuhause ein Ort, in dem jemand einfach er selbst sein kann und nicht mit anderen konfrontiert wird. Im Film "Walk the Line" hält Reese Witherspoon als June Carter den Wagen an, während sie (verzweifelt ob ihrer Liebe zum selbstzerstörerischen Johnny Cash) zur Musik von "Ring of Fire" weint. Der Wagen dient ihr, die sich selbst als starke Frau darstellt und darstellen muss, als Platz, an dem sie weinen darf und kann - unbeobachtet und von den Blicken anderer befreit.

Der Wagen ist für June Carter hier das, was für Eleanor Roosevelt das Badezimmer war: Der Raum, in dem sie weinen darf, in dem sie Schwäche zeigen kann. Gerade auch in einer Zeit, in der fast jeder Moment des Tages verplant ist, sind Transportmittel letztendlich die Räume, in denen für Schwächen jeglicher Art Platz ist. Nicht aus Zufall sind sie in Serien und Filmen omnipräsent als Orte, an denen vom ersten Kuss bis hin zu Mord, Verführung, Bestechung, Vergewaltigung, heimlichen Gesprächen und Selbstmord alles mögliche stattfindet, was nicht mit anderen geteilt werden soll.

Doch nicht nur die Schwächen wollen ungern geteilt werden. Auch die persönlichen Geschmäcker, die sich schon in der Ausstattung manifestieren, kollidieren oft mit dem Gemeinsamkeitsgedanken. Egal ob es um die Auswahl der Musik geht (bzw. die Entscheidung ob überhaupt solche gespielt werden sollte), um hygienische Fragen (Katzenhaare? Igitt!), um Rechte oder Pflichten (der Beitrag zum Spritgeld ist fällig - und wer macht eigentlich den Kofferraum sauber?) - das Zusammenraufen ist schwierig und so mancher wird sich langwierige Auseinandersetzungen nicht antun wollen und stattdessen seinen PKW allein benutzen.

So etwas lässt sich auch bei anderen "Share"-Modellen beobachten: Wenn der ausgeliehene Rasenmäher nicht gesäubert und geschliffen, die DVD voller Fingerabdrücke oder gar die kurzfristig zur Verfügung gestellte Wohnung eher eine Reminiszenz an "Demolition Man" ist. Prompt landet man hier wieder bei Verträgen, Versicherungen, Vorauszahlungen, Vertrauensvorschüssen oder gleich beim "ich will meine Ruhe haben".

Abgesehen von der Tatsache, dass der ÖPNV (oder auch die "Shared"-Version davon) niemals wirklich alle Bezirke/Orte abdecken kann, bleiben diese Aspekte des Individualverkehrs oftmals außen vor. Der PKW wird als egoistisches Mittel zur Fortbewegung angesehen und teilweise dämonisiert, ohne zu beachten, welche Funktion das Transportmittel heutzutage erfüllt. Die Vision von möglichst wenig Individualverkehrs wäre insofern nur dann realistisch, wenn sich eine neue Lebensphilosophie entwickelt und die Rückzugs- und Schutzräume entweder unnötig oder ersetzt werden.

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