Die Phantome des Dschihad

"Zu viele Muslime sind getötet worden"

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Die Hinweise darauf, dass der Brief des Al-Qaida Vizechefs Sawahiri an Sarkawi, den Filialleiter der Terrororganisation im Irak, nicht authentisch ist, häufen sich. Manche, wie etwa der amerikanische Irakexperte, Juan Cole, vermuten "intuitiv", dass es sich um eine Fälschung handelt, vielleicht im Dienste der psychologischen Kriegsführung. Als Urheber der geschickt lancierten Fälschung kämen seiner Ansicht nach die USA ebenso in Frage wie Iran. Sicher ist jedenfalls, dass der Brief - unabhängig von seiner fragwürdigen Authentizität - eine Debatte weiter angestoßen hat, die sich bereits seit längerer Zeit entwickelt hat und am Kern der aktuellen Strategie von Al-Qaida rührt: Selbstmordattentate, denen mehr und mehr muslimische Glaubensgenossen zum Opfer fallen.

Auch die phantomartige Al-Qaida ist abhängig von der öffentlichen Meinung, die Finanzierung und Rekrutierung der berüchtigtsten Terrororganisation der Welt steht und fällt mit dem Image der Qaida. Sinken deren Sympathiewerte auf der "arabischen Straße", dann versickert allmählich auch der Nachschub. Mit diesem Kalkül ließe sich eine wirkungsvolle Öffentlichkeits-Kampagne in der arabischen Welt gegen die Qaida stricken und der Sawahiri-Brief würde gut hineinpassen. Denn er offenbart einen internen Dissens an einem heiklen Punkt: die Rechtfertigung der unzähligen muslimischen Opfer bei den Selbstmordattentaten im Irak. Sawahiri, der hinter Bin Laden als zweiter Führungsmann der Organisation gilt und als deren ideologischer Vordenker, soll in dem mutmaßlichen Brief Sarkawi aus genau diesen Gründen kritisiert haben und zu mehr Rücksicht gegenüber den Glaubensbrüdern ermahnt haben.

Entsprechend aufgeregt waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Briefes in der letzten Woche durch US-Geheimdienste. Sogar eher zurückhaltende Kommentatoren, die auch nicht so leicht dem gängigen ideologischen Lagerschema, den der "War on Terror" geschaffen hat, zuzuordnen sind, sprachen von einem deutlichen Zeichen der Schwäche, welche die Qaida mit diesem Brief offen lege, von Konkurrenzkämpfen in der Führung, von Unstimmigkeiten, Splitter-Tendenzen und Besorgnis über das öffentliche Standing der Dschihadis.

Vehement fielen auch die Dementi der Qaida-Führung im Irak aus. So bezichtigt ein Statement, das aus der Feder von Sarkawi selbst stammen soll die Amerikaner der Fälschung:

Alles, was in dem Brief Sawahiri zugeschrieben wird, ist falsch. Wir wissen nicht, wo sie den Brief gefunden haben und wann sie ihn gefunden haben. Wir von der Al-Qaida-Organisation geben bekannt, dass die Meldung völlig unbegründet ist. Es ist eine Lüge, die aus dem militärischen Lager der Ungläubigen stammt, aus der Green Zone und dem Kommandostab der Kreuzzügler, deren Meldungen immer weit von der Wahrheit des Schlachtfeldes entfernt sind.

Touché? Hat die Propagandalüge der USA – wenn es denn eine ist – tatsächlich einen empfindlichen Punkt erwischt? Der aufgebrachte Ton schließt diese Möglichkeit zumindest nicht aus. Dass es sich bei dem Brief um eine Fälschung handelt, davon ist allerdings auch ein amerikanischer Experte überzeugt. Für Sunniten, obendrein überzeugte Salafiten, sei die Grußformel, die am Anfang des Briefes steht, ziemlich ungewöhnlich, unwahrscheinlich, so der Arabist Juan Cole gestern.

The phrase "salla Allahu `alayhi wa alihi wa sallam" (the blessings and peace of God be upon him and his family) is a Shiite form of the salutation, because of the emphasis of the Shiites on the House or descendants of the Prophet. Because of the cultural influence of Shiism in South Asia, one does find that form of the salutation in Pakistan and India among Sunni Muslims. But before I went to Pakistan I had never, ever heard a Sunni Muslim add "wa alihi" (and his family) to the salutation.

Ganz sicher ist sich allerdings auch der Sprachexperte nicht, denn in seinem Fazit meint er, dass ihm sein Bauchgefühl sage, der Brief sei eine Fälschung, wahrscheinlich eine psy-ops operation der Amerikaner. Vielleicht aber auch von Iran, da die sprachlichen Fehler möglicherweise von Schiiten gemacht würden, die vorgeben, Sunniten zu sein. Möglicherweise, so Cole, habe aber auch eine irakische schiitische Gruppe versucht, die USA zu manipulieren.

In der Argumentation des reputierten amerikanischen Orientalisten Haykel spielt die Echtheit des Briefes keine große Rolle. Spätestens seit den brutalen Anschlägen in Saudi-Arabien im letzten Jahr (vgl. Spaziergang mit 22 Toten), bei denen unschuldige Muslime ums Leben gekommen sind, habe eine interne Diskussion innerhalb der Al-Qaida-Ränge begonnen, die sich mit der Auswirkung solcher Aktionen auf die öffentliche Meinung und entsprechend auf strategische Neuanpassungen befassen würden. Sarkawis Krieg, den er gegen die Schiiten im Irak führe, würde die Diskussion und den Dissenz unter den Dschihadis nur noch weiter verschärfen, so Haykel in einem Editorial in der New York Times in der vergangenen Woche. Eine wesentliche Grundlage für das Selbstverständnis und die Existenz selbst der Al-Qaida besteht darin, dass die Organisation sich darauf beruft, für alle oder zumindest den Großteil der heiligen Krieger zu sprechen:

Aber Sarkawis Krieg gegen die Schiiten ist sehr unpopulär in einigen Kreisen seiner eigenen Bewegung. Tatsächlich unterminieren wachsende Unstimmigkeiten zwischen den Dschihadis die theologischen und legalen Rechtfertigungen für die Selbstmordattentate. Und genau darin, im sich verstärkenden Schisma der Dschihad-Bewegung, könnte eine Möglichkeit für westliche Regierungen liegen, sie zu bekämpfen.

Zu viele Muslime seien getötet worden, die via Internet und Satelliten-Fernsehen in die ganze islamische Welt verbreiteten Bilder würden die globale Unterstützung für die heilige "Sache" der selbsternannten Dschihadis aushöhlen. Da die Führung dieser Bewegung äußerst empfindlich auf die öffentliche Meinung der Muslime reagiere, rät Haykel den westlichen Regierungen dazu, die Debatte innerhalb der Dschihadis zu ermutigen und zu befördern – ohne allerdings direkt einzugreifen. Ein Rat, der zu Folgerungen führt, die quer zum gegenwärtigen Konsens vieler im Westen stehen:

Der Westen sollte sich damit zurückhalten, in dieser Debatte, die gerade an Kraft gewinnt, einzugreifen. Westliche Regierungen sollten keine Dschihadi-Webseiten schließen oder Dissidenten der Bewegung abschieben...Eher sollten sie diesen Prozess laufen lassen. Indem sie extreme Taktiken anwandten, haben die Dschihadis die Widersprüche ihrer Bewegung offen gelegt. Die Debatten über die Taktik der Selbstmordanschläge sind ein Zeichen von Schwäche und dafür, dass sich der Konsens, den Al-Qaida so sorgsam über das letzte Jahrzehnt aufgebaut hat, langsam verschleißt.

Dazu komme, dass Al-Qaida und den Dschihadis Konkurrenz in Form von politischen Reformbewegungen entstanden sei. Ihr lange Jahre währendes Monopol auf den "Anti-Regime-Diskurs" gegen arabische Regierungen sei vorbei, die Qaida müsse sich jetzt gegen Reform-Bewegungen behaupten, welche der Bevölkerung eine "produktivere Zukunftsperspektive" in Aussicht stellen.