Die Physik des Krieges

Wie lange dauert ein Krieg? Die sich aus dem Modell der Forscher ergebende Grafik zeigt den Zusammenhang zwischen Kriegsdauer und Bevölkerungs-Asymmetrie (je höher die Zahl, desto geringer ist im Prinzip der Anteil der Aufständischen). Die nach oben weisenden Pfeile zeigen derzeit noch andauernde Kriege

"Wir können berechnen, wie wahrscheinlich ein Angriff am heutigen Tag ist." Interview mit dem Physiker Neil Johnson

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Stecken in allen Aufständen gemeinsame Muster? Im Wissenschaftsmagazin Nature schlagen Forscher ein Modell vor, mit dem sich menschliche Kriegsführung und Terrorismus berechnen lassen. Sinn und Nutzen dieser Theorie beschreibt der Physiker Neil Johnson im Telepolis-Interview.

Lässt sich die Natur eines Krieges rein aus den Opferzahlen und ihrer Verteilung bestimmen?

Neil Johnson: Vielleicht etwas Hintergrund dazu. Wir begannen vor etwa zehn Jahren mit dieser Art Forschung, innerhalb eines Projekts, in dem mein Kollege Mine Spagat Daten über den 20 Jahre währenden Konflikt in Kolumbien sammelte. Dazu entwickelten wir ein sehr gründliches Verfahren, überprüften jede Zahl in mehreren Quellen. Als sich dann die Ereignisse im Irak entwickelten, wandten wir unseren Prozess darauf an. Zu unserer Überraschung fanden wir gemeinsame Muster, was die Opferzahlen bei einzelnen Gewalttaten (die wir ohne moralische Bewertung besser „Ereignisse“ nennen) betraf.

2005 haben wir dann einen Entwurf unserer Hypothese im Web veröffentlicht, dass womöglich alle Kriege ähnliche Muster aufweisen. Seitdem haben wir viele weitere Daten aus insgesamt elf Kriegen gesammelt. Neun davon folgen denselben Mustern - bestehend aus einer Potenzverteilung der Ereignisgrößen mit einem Anstieg von etwa 2,5 und einer gewissen Häufung der Angriffe. Bei diesen neun Kriegen handelt es sich stets um „„Aufständischen-Kriege“ (Insurgency Wars). Nur zwei folgen dem Muster nicht - nämlich der spanische und der amerikanische Bürgerkrieg, und das ergibt ja auch Sinn, denn da handelte es sich nicht um Aufstände. Außerdem hat eine Analyse des globalen Terrorismus genau dasselbe Muster ergeben - es handelt sich dabei also mindestens statistisch um einen „Insurgency“-Krieg, bei dem nur das Territorium nicht begrenzt ist.

Wir haben auch ein Modell entwickelt, das diese Erkenntnisse erklärt. Es besteht aus einer Ökologie von Gruppen mit unterschiedlichen Interessen. Die Aufständischen betrachten wir darin als eine Art „Suppe von Gruppen“ ohne permanente Netzwerke oder dauerhafte Führung. Unsere Schlussfolgerung ist, dass es eine allgemeine Art geben muss, in der Menschen sich in solchen Kriegen verhalten, eine Art, die nichts mit Geschichte, Politik, Ideologie, Geografie zu tun hat. Wir behaupten nicht, dass Geografie oder Ethnizität keinen Einfluss auf Konflikte hätten - wir benötigten diese Größen jedoch nicht, um unsere Daten über unser Modell zu erklären.

Um die Dynamik eines Konflikts zu verstehen, sind sie also unnötig. Unser Modell stimmt mit allen aktuell vorhandenen Daten über kriegerische Konflikte überein, steht allerdings mit traditionellen Ideen über die Entstehung von Aufständen basierend auf festen Hierarchien und Netzwerken in Konkurrenz. Gleichzeitig ergeben sich interessante Ähnlichkeiten zu heutigen Crowd-Modellen, die man für Finanzmärkte entwickelt hat. Anscheinend gibt es also Ähnlichkeiten im Verhalten des Menschen bei gewalttätigen und gewaltfreien Konflikten.

Im scheinbaren Chaos stecken grundlegende Muster

Wie lässt sich Ihr Modell benutzen, um etwas über künftige Kriege zu erfahren?

Neil Johnson: Offenbar ist die Art, wie Menschen einen Aufstand „durchführen“, stets dieselbe. So wie sich Verkehrsmuster in Tokio, London und Boston ähneln - trotz kultureller Unterschiede. Im scheinbaren Chaos stecken grundlegende Muster. Auf die Physik übertragen, beschreibt unser Modell dynamische Phänomene in dem sich entwickelnden Feld der Komplexitätsforschung in Vielkörper-Systemen im Nicht-Gleichgewicht.

Was nun Vorhersagen betrifft - schon 2005 haben wir prognostiziert, dass andere Konflikte ähnliche Züge tragen würden, wie wir sie im Irak und in Kolumbien gefunden haben. Wir können die zeitliche und größenmäßige Verteilung der Angriffe vorhersagen. Wir können berechnen, wie wahrscheinlich ein Angriff am heutigen Tag ist. Und mit Hilfe unseres Modells können wir bestimmen, wie das Ökosystem des Kriegs auf eine strategische Veränderung der äußeren Umstände reagieren wird. Was passiert zum Beispiel, wenn wir die Kommunikation der Beteiligten beschränken, indem wir etwa Handynetze abschalten?

Derzeit befassen wir uns damit, die räumliche Verteilung der Ereignisse zu analysieren. Wir betrachten auch Interventionsstrategien: Was passiert etwa, wenn wir eine neue Gruppe in die Ökologie einführen, etwa zur Nationalarmee und den Aufständischen noch eine Gruppe von Friedenstruppen? In der Immunologie entspricht das der Rolle eines blockierenden Medikaments, wenn man sich die Aufständischen als Virus und die Armee als Immunsystem vorstellt. Wie sollte man die Friedenstruppen einsetzen, wenn man die Zahl der Opfer verringern will?

Praktisch lässt sich unsere Analyse dazu nutzen, Szenarien durchzuspielen, Risiken zu berechnen und so weiter. Wir versuchen auch, das Modell auf andere Bereiche zu übertragen - mit der University of Miami Medical School ermitteln wir zum Beispiel, wie das Immunsystem mit Erregern Krieg führt. Wir glauben, wenn wir menschliche Konflikte besser verstehen und dadurch besser damit umzugehen lernen, dann nutzt das allen Beteiligten.

Ihr Modell zeigt, dass sich bei Aufständen vor allem ruhige Tage mit Tagen mit hohen Opferzahlen abwechseln - die Mitte bleibt leer.

Neil Johnson: Sie kennen das - Sie warten ewig auf den Bus, und dann kommen gleich drei hintereinander. Ähnliches vollzieht sich in den Finanzmärkten: Wenn etwas passiert, dann häufen sich die Ereignisse. Bei Aufständen scheint es sich ähnlich zu verhalten: Große Angriffe häufen sich meist in kleinen Zeiträumen.

Ihr Modell bezieht auch menschliche Faktoren wie den Wettbewerb und Medien-Berichterstattung ein. Könnte man es nutzen, um Kriege auf nicht-militärische Weise zu beeinflussen? Lassen sich aus ihrem Modell strategische Entscheidungen ableiten?

Neil Johnson: Ja, und ja. Bei unserer Analyse im Jahre 2005 sagten wir voraus, dass „Aufständischen-Kriege“ sich in gewisser Weise in eine Richtung entwickeln könnten, die Terrorismus ähnelt. Damals gab es viel Kritik von Leuten, die erwarteten, dass der Irakkrieg abrupt enden würde, wie es beim Zweiten Weltkrieg der Fall war. Der Gang der Ereignisse hat gezeigt, dass wir Recht behielten.