Die Revolution von Warschau

Vor sechzig Jahren tobte der Aufstand im Warschauer Ghetto - SS-Brigadeführer Jürgen Stroop betrachtete die Vernichtung des Ghettos offensichtlich als Höhepunkt seiner Karriere und verfasste darüber einen detaillierten Bericht

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Der Verlauf mancher Revolutionen erschwert ihre Einordnung so sehr, dass sie gar nicht als solche erkannt werden. Eine Revolution dieser Art ist der Aufstand im Warschauer Ghetto vom April/Mai 1943. Während die konventionelle Geschichtsschreibung den Aufstand als ein mehr oder weniger sinnloses, wenn auch heroisches Himmelfahrtskommando begreift, wird er von manchen linksradikalen Quellen zu einer machtvollen Aktion des Proletariats stilisiert.

Beides ist nicht ganz falsch und nicht ganz richtig. Der Aufstand war von vornherein zum Scheitern verurteilt und wurde hauptsächlich von linken jüdischen Kräften getragen, die ihre Zersplitterung in verschiedene Fraktionen zugunsten eines gemeinsamen Hauptziels überwanden. Aber weder war er sinnlos, noch kann er umstandslos in die Geschichte der sozialistischen Klassenkämpfe eingeordnet werden, schon allein deswegen nicht, weil die Warschauer Juden nicht getötet wurden, weil sie Arbeiter, sondern weil sie Juden waren.

Warum ist der Warschauer Ghettoaufstand eine Revolution, wenn das Hauptziel doch in nichts anderem bestand, als in Würde zu sterben? Immerhin geht ihm damit der allgemein für Revolutionen als kennzeichnend angesehene Siegeswille ab, genauso wie der utopische Charakter. Das Revolutionäre am Warschauer Ghettoaufstand besteht genau darin, dass er ohne jede Aussicht auf Erfolg stattfand. Die Kämpfer hielten trotz der absoluten Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens am Willen zur Negation des Bösen fest, mit dem sie konfrontiert waren. Die Botschaft an den Feind war simpel: Wir werden nicht leben, wie ihr wollt. Wir werden nicht sterben wie ihr wollt. Wir werden euch bekämpfen, solange wir können. Der Warschauer Ghettoaufstand ist die Revolution des humanen Trotzes gegen die totale Inhumanität.

Um das besser zu verstehen, ist ein Blick auf die Geschichte des Aufstands notwendig. 1941 lebten in Warschau mindestens 300.000 Juden, die Warschauer Gemeinde war die nach der New Yorker die zweitgrößte der Welt. Ende September 1943 existierte sie nicht mehr, bis auf wenige Überlebende waren die Juden Warschaus in Vernichtungslager abtransportiert oder bei den Kämpfen um das Ghetto abgeschlachtet worden. Nicht, dass es dieser Kämpfe zur Provokation der Abschlachtung bedurft hätte. Die Vernichtung der Warschauer Juden war integraler Bestandteil des NS- Ausrottungsprogramms, sie war beschlossene Sache, als das jüdische Viertel Warschaus ab März 1940 von dem Rest der Stadt aufgrund angeblicher Typhusgefahr abgeriegelt wurde. Alle Warschauer Juden wurden in dem neugeschaffenen Ghetto zusammengepfercht, so dass nun ein Drittel der Stadtbevölkerung auf 4,5% des Stadtgebiets vegetierte.

Man kann diese Institution durchaus als ein städtisches KZ, als Durchgangslager zu den Todesfabriken begreifen, die bald ihre Arbeit aufnehmen sollten. Ab dem 15. 10 1941 durfte kein Jude das Ghetto mehr ohne besondere Erlaubnis verlassen - auf die Verletzung dieser Anordnung stand der Tod.

Hitler hatte 1939 für den Fall eines neuen Weltkrieges die "restlose Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" angekündigt. Nachdem er den Krieg vom Zaun gebrochen hatte, begann Nazideutschland mit dieser Ankündigung Ernst zu machen.

Das Ghetto-KZ war teilweise "selbstverwaltet". Durch Drohungen, Gewalt und Vergünstigungen wurde in Warschau wie an vielen anderen Orten ein sogenannter Judenrat geschaffen, der den Nazis bei der Verwirklichung ihrer Ziele in die Hand arbeitete. Ein jüdischer Ordnungsdienst, ausgerüstet mit Gummiknüppeln, hatte die Anordnungen des Judenrats polizeilich durchzusetzen, der Rat wiederum erhielt seine Direktiven von der deutschen Besatzungsmacht.

Wie auch jene Anordnung vom 22.Juli 1942, die "Umsiedlung" aller Ghettobewohner betreffend, die nicht mehr in Rüstungsbetrieben gebraucht wurden. Als im August 1942 im Ghetto durchsickerte, dass diese "Umsiedlung" nichts anderes als die massenhafte Ermordung der Umgesiedelten bedeutete, verlor der Judenrat, der die Deportationen mitorganisiert hatte, jeden Rückhalt in der Bevölkerung. Im Gegenzug gründete sich im Oktober 1942 die Zydowska Organizacja Bojawa (Jüdische Kampforganisation, ZOB), die für eine Strategie des bewaffneten Widerstands gegen die Nazis eintrat.

Mittlerweile lebten im Warschauer Ghetto nur noch 60.000 Menschen, die anderen waren bereits in die Vernichtungslager, hauptsächlich Treblinka, abtransportiert worden. Die ZOB plante für den 23. Januar den Aufstand. Die Mittel, die Mordechai Anielewicz, Marek Edelman und ihren insgesamt 700 - 750 Anhängern zur Verfügung standen, waren jämmerlich: jeweils einige Dutzend Pistolen, Gewehre, Handgranaten und ein einziges Maschinengewehr.

Den Aufstandsplänen kamen die Nazitruppen zuvor, indem sie am 18. Januar 1943 in das Ghetto einmarschierten. Zur ihrer größten Überraschung trafen sie auf erbitterten Widerstand. Nach vier Tagen harter Kämpfe mussten sie sich aus dem Ghetto zurückziehen. Etwas Ungeheuerliches war geschehen: Das Schlachtvieh hatte zurückgeschlagen. Am 16.2. befahl Himmler, das Ghetto abzureißen, aber aufgrund verschiedener Unstimmigkeiten bei den Planungen zu dieser "Endlösung" im Kleinen verzögerte sich der Ausrottungsfeldzug bis zum April.

Man weiß unter anderem deswegen so gut, was dann geschah, weil der Befehlshaber der massakergeübten Truppen, die den Mordauftrag ausführen sollten, genau darüber Buch geführt hat. Jürgen (Joseph) Stroop, SS-Brigadeführer, betrachtete die Vernichtung des Warschauer Ghettos offensichtlich als Höhepunkt seiner Karriere und verfasste darüber einen Bericht von 75 Seiten ("Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!"), der auch seine täglichen Fernschreiben an den SS-Obergruppenführer Krüger in Krakau enthält. In einem beigefügten "Bildbericht" belegte er seine Ausführungen mit ausführlichem Bildmaterial, das ihn und seine Soldaten in Aktion zeigt und seine Opfer mit erhobenen Händen, in Kolonnen auf das Ende zumarschierend, oder bereits tot, am Boden liegend.

Stroop war ein Nazi der schlimmsten Sorte, fanatisch und begeistert auf die Ausführung seines Auftrags bedacht. Die Sprache seines Berichts ist von einem roboterhaften Duktus der Vernichtung gekennzeichnet; nie vergisst er die Leichenberge, die er und seine Kameraden verursachen, genau zu vermessen; seine Opfer heißen in seiner Sprache meistens "Juden und Banditen", ganz so, als ginge es bei der Mordbrennerei auch noch um Kriminalitätsbekämpfung. Weil der verzweifelte Widerstand der Warschauer Juden auch unter den Ausrottern Opfer fordert, entschließt sich Stroop dazu, den Befehl Himmlers wörtlich zu nehmen und das Ghetto durch Abbrennen und Sprengen Block für Block abzureißen. Die Bewohner, die das überleben, werden in der Mehrzahl der Fälle sofort erschossen. Manche der Aussagen Stroops klingen wie die Fieberphantasien eines Hieronymus Bosch:

Erst nachdem das Feuer einen erheblichen Umfang angenommen hatte, kamen schreiende Juden zum Vorschein, die sofort ausgesiedelt wurden.

In Massen - ganze Familien - sprangen die Juden, schon vom Feuer erfasst, aus dem Fenster oder versuchten sich durch aneinandergeknüpfte Bettlaken usw. herabzulassen. Es war Vorsorge getroffen, dass diese sowohl auch die anderen Juden sofort liquidiert wurden.Quelle

Immer wieder konnte man beobachten, daß trotz der großen Feuersnot Juden und Banditen es vorzogen, lieber wieder ins Feuer zurückzugehen, als in unsere Hände zu fallen.Quelle

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Trotz der erdrückenden Übermacht der Nazitruppen (2090 gut ausgerüstete Mitglieder der Wehrmacht, SS und Waffen-SS, und der litauischen Miliz) dauern die Kämpfe selbst dann noch an, als am 8.5. Mordechai Anielewicz fällt. Aber am 16. Mai endet die Revolution mit der von vornherein feststehenden Niederlage, Stroop krönt seine erfolgreiche "Großaktion" mit der Sprengung der Warschauer Synagoge. In seinem Bericht zieht er Bilanz:

Nur durch den ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte ist es gelungen, nachweislich 56.065 Juden zu erfassen beziehungsweise nachweislich zu vernichten.

All sein Wille zur Grausamkeit half ihm am Ende nichts. Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Tod von Mordechai Anielewicz ergibt er sich den Amerikanern, die ihn 1947 zum Tode verurteilen, weil er bei Einsätzen in Griechenland, die nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands stattfanden, amerikanische Kriegsgefangene erschießen ließ. Man vollstreckte das Todesurteil nicht, sondern überstellte ihn an die polnischen Behörden, die ihn noch einmal vor Gericht stellten, noch einmal zum Tode verurteilten und am 6.3.1952 das Urteil auch vollstreckten. Vorher reichte Stroop noch ein Gnadengesuch beim polnischen Präsidenten ein, in dem er schrieb:

Mein ganzes Lebens galt dem Dienste meines Vaterlandes und dem Wohle meiner Frau und meiner Kinder! Niemals in meinem Leben habe ich etwas getan oder unternommen in dem Bewußtsein, daß ich dafür bestraft werden könnte.

Den letzten Satz darf man ruhig wörtlich nehmen, denn Stroop baute fest darauf, (und wie man weiß, nicht ohne Grund), dass er für seine Taten nie belangt werden würde. Es ist genau diese Form der Unschuld, gegen die sich die Revolution von Warschau richtete - und gegen die sie in seinem Fall letztendlich auch siegreich war.

Auf die entscheidenden Links zu diesem Artikel bin ich in einem Text von Burkhard Schröder gestoßen.