"Die Rolle der Frau muss sich ändern"

Gespräch mit der marokkanischen und islamischen Feministin und Demokratin Nadia Yassine

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Gewöhnlich stehen Männer an der Spitze, gerade bei islamischen Organisationen. In Marokko dagegen ist es eine Frau, die die Geschicke einer der populärsten islamischen Bewegungen des Landes leitet. Nadia Yassine ist die Führerin von „Gerechtigkeit und Spiritualität“ („Adl wal Ihsan“), einer Gruppierung, der politisches Engagement verboten ist, aber unzählige soziale Projekte unterhält. Die 47-jährige Frau ist erklärte Feministin und Demokratin. Vor einem Jahr hatte sie in einem Interview mit einer marokkanischen Zeitung gesagt, dass sie eine Republik bevorzuge und die Monarchie nicht zu Marokko passen würde. Aussagen, die ihr ein Verfahren wegen Verstoßes gegen die in der Verfassung festgelegte Unantastbarkeit des Königs einbrachte. Erst vor wenigen Wochen fand dazu die zweite Anhörung statt, in der das Verfahren auf unbestimmte Zeit vertagt wurde.

Nadia Yassine ist die Tochter von Sheik Abdessalam Yassine, einem erklärten Gegner der Monarchie, der unter Hassan II. mehrfach im Gefängnis saß und danach unter Hausarrest stand. Im Mai 2000 wurde Yassine nach 11 Jahren vom neuen König Mohammed VI. aus dem Hausarrest entlassen. Der Sheik ist der spirituelle Mentor seiner Tochter und der gesamten Bewegung.

Nadia Yassine. Foto: A. Hackensberger

Über die Rolle des Vaters von Nadia Yassine scheiden sich die Geister. Kritiker aller Couleur, ob Säkularisten oder Islamisten, behaupten, dass man an Sheik Yassine die „wahre Natur“ der Bewegung erkennen könne. Unter einem „Kalifen“ Abdessalam Yassine, der die iranische Revolution von 1979 lobte, gäbe es kein demokratisches Parteisystem, Alkohol würde verboten und den Frauen das Kopftuch aufgezwungen. Verwiesen wird dabei auch auf die im Jahr 2000 durchgeführte Kampagne der Bewegung, als sie erfolglos die Einführung der Geschlechtertrennung an den Badestränden Marokkos forderten. Mit all den Freiheiten, die Marokko zum liberalsten Land der arabischen Welt machen, wäre es mit der „Machtergreifung“ der Bewegung „Gerechtigkeit und Spiritualität“ vorbei. Behauptungen, von denen Nadia Yassine beim Interview in ihrer Wohnung in Rabat nichts wissen möchte.

Die Menschen von Marokko haben ein Recht auf Demokratie

Die Washington Post schrieb, dass Sie für die Einführung einer strikten islamischen Rechtsordnung sind, den Frauen das Kopftuch aufzwingen wollen und das neue Familiengesetz in Marokko nur deshalb ablehnen, weil es zu liberal ist. Ist das die Wahrheit?

Nadia Yassine: Das sind einfach Klischees, die unserem komplexen Denken nicht im Geringsten gerecht werden. Man hat da wohl etwas verwechselt mit unserer strikten, unnachgiebigen Haltung gegenüber der bestehenden Macht in Marokko. Unsere Praxis des Islams ist eine der moderatesten, die man sich nur vorstellen kann. Ich kann Ihnen versichern, dass ich sofort und mein ganzes Leben lang dagegen kämpfen würde, wollte man das Kopftuch allen Frauen in Marokko aufzwingen. Glaube und Religion sind eine Frage der freien Wahl und nicht des Zwangs.

Jeder sollte Ihrer Meinung nach also frei wählen, was er möchte und nicht möchte?

Nadia Yassine: Ja, das ist mein Verständnis von Islam. Es ist eine Wahl, eine spirituelle Wahl. Derartige Urteile wie in der Washington Post sind das Resultat ungenügender Information. In ungefähr 30 Artikeln hätte der Reporter Gegenteiliges nachlesen können. Ich habe den Journalisten der Washington Post nett empfangen, aber was kann man schon machen.

Das neue marokkanische Familiengesetz, die „Modawana“, wird als ein historischer Schritt in der arabischen Welt in Richtung Gleichberechtigung der Frau gepriesen. Sind Sie nun dafür oder dagegen?

Nadia Yassine: Wir sind bereits vor sechs Jahren für eine Änderung der „Modawana“ auf die Straße gegangen, denn für uns ist schon längst klar, die Rolle der Frau muss sich ändern. In unserer Bewegung gibt es viele Frauen, die Projekte und Institutionen leiten. Und nehmen Sie mich, ich bin die Sprecherin unserer Bewegung. Wir sind für Veränderungen, aber die Ideen dazu, muss man nicht aus dem imperialistischen Westen importieren.

Das System ist blockiert

Ist das neue Gesetz nun gut oder schlecht in Ihren Augen?

Nadia Yassine: Natürlich ist es gut und wichtig, keine Frage. Aber ich will es Ihnen unsere Haltung auf andere Art deutlich machen. Wenn der „Mahzen“ (Machtgeflecht im marokkanischen Staat) nicht sicher gewesen wäre, dass wir das neue Gesetz befürworten, hätte er es nicht durchgesetzt. Wir haben deutliche Zeichen gegeben, dass wir einverstanden sind. Aber das Gesetz ist bei weitem nicht genug und geht auch an der Realität Marokkos vorbei. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel. Auf dem Lande gibt es jetzt viele „schwarze Ehen“ ohne Papiere. Man heiratet dort eben wie gewohnt unter 18 Jahre, selbst wenn das jetzt durch das neue Gesetz verboten ist.

Was sollte also anders gemacht werden?

Nadia Yassine: Es ist ganz schön, wenn man der Frau sagt: Jetzt bist du frei. Was ist aber mit der Arbeitslosigkeit, die es den Frauen unmöglich macht, unabhängig zu sein. Ökonomische Veränderungen sind nicht das Einzige, was wir brauchen. In allen Bereichen der Gesellschaft muss es Umstrukturierungen geben. Nur dann kann man wirklich etwas Positives erreichen. Sonst bleibt alles nur Stückwerk.

Sie wollen alles ganz gar verändern. Das ist wohl ein unmögliches Unterfangen.

Nadia Yassine: So unmöglich wäre das nicht. Das System ist blockiert von der gegenwärtigen Konstitution.

Sie meinen die Verfassung der konstitutionellen Monarchie?

Nadia Yassine: Ja, sobald sie geändert wird, gibt es ökonomischen und sozialen Fortschritt. Man kann nicht einzelne Probleme losgelöst vom großen Ganzen sehen: Hier die Frauen, da die Wirtschaft oder die Erziehung. Alles ist ein System, das nur durch die Änderung der Konstitution in Bewegung kommen kann.

Weg mit der Monarchie und Sie übernehmen die Macht und alle Probleme sind gelöst?

Nadia Yassine: Nein, so einfach ist das alles nicht. Wir wollen nicht die Macht übernehmen. Dieses Erbe wäre viel zu schwer alleine zu tragen. Wir müssen mit allen politischen Parteien, allen anderen gesellschaftlichen Kräften zusammen. Wir brauchen einander und können nur gemeinsam die schwierigen Probleme unseres Landes lösen. Und das geht nur über Demokratie, freie Wahlen, Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung, eine unabhängige Judikative. Die Menschen von Marokko haben ein Recht auf Demokratie. Aber zuerst müssten alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenarbeiten, um die Konstitution zu ändern.

Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten kommt meinen Vorstellungen sehr nahe

Das glauben Ihnen nicht viele.

Nadia Yassine: Ich weiß genau, Sie möchten nur hören, dass wir eine iranische Republik wollen und allen Frauen das Kopftuch aufzwingen.

Nein, da täuschen Sie sich. Sie würden also nicht alle Nachtclubs und Bars schließen?

Nadia Yassine: Nein, Verbote bringen gar nichts. Eine Prohibition von Alkohol ist unsinnig. Man hat das in den USA gesehen, das Verbot von Alkohol brachte nur Probleme. Mit Zwang erreicht man nie etwas. Mit Demokratie und Erziehung dagegen viel mehr. Es ist besser, die Menschen davon zu überzeugen, dass es besser ist, keinen Alkohol zu trinken und keine Nachtclubs zu besuchen.

Und wenn die Erziehung nicht den gewünschten Erfolg bringt?

Nadia Yassine: Das muss man erst sehen, aber das wäre auch nicht so schlimm. Ich möchte einfach eine gerechte Gesellschaft, wo der Mensch im Mittelpunkt steht.

Gibt es ein Ideal dafür? Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten Mohammeds vielleicht, zurück in die Vergangenheit?

Nadia Yassine: Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten kommt meinen Vorstellungen sehr nahe. Aber ich finde das Schweizer Modell sehr interessant. Ist jedoch gefährlich, weil wir in Marokko keine demokratische Kultur haben. Wir müssen das erst entwickeln. Wie gesagt gemeinsam mit allen anderen gesellschaftlichen Gruppen.

Sie haben vorher den „Mahzen“ erwähnt. Ist dieses komplizierte Machgeflecht rund um den Königsplast nicht mit dem Tod Hassan II. ein großes Stück verschwunden? Wer hat denn heute die Macht in Marokko?

Nadia Yassine: Ich natürlich, wer sonst. (Lachend)

Sie und ihre Bewegung haben tatsächlich großen Einfluss.

Nadia Yassine: Das Problem ist, dass wir heute nicht mehr genau wissen, wer die Macht hat.

Nicht der König?

Nadia Yassine: Der ein bisschen vielleicht. Es ist ein System, das herrscht und waltet.

Also doch der Mahzen?

Nadia Yassine: Ja, der Mahzen.

Wer ist das?

Nadia Yassine: Es ist eine Oligarchie aus Militär, Adel, Finanzwelt und Personen aus dem direkten Umkreis des Königs, der symbolischen Macht.

Nadia Yassine. Foto: A. Hackensberger

Wir sind eine Militärbasis der USA

Wie groß ist der Einfluss der USA?

Nadia Yassine: Wir sind eine Militärbasis der USA.

Die USA bestimmen die Politik Marokkos?

Nadia Yassine: Die USA bestimmen die Politik des gesamten Mittleren Ostens, nicht nur die von Marokko. Wie gesagt, wir sind eine amerikanische Militärbasis, das ist doch allgemein bekannt.

Es gab Nachrichtenmeldungen, die besagten, dass Gefangene des CIA in Marokko eingesperrt sind?

Nadia Yassine: Nein, darüber habe ich keine Informationen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ganz Marokko ein Gefängnis ist.

Wenn Marokko ein Gefängnis sein soll, was sagen Sie dann von Saudi-Arabien?

Nadia Yassine: Da ist es noch schlimmer, ich weiß. Man sollte sich meiner Meinung nach immer am Bestmöglichen ausrichten, nicht im Vergleich mit anderen. Das macht man nämlich in Marokko sehr gerne, um sich besser zu fühlen. Seht doch in andere arabische Länder, das sind Diktaturen. Dort gibt es nicht so viele Freiheiten wie bei uns.

Nehmen Sie an den Parlamentswahlen 2007 teil?

Nadia Yassine: Nein, unter den gegebenen Bedingungen haben wir kein Interesse an Wahlen. Das ist nur ein Hollywood-Spektakel.

Ihre Bewegung würde sicherlich viele Sitze im Parlament gewinnen, wenn sie an den Wahlen teilnähmen.

Nadia Yassine: Das wäre ganz sicherlich so, aber zurzeit interessiert uns das nicht. Eine Mehrheitspartei können wir auch noch später werden und dann für Stabilität garantieren.

Wie wird es nun mit Ihrer Gerichtsverhandlung weitergehen? Man kann es eigentlich nicht glauben, dass der König ein Interesse daran hat, Sie zu verurteilen?

Nadia Yassine: Wer hat mich denn dann vor Gericht gebracht?

Sie sagten doch selbst, es ist ein System.

Nadia Yassine: Der König hat keine Zeit, sich mit mir abzugeben. Der ist viel zu sehr mit seinen Jetski beschäftigt. Aber da ist natürlich ein System, von dem ich nicht weiß, wie es genau funktioniert. Ich weiß nur, dass ich vor Gericht war, das Verfahren läuft und ich muss noch einmal vor Gericht erscheinen. Wer dahinter steckt, ist mir letztendlich egal.

Sie vor Gericht zustellen, ist eigentlich nicht sehr klug.

Nadia Yassine: Ja, das ist eine Dummheit. Aber das liegt in der Natur der Sache. Das alte System kann sich nur sehr schwer an moderne Zeiten gewöhnen.

Was denken Sie, wird nun bei Ihrem Gerichtsverfahren herauskommen?

Nadia Yassine: Ich glaube, da wird nichts dabei herauskommen. Das wird verschoben und verschoben. Das ist nur eine kleine Machtprobe, um zu zeigen: Wir sind hier und haben die Macht alles zu tun, wenn es darauf ankommt.

Angeblich hat sich die amerikanische Regierung, die amerikanische Botschaft in Rabat für Sie eingesetzt. Ohne Hilfe geht es beim nächsten Mal vielleicht ins Gefängnis.

Nadia Yassine: Das kann gut möglich sein. Die Slogans der USA sprechen von Demokratie im Mittleren Osten, von Liberalismus und Entwicklung. Ich denke auch, dass sie mir geholfen haben. Nicht wegen meiner schönen Augen, sondern wegen ihrer politischen Interessen.

Hatten Sie Kontakt mit der amerikanischen Botschaft?

Nadia Yassine: Nein, nein. Ich habe mit der amerikanischen Botschaft nichts zu schaffen.

Der Islam könnte unsere Probleme lösen

Das letzte Jahrhundert war gekennzeichnet durch eine ganze Reihe von Ideologien, die versucht haben, dem Menschen ein besseres Leben zu bescheren. Allerdings sind alle gescheitert, zuletzt der Sozialismus. Ist der Islam nun die allerletzte Lösung?

Nadia Yassine: Der Islam war schon da, lange bevor es Sozialismus, Kommunismus oder Nationalismus gab. Islam existiert seit vielen Jahrhunderten und in Krisensituationen kam man immer wieder darauf zurück. Tatsächlich könnte der Islam unsere sozialen Probleme lösen. Er ist kein magischer Schlüssel, er könnte ein Instrument sein, das vereinigt, das eine bestimmte Kraft gibt, Dinge zu verändern.

Was zur Zeit zwischen Osten und Westen passiert, nennen manche den „Kampf der Kulturen“ andere einen Nord-Süd-Konflikt. Politik oder Religion?

Nadia Yassine: Natürlich geht es um Politik. Was in der muslimischen Welt passiert, hat direkten Bezug zum US-amerikanischen Imperialismus, den nicht unsere Religion, sondern unsere Ressourcen, unser Öl interessiert. Es geht ganz sicher nicht um den Kampf der Kulturen, um unterschiedliche Ideologien, um Gläubige und Ungläubige. Wir leben in einer Periode eines neuen Kolonialismus, was heute die Suche nach neuen Märkten genannt wird. Öl ist ein Fluch für einige Länder, die mehrheitlich muslimisch sind. Es ist ein antiimperialistischer Kampf gegen Neokolonialismus. Da spielt es keine Rolle, ob man Moslem oder Christ ist, es ist ein universelles Problem.

Dem Westen geht es bei der arabischen Welt nur ums Öl?

Nadia Yassine: Ja, dort ist die Energie, die benötigt wird. Die USA vernichtet alle, die gegen sie sind. Denken Sie nur an Südamerika, an Grenada, Chile, Venezuela, El Salvador, Nicaragua und viele andere Staaten und Länder. Wir sind nun die Erben dieser Opfer des US-Imperialismus und zufälligerweise sind wir Muslime, deren Identität es erlaubt, Widerstand zu leisten. Das hat alles nichts mit dem „Kampf der Kulturen“ zu tun. Ach, immer diese Klischees.

Imperialismus und Kolonialismus sind selbst Schlagwörter. Konkret, was ist für Sie an der westlichen Politik so verwerflich?

Nadia Yassine: Ich denke Imperialismus basiert auf dem Wunsch ökonomischer Vorherrschaft, auf einer materialistischen Philosophie, diesen vulgären Darwinismus, der Stärkste muss gewinnen. Wir wollen Brücken zwischen Nord und Süd über die Zivilgesellschaft schlagen. Armut ist heute nicht mehr nur ein Phänomen des Südens, Armut gibt es auch im Norden. Wenn es so weiter geht mit dem Gesetz des Dschungels, dann enden wir in der Zukunft in einem universellen Kampf von Arm gegen Reich.

Und bei diesem universellen Kampf ist Islam das Zeichen des Erwachens, das Tor zu einer besseren, neuen Welt?

Nadia Yassine: Wie in der ganzen Welt haben auch die Menschen in den arabischen Ländern eine ernsthafte Identitätskrise. Die Menschen der ganzen Welt sollen am besten eine Identität haben. Leider funktioniert das nicht so, nicht einmal im „globalen Dorf“. Es ist ganz normal und völlig legitim, dass die Menschen in arabischen Ländern zu ihren Wurzeln zurückkehren und das ist nun einmal der Islam.

Nadia Yassine. Foto: A. Hackensberger

Islam ist für uns ein spiritueller Zustand, der nichts mit dem herrschenden Materialismus gemein hat

Gibt es eine islamische Ökonomie, die ein Gegenentwurf zum Kapitalismus ist und die Welt zu einem besseren Platz für alle Menschen macht?

Nadia Yassine: Ich denke Islam ist umfassender als alle anderen Ideologien. Islam ist ein Weg des Seins. Islam ist für uns, da wir auch Sufi sind, ein spiritueller Zustand, der nichts mit dem herrschenden Materialismus gemein hat. Ganz am Anfang des Islams herrschte ein einfacher Handelskapitalismus mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Eine Wirtschaftsordnung, die mit heute nicht im Geringsten vergleichbar ist, wo ein wilder Liberalismus eine hyperreichen Elite auf der einen Seite und auf der anderen Massen von Armen geschaffen hat. Wir sind nicht vollkommen gegen Kapitalismus, aber Islam kann ihm eine menschliche, gerechte Dimension geben.

Sie haben von Sufi und Spiritualität gesprochen. Von Sufismus gibt es unzählige Varianten.

Nadia Yassine: Ja, da haben Sie Recht. Wir sprechen von Sufismus in einem globalen Sinn. Im Falle meines Vaters ist es „Tariqa“ („Weg“). Aber wir wollen wirklich keine Sufi-Tradition immer und immer wieder bis in die Unendlichkeit wiederholen. Wir brauchen kein fest gefügtes, unveränderliches Modell, sondern Bewegung. Islam braucht den „Idschtihad“ auf allen Ebenen.

„Idschtihad“ meint eine Anpassung oder auch Modifizierung von islamischen Gesetzen gemäß sich den ständig verändernden Lebensbedingungen.

Nadia Yassine: Flexibilität statt Stillstand würde ich sagen. Wir praktizieren „Idschtihad“ und Sufismus, um uns als spirituelle Menschen zu definieren.

Was machen Sie denn konkret, wenn Sie Sufismus praktizieren?

Nadia Yassine: Wir ziehen uns zum Beispiel 40 Tage vollkommen zurück, wie in ein Kloster könnte man sagen. Wir lesen den Koran, fasten, schweigen, ganz normale Bestandteile einer Sufi-Praxis. Alle Mitglieder müssen ein derartiges Sufi-Training absolvieren.

Kommt es da auch zu diesen Träumen, wie sie Ihr Vater hat, diesen Visionen? 2006 soll seiner Voraussage nach ein ganz besonders Jahr werden.

Nadia Yassine: Da gehört zu unserer mystischen Seite, zu unserer Sufi-Tradition, die wir eigentlich für uns behalten. Woher haben Sie das denn?

Man hat es mir erzählt.

Nadia Yassine: Ja, wir hatten einige Visionen, die besagten, dass 2006 ein ganz spezielles Jahr wird.

Was passiert nun, die ersten vier Monate sind bereits vorbei?

Nadia Yassine: Es wird ein positives Jahr für Marokko werden. Etwas beginnt und etwas geht zu Ende.

Das klingt aber nicht gerade sehr aufregend, muss ich sagen. Haben Sie auch Visionen?

Nadia Yassine: Ja, natürlich, ich bin Muslim. Ich glaube an eine versteckte Dimension und Visionen.

Visionen und Prophezeiungen haben mit dem Islam eigentlich wenig zu tun. Sie kommen aus einer Zeit, lange bevor es den Islam gab.

Nadia Yassine: Es geht um eine universelle Spiritualität. Die Traumdimension wurde sogar auch im Westen angenommen. Freud hat daraus eine Wissenschaft gemacht, aber das ist eine andere Sache. Diese spirituelle Dimension teilen wir mit anderen Religionen. Allerdings legen wir nicht die Hände in den Schoß und warten, bis der Himmel uns auf den Kopf fällt. Wir arbeiten hart, um etwas zu erreichen.

Gibt es eine Beziehung zwischen Spiritualität und Ihrem Pazifismus?

Nadia Yassine: Spiritualität ist ein bewährtes Gegenmittel gegen jeden Anflug von Gewalt. Wer in einer pazifistischen Bewegung kämpft, braucht eiserne Nerven, ein großes Herz, mit dem man alle Menschen lieben kann und jede Menge Geduld, die uns davon abhält, Bomben zu legen. Wir trainieren dafür täglich.

Wieso brauchen Sie so viel Geduld?

Nadia Yassine: Ich werde ständig beobachtet, wohin ich gehe, wen ich treffe. Die Polizei kann jeden Augenblick vor der Tür stehen. Da braucht man Kraft, aber auch besonders viel Geduld.

Zurzeit können Sie aber fahren und reisen wohin sie wollen oder gibt es wieder Beschränkungen?

Nadia Yassine: Ehrlich gesagt, weiß ich es erst, wenn ich am Flughafen stehe oder die Fähre nach Spanien besteigen will. Einmal durfte ich das Land zwar nicht mit dem Flugzeug, aber mit dem Schiff verlassen. Vielleicht muss ich mich beim nächsten Mal auf ein Kamel setzen.

Wir stellen die muslimische Geschichte in Frage

Sie haben einmal gesagt, „Männer und Frauen müssen Autoren ihrer eigenen Geschichte sein und dürfen nicht mehr wie Rinder hin und her getrieben werden“. Mit solchen Sätzen, die fast klassenkämpferisch wirken, müssen Sie sich eigentlich nicht wundern, wenn Sie in die Schusslinie der Behörden kommen. Das würde Ihnen in vielen anderen Ländern auch passieren, nicht nur in Marokko.

Nadia Yassine: Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber aus „his-tory“ sollte man „her-story“ machen. Den Satz, den Sie zitieren, habe ich benutzt, als ich über das Thema „Frauen und Islam“ sprach. Frauen sollten Geschichte machen, in die eigene Hand nehmen, für ihr Schicksal verantwortlich sein. Ich weiß, solche Freiheitsbotschaften werden nirgends gerne gehört. Ich bin aber bereit, für meine Aussagen ins Gefängnis zu gehen.

Die Geschichte des Islams war immer eine Geschichte von Männern. Das soll nun geändert werden?

Nadia Yassine: Ja, wir stellen die muslimische Geschichte infrage. Darum haben wir auch Probleme mit der Macht. Für Frauen ist es eine Pflicht an diesem „Idschtihad“ mitzuwirken. Die Geschichte noch einmal mit den Augen einer Frau lesen, Texte neu interpretieren, denn Frauen können einige Dinge besser als Männer erkennen. Dazu muss eine ganze Generation von Frauen ausgebildet werden, sie müssen auf die Schule, auf Universität gehen und entsprechende Abschlüsse machen.

Hatten Sie Probleme, weil Sie ein Frau sind? Hat man Sie nicht ernst genommen?

Nadia Yassine: Ja, natürlich. Ich brauchte zuerst die Unterstützung meines Vaters, der einfach wunderbarer ist und keinen Unterschied zwischen Mann und Frau macht. Er glaubt, dass es keinen richtigen Islam, kein ernstzunehmendes gesellschaftliches Projekt ohne die aktive Beteiligung von Frauen geben kann. Anfangs gab es viele Probleme, da wir in einer Macho-Gesellschaft leben. Mittlerweile sind Frauen fester Bestandteil der Bewegung, engagiert und überall respektiert. Ich hoffe, das wird einmal in der ganzen muslimischen Welt so sein.

Ohne Ihren berühmten Vater wäre Nadia Yassine als Frau nicht weit gekommen in der marokkanischen Gesellschaft.

Nadia Yassine: Da haben Sie ganz Recht. Da wäre ich wohl ein Nichts und Niemand. Auf alle Fälle nicht so bekannt wie jetzt. Ich glaube an das Schicksal, denn Gott macht gute Dinge. Mein Vater ist mein spiritueller Lehrer.