Die Rückkehr der Gewalt

Filmfestival Cannes: Wenn das Kino der Seismograph westlicher Gesellschaften ist, dann stehen uns unangenehme Zeiten bevor

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Ein Vater, der sein Kind verkauft. Mit "L'Enfant", einem ebenso emotional zwingenden, wie in seinem "cinema verité"-Stil bestechenden, nur scheinbar "kleinen", Drama um einen jungen Obdachlosen, der zuerst aus Liebe einen schweren Fehler begeht, und ihn dann, ebenfalls aus Liebe, wieder gut zu machen sucht, gewinnt das belgische Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne die Goldene Palme beim Filmfestival von Cannes, das am Wochenende zuende ging. "L'Enfant" ist ein spannender, aufwühlender und virtuos inszenierter Film - trotzdem eine Auszeichnung, die das eigentliche Thema vieler Filme an der Croisette ignoriert: Die Rückkehr der Gewalt in die Mitte der westlichen Gesellschaften.

"L'Enfant"

Es ist der Blick, der bedrohlich wirkt. Von wem er stammt, ist nicht klar. Vielleicht ist es sogar Gott selbst, der eine Familie erbarmungslos ins Visier nimmt, vielleicht ein Algerier, der sich an ihnen für eine frühe Demütigung rächen will, vielleicht irgendjemand anderes. Dass die Ursache all der Ungemach, die Georges und seine Familie ereilt, eigentlich egal ist, gehört zu den größten Leistungen von Michael Hanekes faszinierendem Psychothriller "Caché", der obschon lange als Wettbewerbsfavorit gehandelt, mit dem Preis für die beste Regie am Ende eigentlich ein bisschen unter Wert abgespeist wurde.

Der Film beginnt mit einer minutenlangen Einstellung, auf der nur ein Hauseingang zu sehen ist - dies entpuppt sich bald als der unbarmherzige Blick einer Überwachungskamera. Ein Pariser Intellektuellenpaar erhält anonyme Botschaften. Videobänder, die zeigen, dass sie von irgendwem überwacht werden, Bilder, die wie Kinderzeichnungen aussehen, und gewalttätige Inhalte haben. Mit seismographischer Konsequenz registriert Haneke die wachsende Hysterie zwischen dem Paar, das Zerrinnen des Sicherheitsgefühls - bis die Nerven blank liegen. Erst kommt die Sicherheit, dann die Freiheit.

Zugleich ist "Caché" höchst doppelbödig. "Versteckt" ist nämlich nicht nur die Überwachungskamera des unbekannten Absenders. Versteckt sind auch die Geheimnisse der Familie, die nun aus der Dunkelheit des Vergessens hervorgezerrt werden. Hanekes moralischer Thriller dreht sich um das Schuldgefühl, das auch entsteht, wenn man nicht schuldig ist, um die Rückkehr der Repression - unter dem Mantel der "Sicherheit" - in die Gesellschaften des Westens und um den Umgang mit schwierigen Erinnerungen.

"Caché"

Der "molekuläre Bürgerkrieg"

Vor Jahren schrieb Hans Magnus Enzensberger einen latent apokalyptischen Text unter dem Titel "Aussichten auf den Bürgerkrieg". In den Gesellschaften des Westens, diagnostizierte Enzensberger, habe der "molekuläre Bürgerkrieg" schon langst begonnen. Dass auch Haneke ein Apokalyptiker ist, sollte spätestens seit seinem vorherigen Film "Wolfzeit" klar sein. Entsprechend zeigt er auch hier wieder eine irrationale Bedrohung, einen Atavismus inmitten der Zivilisation. Denn mag man sich auch darüber mokieren, wenn jetzt beispielsweise in Großbritannien gegen die "Kultur der Respektlosigkeit" (vgl. Isolationszellen für Schüler) vorgegangen wird, so vergeht einem doch das Lachen in einigen Situationen, in denen Haneke diese Respektlosigkeit inszeniert - beispielsweise ein Streit mit einem Radfahrer, der an die Grenze einer Schlägerei eskaliert, weil der, der im Unrecht ist, mit Bedrohung antwortet.

Eine Situation, die strukturell vielen Großstädtern vertraut sein dürfte. und doch prägt Hanekes Film natürlich auch ein zutiefst bürgerlicher Blick, geprägt von der Betrachtungsweise - und der Kultur der Angst - der oberen Mittelklasse des Westens. Universal wird "Caché" dort, wo er zeigt, was am Ende bleibt: Furcht und Eigennutz, Trost spendet nur der Schlaf. Ein aufregender Film, dessen Regisseur dem Zuschauer alle leichten Auswege verbaut.

Die Normalität basiert auf der Bluttat der Ursünde

Auch andere Filme beschrieben ähnliche Phänomene. Der abgründige "A History of Violence", in der Darstellung die stärkere Zumutung, vom Kanadier David Cronenberg, erzählt von einer durchschnittlichen amerikanischen Familie, die friedlich im Middlewest ihren american dream lebt. Tom Stall betreibt ein Café. Bei einem Überfall tötet er die gewalttätigen Räuber, und wird zum Medien-Held des Tages. Doch plötzlich tauchen bedrohliche Fremde auf, die behaupten, ihn zu kennen. Er heiße gar nicht Tom Stall. Lange bleibt alles im Unklaren, dann begreift man: Hier wollte ein Mafiakiller ein neues Leben beginnen, doch wird er nun vom alten eingeholt. Um wieder gewaltfrei leben zu können, muss er töten, am Ende sogar die Ursünde des Brudermords begehen; die Normalität basiert auf der Bluttat. Ähnlich wie bei Haneke beginnt alles im Herzen der Normalität. Dann rutscht die Handlung unmerklich ins Abnormale. "A History of Violence" zeigt das Universale der Gewalt, und erlaubt sich doch einige harte Seitenhiebe auf die Gewaltkultur der USA.

"A History of Violence"

Der 59jährige Tommy Lee Jones erzählt in seinem Regiedebüt "The Three Burial of Melquiades estrada" zunächst im Stil eines John-Sayles-Films von der Ödnis der texanischen Provinz und amerikanischen Border-Patrol-Soldaten. Einer von ihnen schließt auf illegale Einwanderer wie auf Kaninchen. Als einer von ihnen getötet wird, und die Obrigkeit alles vertuschen will, kidnapped der beste Freund des Opfers dessen Mörder und zwingt ihn auf eine Reise nach Mexiko, die für diesen zur Katharsis wird. Weil der Mörder weißgott unsympathisch ist, sympathisiert der Zuschauer mit dem latenten Sadismus seines Kidnappers, der auch der des Films ist - der Betrachter geniesst den Schmerz, der dem Bösen zugefügt wird. Er hat ihn schließlich verdient. Beide Filme scheinen sich also einig, dass es aus der Spirale der Gewalt kein Entkommen gibt - selbst die Erlösung hat sie zur Voraussetzung.

Ähnliches zeigt auch der Hongkong-Chinese Johnnie To. "Election" handelt von einer demokratischen Wahl - unter Mafiabossen. Sie wird mit allen Regeln der Machtkunst, also der Gewalt ausgetragen, und doch fällt den ganzen Film über kein Schuß - eine überraschende Pointe für diesen durch seine eleganten Gangstermovies bekannt gewordenen Regisseur. Bittere Rivalität ist bei alldem gebändigt durch Formen des Umgangs: Disziplin und Tradition halten die Gangstergesellschaft zusammen. "nur die Unterfahrenen unter den Triaden, so To, wenden physische Gewalt an." Und To scheint seinen Film in ein Ende münden zu lassen, das im Hohelied auf Ehre und Machoversöhnung Gesellschaft und Gangsterwelt parallelisiert - doch dann kommt die hobbesianische Wendung: Die Gewalt kehrt zurück, der siegreiche Boss versteht, dass er den unterlegenen Rivalen nicht einbinden kann, sondern umbringen muss, will er seine gewonnene Macht auch erhalten. Ein Teufelskreis.

"Alice in Wonderland" trifft das Showbiz

Hoffnung, dass dieser sich durchbrechen ließe, hält allenfalls Atom Egoyan parat. Sein Film mit dem schön doppelbödigen Titel "Where the Truth Lies" ist eine Zeitreise in die schöne bunte Zeit der TV-Unterhaltung zwischen den späten 50er und den frühen 70er-Jahren. Zugleich ein typischer Egoyan-Film mit verschiedenen Erzählebenen und Zeitsprüngen verschachtelt und so hinreißend unübersichtlich wie die Herkunft des von ägyptischen Armeniern abstammenden Kanadiers. Identität, die Frage, was die Wahrheit eines Lebens ausmacht, ist Egoyans großes Thema. Diesmal geht es um das Geheimnis hinter der Karriere und der überraschenden Trennung eines erfolgreichen Duos von Standup-Comedians. Doch die Show ist verlogen. Hinter den Kulissen gibt es nur drei Formen der Fanbeziehung: Sie schlafen mit ihnen, schlagen sie zusammen, und in jedem Fall beuten sie sie aus. Sex und Gewalt liegen unter der Oberfläche des Showbiz.

"Where the Truth Lies"

Irgendwann findet man die nackte Leiche einer jungen Frau im Bad ihrer Hotelsuite. Nichts schienen sie damit zu tun zu haben, doch die junge Journalistin Karen kommt der Wahrheit auf die Spur. Die Wahrheit liegt hinter den Spiegeln: "Alice in Wonderland" trifft das Showbiz: Eine Detektivgeschichte zwischen Sein und Schein, mit viel nostalgischem Touch - und hervorragend gespielt: Kevin Bacon und Colin Firth sind das Komikerduo, die Überraschung aber ist die 25jährige Alison Lohman, die mit diesem Auftritt ihren Ruf als einer der zukünftigen großen Stars des Hollywoodfilms untermauert. Am Ende scheint immerhin der Tod der Sünde so etwas wie Erlösung zu bringen. Alice entsteigt dem Rabbithole.

Gewaltlust und Sextabu

"Sin City"

Was an Egoyan gefällt, ist dass er ebenso wie zuvor Cronenberg, den puritanischen Konsens durchbricht, der sogar "Sin City" vom Katholiken Robert Rodriguez prägt: Jede Gewalt ist zulässig, darf gezeigt werden, aber Sex ist verboten, noch der Busen der Hauptdarstellerin ein Tabu. Während der Sex aus den Gesellschaften des Westens herausgedrängt wird, und wo Filmkünstler - sofern sich nicht Amerikaner sind -, mit dem Puritanismus eines Kunstwillens, der "Konzentration" einfordert und gezeigten Sex als Ablenkung vom ästhetischen Gottesdienst begreift, auf derartige Darstellungen verzichten, gilt: Gewalt ist immer und überall. Nicht nur im Kino. Wenn aber zutrifft - und alles spricht dafür-, dass das Kino das privilegierte Medium der Selbstverständigung und Seismograph westlicher Gesellschaften ist, dann stehen uns unangenehme Zeiten bevor.