Die Sadr-Sicht der Dinge

"Das waren nicht meine Männer": Schiitenführer Muktada as-Sadr zum Video von der Hinrichtung Saddam Husseins, zur Kampagne gegen ihn und zu einer baldigen Wiederkehr von Allawi

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Eine Nebenerscheinung des Krieges im Irak ist die Legendenbildung, die bestimmte Personen betrifft. Erinnert sei hier nur an Sarkawi, dem von den US-Truppen getöteten Al-Qaida-Führer im Irak. Das Bild des Der Z-Mann wurde „bigger than life“, was daran Fakt war und was bloße Erfindung, war in den Erzählungen über das seinerzeit meist gejagte Phantom im Irak kaum mehr auseinanderzuhalten.

Ähnlich ist es derzeit mit einer anderen Ikone des Irak bestellt: Muktada as-Sadr. Spätestens seit „Muktada“-Rufe bei der Exekution von Saddam Hussein in einem finsteren Keller über Video in die ganze Welt hinausschallten, steht Muktada as-Sadr für das Böse im Land: für Lynchjustiz, Todesschwadronen und den übermächtigen Einfluss Irans auf den Irak.

Die Vereinfachung von schwer durchschaubaren, politischen Zusammenhängen durch Personalisierung ist ein gängiges Konzept in der Medienberichterstattung. Schon einmal, 2004 (vgl. Showdown im "Tal des Friedens"), wurde der vehemente Kritiker der US-Besatzung, der Anführer der al-Mahdi-Miliz Muktada as-Sadr, zum Hauptfeind der amerikanischen Armee im Irak stilisiert.

Von einem triumphalen Sieg gegen ihn und der Entwaffnung seiner Miliz versprach man sich große Fortschritte. Möglich, dass die Entwaffnung tatsächlich einiges zum Besseren gewendet hätte, aber das ist bloße Spekulation.

Sie gelang nicht; der Stehaufmann Muktada schaffte schließlich gar den Schritt auf die politische Bühne des Landes und reklamierte für sich eine Position, die von offiziellen irakischen Vertretern kaum eingenommen wird und von den USA kaum wahrgenommen: einen patriotischen Nationalismus.

Seit einiger Zeit findet man sein bärtiges, dickbäckiges Konterfei wieder auf den Titelseiten von Magazinen. Muktada ist der neue alte Feind der USA. Seine Al-Mahdi-Armee im Visier der US-Streitkräfte im Verbund mit irakischen Sicherheitskräften: In den letzten Wochen, innerhalb von 45 Tagen, sollen die irakischen Sicherheitskräfte bei 52 Operationen ungefähr 600 Kämpfer und 16 Führer der Mahdi-Miliz festgenommen haben, so eine aktuelle Meldung der BBC.

Genaueres ist über Muktada in westlichen Medien trotz der Vielzahl von Berichten kaum zu erfahren, es überwiegt die Tendenz, ihn als mysteriöses islamistisches Monster darzustellen. Um Missverständnissen hier gleich vorzugreifen: Hier wird nicht erwogen, die Aktivitäten der Mahdi-Miliz zu verharmlosen.

Berichte über brutale Angriffe und Morde der Sadristen auf „unislamische“ Frisöre, Besitzer von Geschäften, die Alkohol verkaufen, kritische Studenten und vor allem Racheakte in größerem Stil an Sunniten kann man nicht als bloße Gerüchte abtun.

Dafür sind die Quellen zu vielfältig und wer kann sich anmaßen, etwa unzählige Berichte von Bloggern, die im Irak leben und dies immer wieder melden, von der Ferne als reine Propaganda zu entwerten?

Nur: Es geht auch darum, die andere Seite zu hören. Die italienische Zeitung La Repubblica hat eine seltene Gelegenheit zum Interview mit Muktada as-Sadr bekommen (eine Übersetzung findet sich in einem amerikanischen Middle-East-Blog). Einige Aussagen daraus sind bemerkenswert zur Komplettierung der Stimmen und Bilder, die man hierzulande vorwiegend nur von einer eingeschränkten Perspektive zu hören und zu sehen bekommt.

Am spektakulärsten ist in diesem Interview, in dem sich der Schiitenführer als gejagter und verfolgter Mann präsentiert, verlassen von vielen seiner treuesten Anhänger, der seine Familie in ein Versteck gebracht hat und selbst jede Nacht woanders schläft, die Widerlegung Sadrs, dass es tatsächlich seine Männer waren, die bei der Hinrichtung von Saddam Hussein Beleidigungen ausgestoßen und den Diktator mit Muktada-Rufen verhöhnt haben. Die Aktion, so Sadrs Unterstellung, war geplant, um ihn zu diskreditieren.

No, they were not my men. They were people paid to discredit me. To make me look like the person really responsible for that hanging. Listen to the audio again, the proof is that in reciting my prayer they left out some basic passages. Stuff that not even a child in Sadr City would ever have done. The object was to make Muqtada look like the real enemy of the Sunnis. And they're getting away with it. At a time when I have been received with full honours in Saudi Arabia! But suddenly after that show under the scaffold, my spokesman al-Zarqání, who was on the pilgrimage to Mecca, has been arrested. A subtle way to let me know that I am no longer on their list of friends.

Ob dem „Gebet von as-Sadr“ tatsächlich wichtige Passagen fehlten, sodass dies auch jedem Kind in Sadr-City aufgefallen wäre, wird auch im dazugehörigen Forum des Blogs, das das Interview veröffentlicht, diskutiert – ohne klare Ergebnisse. Wer kennt im Westen schon Gebete, die in Sadr-City verrichtet werden?

Dennoch hat auch die Darstellung von Muktada as-Sadr, gerade wenn man die bizarre Hintergrundgeschichte zur Veröffentlichung des zweiten Hinrichtungsvideos (Ein zweites Video zeigt die ganze Hinrichtung Saddams) berücksichtigt, einige Plausibilität, die im irakischen Psycho-Krieg nicht so leicht vom Tisch zu wischen ist.

Interessant ist auch die Einlassung von Muktada, die im Gegensatz zur von vielen Medien propagierten Formel steht, dass der irakische Premierminster al-Maliki ein treuer Verbündeter von ihm sei:

Between me and Abú Asárá [al-Malikí] there has never been much good will. I have always suspected he was up to something and I never confided in him. We only met a couple of times. The last time he said to me, "You are the backbone of the country," and then went on to admit to me that he was "obliged" to fight. Obliged, you see?

Während er im Interview wiederholt, was von anderen Berichten seit Wochen bestätigt wird, nämlich, dass er von den Sunniten im Irak verlange, dass sie sich von Al-Qaida und „Saddamiten“ distanzieren und eine Fatwa gegen das Töten von Schiiten erlassen, erwähnt er auch, was in arabischen Zeitungen jüngst gemunkelt wurde: die Wiederkehr von Allawi.

Nach seinen Informationen könnte Allawi bald al-Maliki ersetzen. Darüberhinaus habe man eine geheime Schatten-Armee, die in Jordanien von Amerikanern ausgebildet worden sei, geschaffen, die zusammen mit den irakischen und amerikanischen Truppen, der privaten Armee von Allawi und Peschmerga-Kräften gegen die Al-Mahdi-Armee eingesetzt würden. Solange die reliösen, schiitischen Feiertage dauerten – „Muharram“ vom 21. Januar bis 18 Februar -, gebe es von seiner Seite allerdings keinen Widerstand.