Die Schöne und die Biester

Die Anime-Serie "Ergo Proxy"

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Was für eine erzählerische Qualität in der Kunstform Anime möglich ist, kann man sehr gut an jüngeren Serien wie "Ghost in the Shell Stand Alone Complex 2nd Gig", "Last Exile", "Black Lagoon" und "Samurai Champloo" erkennen. Shuko Murase und Dai Sato (auch schon bei "Cowboy Bebop" und "Samurai Champloo" involviert) haben im letzten Jahr eine neue Serie namens "Ergo Proxy" vorgelegt, die ebenfalls faszinieren kann.

Die Geschichte nimmt ihren Ausgang in Romdeau (Rome d'Eau?), einer Stadt der Zukunft wie aus dem Standard-Kochbuch der Science Fiction: Nach einer zunächst nicht genauer bezeichneten globalen Katastrophe hat man sich unter einer Kuppel eingeigelt und harrt der Erholung der Welt. Die Stadt selbst ist ein steriles, hypercomputerisiertes Edelgefängnis, sie wird von einem Regenten und seinem Rat beherrscht. Die Kontrolle ist allgemein, der Geheimdienst ist überall.

Neben den Menschen wird Romdeau auch von verschiedenen robotischen Lebensformen bevölkert, die mit dem Überbegriff "Autoreivs" bezeichnet werden; Autoreivs, die einzelnen Personen als Diener zugeordnet sind, heißen "Entourages". In letzter Zeit laufen die Dinge in Romdeau nicht mehr rund. Ein Virus namens "Cogito" verleiht den Autoreivs echtes Bewusstsein und verwandelt sie damit in eine Gefahrenquelle. Zusätzlich geht unter der Kuppel ein Wesen mit übernatürlichen Kräften um, dessen größte Lust das unterschiedslose Massakrieren von harmlosen Bürgern zu sein scheint. Die kühl-schöne, stets gut bewaffnete Re-l Mayer, Enkelin des Stadtregenten und Geheimdienstagentin, hat während der Untersuchung eines Mordfalls Kontakt zu dem Monster und wird wenig später sogar von ihm in ihrer Privatwohnung überfallen, aber nicht getötet.

Diese Erlebnisse bringen sie dazu, trotz der Warnungen ihres Großvaters und ihres Entourages "Iggy", der unter der Kontrolle des Geheimdienstes steht, mehr über die schattenhafte Drohgestalt zu erfahren, der sie beinahe zum Opfer gefallen wäre. Bald findet sie heraus, dass ihre Vorgesetzten dem Phänomen schon lange einen Namen gegeben haben - "Proxy".

Es wird auch klar, dass es mehr als einen Proxy geben muss, und dass der Geheimdienst, der Regent und sein Rat mehr über diese Entitäten wissen, als sie mit Re-l zu teilen bereit sind. Außerdem scheint der Einwanderer Vincent Law angestellt bei der Behörde, die die Autoreivs kontrolliert, irgendwie in Beziehung zu den Proxies zu stehen: Wo immer sie ihre Opfer hinterlassen haben, ist er nicht weit.

Re-l heftet sich an die Fersen von Vincent, und als ihm unerwartet die Flucht aus Romdeau gelingt, folgt sie ihm, den Anweisungen ihrer Vorgesetzten zum Trotz, wohl wissend, dass sie damit eine Rückkehr nach Romdeau aufs Spiel setzt. Damit beginnt eine Odyssee, die die beiden nicht nur in die seltsamsten Weltgegenden verschlägt, sondern ihnen auch Einblicke in ihr eigenes Wesen zumutet, auf die sie gern verzichtet hätten.

Bekannte Zutaten und Konstellationen, wie man sieht. Trotzdem ist "Ergo Proxy" etwas Besonderes. Da ist zum einen die Zeichentechnik, die eng am Comic orientiert ist, und die genau wie ein kluger Comic das Wechselspiel zwischen Abstraktion und Detailgenauigkeit perfekt beherrscht. "Ergo Proxy" versucht den Zuschauer nicht mit Opulenz zu erschlagen, sondern will mit genau austarierten Gesten und Akzenten fesseln, die im entscheidenden Moment die richtige Stimmung transportieren.

Dazu passt auch das radikale Farbmanagement, das sich überwiegend auf matte Grau-, Blau-, und Brauntöne verlässt; nur den Hauptpersonen selbst und dramaturgischen Zuspitzungen der Geschichte wird ein wenig mehr Farbe zugestanden. Der ästhetische Gesamteindruck ist der eines animierten Noir-Comics; der bevorzugte Gefühlszustand ist die Paranoia - die sich, wie beim Noir-Genre üblich, in den entscheidenden Momenten als vollkommen berechtigt herausstellt.

Im Thronrat: Lacan, Derrida, Husserl und Berkeley

Interessanter noch aber als diese Konsequenz der Ästhetik sind die (pop-)kulturellen Referenzen, mit denen die Serie hantiert. Natürlich werden die einschlägigen Klassiker zitiert, von Metropolis über Blade Runner bis zu Odyssee 2001 ist alles dabei. Das gehört ja eigentlich schon zum guten Ton und wäre an sich gar nicht der Rede wert.

Anderes überrascht dann doch. Die Mitglieder des Thronrats von Romdeau sehen nicht nur wie Michelangelo-Statuen aus, sie tragen auch die Namen bekannter Philosophen und Psychologen (Lacan, Derrida, Husserl und Berkeley). Die Entourages des enigmatischen Dr. Dädalus heißen "Deleuze" und "Guattari", die robotische Dienerin des Geheimdienstchefs Raul Creed nennt sich "Kristeva".

Allein schon lautlich ist der überwiegend französische Einschlag reizvoll, aber wenn es eine Rolle spielt, dass "Deleuze" und "Guattari" im Unterschied zu anderen Entourages nicht vom Geheimdienst Romdeaus kontrolliert werden können, oder wenn "Kristeva" zwischenzeitlich die Rolle des Geheimdienstchefs selbst übernimmt, könnte man fast daran glauben, dass hier tiefere Botschaften verborgen sind. Das ist unwahrscheinlich, aber dass man es aber immerhin vermuten kann, trägt zum Reiz des Spiels bei.

Die Serie leistet sich auch sonst ungewöhnliche Hackentricks. So werden zum Beispiel bestimmte wichtige Elemente des Szenarios erst in Folge 15 erwähnt, und zwar bei einer hochgradig albernen Quizshow, in der Vincent Law mit dem Moderator um sein Leben spielt. Von der Odyssee durch die Welt außerhalb Romdeaus war schon die Rede, aber auf dem Schiff in "Ergo Proxy" spielt sich hauptsächlich das Drama von der Schönen und dem Biest ab, und zwar gleichzeitig in der Cocteau- und der Disneyversion. Wie das Schöne und das Biestige sich hier wechselseitig verbergen und offenbaren, ist schon bemerkenswert.

Probleme hat die Serie eine ganze Menge. Das fängt schon mit dem debilen, an schlechten Stadionrock erinnernden Titelsong an, den man bei Teil 23 dann wirklich nicht mehr hören kann - ganz im Gegenteil dazu ist übrigens die Musik für den Abspann ausgezeichnet gewählt ("Paranoid Android" von Radiohead). Wenn die Proxys aufeinander treffen, dann kämpfen sie gern miteinander, und die langweiligen Kloppereien der Superbösewichter führen eine Tradition von Monsterkämpfen im Anime fort, die mindestens so langweilig ist wie schlechter Stadionrock. Wenn eine zu hohe Dosis Geschwafel in den Dialogen auftaucht, das nach Zen-Buddhismus klingen will, ist die unfreiwillige Komik nicht mehr weit.

An manchen Stellen hat sich das Drehbuch auch zu sehr auf die Macht der Bilder verlassen und dabei eine stringente Handlung vergessen - wobei das auch nicht immer von Nachteil sein muss: Folge 16 zum Beispiel lebt davon, dass in ihr überhaupt nichts geschieht. Die Fehler beschädigen "Ergo Proxy", sind aber nicht tödlich. Hoffentlich steht bald eine deutschsprachige Version zur Verfügung, damit die Serie auch hierzulande ein Massenpublikum findet. Verdient hätte sie es.