Die Statistik der Wanderung

Wohin ziehen die Flüchtlingsströme der Zukunft? Ein rein statistisches Modell soll bessere Antworten liefern

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Dass Menschen sich von Ort zu Ort bewegen, ist ein uraltes Phänomen. Das Leben nicht an dem Platz zu verbringen, an dem man geboren wurde, kann eine Menge Ursachen haben - die Liebe, die Arbeit, wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Druck gehören dazu. Auch wenn die Menschen offenbar am liebsten an Ort und Stelle bleiben: Nur höchstens drei Prozent der Weltbevölkerung leben derzeit befristet oder unbefristet in einem anderen Land, weniger als 200 Millionen Individuen also.

Trotzdem erscheint Migration in der öffentlichen Wahrnehmung in der Regel als Problem. Da wird der „Brain Drain“ beklagt, der die Tatsache beschreibt, dass aufstrebende junge Forscher sich am liebsten dort niederlassen, wo sich ihnen die besten Möglichkeiten bieten. Da wird über die Einwanderung diskutiert und darüber die Auswanderung gleich wieder vergessen. Zwischen 1999 und 2003 wanderten zum Beispiel 840.000 Menschen in die Bundesrepublik ein - in der selben Zeit verließen aber auch 640.000 Menschen das Land. Und beide Gruppen bestanden zu über drei Vierteln aus Ausländern. Da wird schließlich auch die Drohkulisse eines alles auf seinem Wege verschlingenden Flüchtlingsstroms an die Wand gemalt - ob nun in böser oder guter Absicht.

Doch nicht nur zur Versachlichung wäre es gut, genaueres über künftige Migrationsbewegungen zu wissen. Angesichts des ständigen Sinkens der Geburtenrate in Deutschland wäre es hilfreich, einschätzen zu können, wie sehr oder wenig bevölkert das Land dereinst ist. Infrastruktur entsteht nicht von heute auf morgen, und sie ist teuer zu konstruieren und ebenso teuer wieder abzureißen - manch Stadt in der ehemaligen DDR muss sich mit diesem Thema befassen.

Ein britisch-amerikanisches Forscherteam schlägt nun ein Modell vor, das überraschend wenige Parameter benötigt. Es ist nur abhängig von demographischen und geografischen Faktoren und basiert auf reiner Statistik. Die Wissenschaftler halten es für wesentlich leichter, die künftigen Entwicklung der Demografie vorherzusagen als etwa wirtschaftliche Faktoren, die in anderen Migrationsmodellen eine Rolle spielen. Wie viele Menschen von A nach B migrieren, hängt demnach nur von der Bevölkerungszahl und -dichte der Länder A und B ab sowie von der Entfernung zwischen beiden. Zudem ergab sich eine landesspezifische Konstante, die die Forscher aus insgesamt 43653 historischen Berichten von elf Ländern zu Wanderungsbewegungen für aus 228 Herkunftsländer und in 195 Zielländer in Fleißarbeit extrahierten.

Offenbar gehen eine ganze Menge von Menschen einfach so verloren

In den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) findet sich nun ihre Formel: Die Anzahl X der Migranten von A nach B ist proportional zu dem Produkt (Bevölkerungszahl von A) hoch 0.86 (Fläche von A) hoch -0.21 (Bevölkerungszahl von B) hoch 0.36 (Entfernung AB) hoch -0.97, multipliziert mit jahres- und landesspezifischen Konstanten. Für die Zeit von 1960 bis 2004 ergab diese Formel eine sehr gute Übereinstimmung mit der Realität. Für die Zukunft wagen die Wissenschaftler keine Voraussage.

Bei ihrer Recherche fielen ihnen allerdings noch ein paar Seltsamkeiten auf. So gehen offenbar eine ganze Menge von Menschen einfach so verloren - und zwar nicht bei der dramatischen Überfahrt von Afrika nach Europa, sondern in den unergründlichen Kellern der Bürokratie.

Die Forscher haben nämlich die Ein- und Auswanderungsstatistiken unterschiedlicher Länder verglichen und sind dabei auf chronische Unter- und Übertreiber gestoßen. Australien zählte zum Beispiel im Mittel 50 Prozent weniger Auswanderer, als andere Länder australische Einwanderer zählten. In der australischen Statistik wanderten zum Beispiel 1998 nur 3.971 Migranten nach Großbritannien aus, während die Briten im selben Jahr 41.800 Einwanderer aus Australien zählten.

Während Australien und Italien deutlich weniger Auswanderer zählten, als anderswo ankamen, tauchten in den Statistiken von Großbritannien und Deutschland weit mehr Auswanderer auf, als die entsprechenden Einwanderungsländer zählen konnten. Des Rätsels Lösung liegt, so die Forscher, nicht in der Absicht, die Öffentlichkeit zu täuschen, sondern in unterschiedlichen Erfassungsmethoden - ob nun an Flughäfen oder auf Ämtern. Deshalb führten die Forscher auch die oben schon erwähnte landesspezifische Konstante ein.