Die Stunde der Kurden

Wer kommt nach Saddam? Teil 3: "Die Söhne des Teufels"

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Einig sind sich die amerikanisch-britische Allianz und die diversen Oppositionsgruppen nur in ihrer Front gegen den gemeinsamen Feind Saddam Hussein. Jetzt, da der militärische Sieg der alliierten Verbände über das Baath-Regime kaum mehr bezweifelt wird, treten die widersprüchlichen Auffassungen darüber, wie der Irak künftig regiert werden soll, immer schärfer hervor. Nutznießer der Streitigkeiten im Gemenge der konträren Interessen könnten die Kurden sein, selbst wenn ihnen die Realisierung des ganz großen Traumes, dem vom unabhängigen Kurdistan, auch weiterhin verwehrt bleiben wird.

Über das unbeugsame Volk ohne Staat, das verstreut in den Gebirgswildnissen des Irak, Syriens, der Türkei und des Iran lebt, erzählt man sich gerne faszinierend finstere und wilde Geschichten; einer besonders rauen Ursprungslegende zufolge stammen die Kurden vom Teufel selbst ab, sogar von mehreren, welche 400 Jungfrauen, die sich auf dem Weg zu König Salomons Hof befanden, auflauerten und vergewaltigten. Selten in der leidvollen, realen Geschichte der "Söhne des Teufels" war die Konstellation so günstig wie im Augenblick, dass sie ihrem Traum vom unabhängigen Kurdistan ein großes Stück näherkommen. Dafür spricht einiges.

Tausende von Peshmerga-Kämpfern helfen den amerikanischen Truppen an der Nordfront gegen irakische Regierungseinheiten und, wie die Frontberichte immer wieder betonen, ist es nicht nur die Ortskenntnis, von der die Amerikaner profitieren, es ist vor allem der unbedingte Einsatz dieser schlechtbewaffneten Verbände, die vor dem Tod nicht zurückscheuen - "Peshmerga" wird oft übersetzt mit "die den Tod nicht fürchten". Die Peshmerga sollen auch beim erwartet harten und verlustreichen Kampf um Bagdad eine wichtige Rolle übernehmen. Geht es nach der kruden martialischen Rechnung, die dieser Tage von der US-Administration aufgestellt wurde, wonach vor allem Länder, die einen "Blutzoll" bei der Entmachtung Saddam Husseins entrichtet haben, auch ein Mitbestimmungsrecht bei der Neuordnung des Landes eingeräumt wird, dürften die Kurden ein entsprechend kräftiges Mitspracherecht erwarten.

Umso mehr als das Verhältnis der USA zum größten Widersacher der kurdischen Interessen, der Türkei getrübt ist. Das "Nein" des türkischen Parlaments zur Benutzung türkischen Terrains als Aufmarschplatz und Basis für Angriffe auf den Irak, das lange Hin-und Herlavieren der türkischen Regierung im Vorfeld, hat den Türken trotz gegenteiliger offizieller Beteuerungen sehr viel Sympathie bei den Amerikanern gekostet. Es gab einige Stimmen, welche die Schwierigkeiten der Amerikaner im Vormarsch auf Bagdad damit begründeten, dass keine starke Nordfront zustande kommen konnte. In der ursprünglichen Planung einer amerikanisch-türkischen Zusammenarbeit, so die "üblichen informierten Kreise" sollte es türkischen Truppen als Gegenleistung für das Entgegenkommen Ankaras gestattet sein, im Schatten der vorrückenden amerikanischen Verbände als eine Art Kehrmaschine das kurdische Territorium von Terrornestern zu befreien. Gemeint sind damit "Zellen" der unter dem Namen KADEK neuformierten PKK, dem langjährigen Erzfeind der türkischen Armee.

Dazu ist es aus den bekannten Gründen nicht gekommen; stattdessen haben die US-Verbände der PUK (Patriotische Union Kurdistans) einen Gefallen getan und deren Erzfeind, die radikal-islamische Al-Ansar-Vereinigung mit Raketenbeschuss aus dem Hoheitsgebiet der PUK (Hauptsitz Suleimania) im Osten Kurdistans entfernt. Dass dabei versehentlich auch eine gemäßigt islamische Vereinigung in Khormal empfindlich getroffen wurde, dürfte bei dem PUK-Vorsitzenden Jalal Talabani, der die islamisch-orientierte Kurdengruppierungen wenig schätzt - immerhin grenzt sein Herrschaftsgebiet an den Iran - keine große Empörung ausgelöst haben.

Talabanis größter Konkurrent heißt Massud Barzani und ist Chef der anderen kurdischen Großpartei, der KDP (Kurdisch Demokratische Partei), die den westlichen Teil des irakischen Kurdistan (Hauptsitz Arbil) beherrscht. Beide Männer haben trotz aller Rivalität (siehe weiter unten) viel gemeinsam; z.B. je einen Posten im sechsköpfigen "Leadership-Council" der irakischen Opposition. Der Einfluss der Kurden auf die übrigen Kräfte der Opposition ist nicht nur zahlenmäßig groß; die Kurden müssen sich anders als etwa die Exiliraker (vgl. Wer kommt nach Saddam?) nicht um die Frage der Legitimität kümmern. Und im Gegensatz zu den Schiiten (vgl. Die Mullahs und das Bündnis mit dem Satan) und den (noch?) herrschenden sunnitischen Arabern müssen sie auch nicht unter Beweis stellen, dass sie "demokratiefähig" sind. Dazu genügt es ihnen, auf die gegenwärtigen Verhältnisse in Kurdistan zu verweisen. Die in diesen Breitengraden ungewöhnlich lebhafte, freie Presse, die in den letzten Jahren im kurdischen Norden des Irak entstanden ist, ist ein weiterer Trumpf in den Karten der Kurden.

Von einem Reporter der Gulf-News auf die ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Parteien angesprochen, lachte Barzani und sagte:

Da gibt es keinen Unterschied. Was auch immer in den Manifesten als Behauptung aufgestellt wird, es gleicht sich. Der Unterschied liegt im historischen Hintergrund und einigen nebensächlichen Angelegenheiten.

Der historische Hintergrund, den Barzani im Interview herunterspielt, ist vermutlich der vierjährige Krieg zwischen den beiden Parteien in den Jahren 1994 und 1998, wo es um "nebensächliche Angelegenheiten" wie Schutzzölle und anderen Einnahmen aus Hilfszuweisungen ging, denen der relative Wohlstand des irakischen Kurdistans - immerhin verdient ein Lehrer dort das Vierfache eines Lehrers in Bagdad - zu verdanken ist: Von Lastwagen, die im Rahmen des "oil for food"-Programms das Öl aus dem Irak in die Türkei fuhren, wurde ein nicht unerheblicher Zoll erhoben und die ortsansässige KDP, so der Vorwurf der PUK, behielt den größten Teil der Einnahmen in der eigenen Tasche.

Öl ist auch für die Kurden der Schmierstoff für eine funktionierende Wirtschaft: ihre Ambitionen in dieser Hinsicht gelten vor allem den Ölfeldern um Kirkuk, zumal diese Stadt von den Kurden als "Seele" und das "Jerusalem" ihrer Nation betrachtet wird. Kirkuk war auch der große Streitpunkt zwischen den Kurden und dem Baath-Regime, das ihnen kurzzeitig - in den siebziger Jahren - sogar eine Autonomie zugestanden hat. Eine Frage allerdings blieb ungelöst, ob Kirkuk den Kurden als Hauptstadt (und Einnahmequelle) überlassen werden dürfe. Das Regime weigerte sich und setzte eine "Arabisierungskampagne" in Gang, in deren Folge Zig-Tausende von Kurden ihre Heimatstadt verlassen mussten - ein Flüchtlingsproblem, das heute noch allen ohnehin schon vorhandenen Komplikationen eine weitere hinzufügt - und im Zuge der "Anfal"-Raserei des Baath-Regimes weiteren Zig-Tausenden Kurden das Leben kostete.

Auch die türkische Armee, die zehn Kilometer weit im Norden des Irak bereitstehen soll, achtet sehr genau darauf, wie sich die Kurden verhalten werden, wenn es um die Einnahme Kirkuks geht. So sehr die kurdischen Führer in den letzten Wochen betonten, dass sie für eine föderale Verfassung des Irak eintreten, also von der Vision eines unabhängigen Kurdistans absehen würden, so nachdrücklich bekräftigten sie die in diesem Zusammenhang elementare Zusage, dass sie nicht "unilateral" Mosul oder Kirkuk einnehmen wollten, was den türkischen Truppen den geeigneten Vorwand dafür liefern würde, sofort in Kurdistan einzumarschieren. Sie hätten sich unter das Kommando der Koalition begeben, beteuerten Talabani und Barzani unisono.

Und dennoch: "Es ist keine einfache Entscheidung für uns, die wir da getroffen haben. Sie widerspricht jedem Impuls", wird Barham Sali, der Ministerpräsident der PUK in der aktuellen Ausgabe der englischen Sonntagszeitung "Observer" zitiert. Diese Empfindung werden vermutlich auch Massud Barzani und Jalal Talabani teilen. Mit dem ungestümen Herzen von Menschen, die auf ein Stück echten Himmel auf der Erde warten.