Die Türkei ist nicht Russland: Deutsche Wahlkampfhilfe trotz Massenverhaftungen

Seite 2: Ist die Türkei ein "failed state"?

Das Land befindet sich nicht nur wegen des Erdbebens in einem desaströsen Zustand. Die Liste der Verfassungsbrüche, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Korruption und der Mafiastrukturen bis in die höchsten Regierungsstrukturen in der Türkei ist lang. Das Bildungssystem ist rückwärtsgewandt. Staatliche Ämter sind mit teils fachfremden, AKP-loyalen Personen besetzt. Aufgrund der desaströsen Wirtschaftspolitik der AKP ist die Mittelschicht nahezu verschwunden.

Um die Erdbebenschäden zu beseitigen und rund 6,5 Millionen Häuser zu sanieren, werden 100 bis 200 Milliarden Dollar benötigt, die das Land nicht hat. Durch Erdogans Politik wurden sämtliche Reserven aufgebraucht. Wahlkampfversprechen, wie zum Beispiel er nicht einhalten können. Die Nettoreserven der Zentralbank, ohne Swaps, belaufen sich auf etwa 40 bis 45 Milliarden US-Dollar.

Der Bankensektor ist handlungsunfähig, da er jeden Tag mit neuen Vorschriften und mündlichen Anweisungen aus dem Palast Erdogans konfrontiert wird. Die Auslandsverschuldung hat mittlerweile rund 450 Milliarden Dollar erreicht. Die Inflationsrate liegt offiziell bei 50 Prozent, in der Realität ist sie wahrscheinlich doppelt so hoch. Dies berichtet Mahfi Egilmez bei Mediascope.tv über den Nachlass der Erdogan-Regierung, sollte er die Wahlen verlieren.

Er überlässt der neuen Regierung nicht nur leere Kassen und einen gespenstischen Schuldenberg, sondern auch eine (reale) Arbeitslosenquote von 22 Prozent und ein Leistungsbilanzdefizit von etwa 5,5 bis sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Risikoprämie des Landes (CDS-Prämie) ist auf über 500 Basispunkte gestiegen (über 300 Basispunkte gelten als extrem risikoreich).

Eine neue Regierung kann den niedrigen Leitzins der Zentralbank, der Ursache vieler Probleme ist, nicht schnell korrigieren, da er weit unter der Inflationsrate liegt.

Das kollektive Verdrängen der Fakten zur Krise des Landes

Ein großes Problem ist nach Egilmez, dass sich die Bevölkerung der existenziellen Krise des Landes nicht bewusst ist. Obwohl sich viele nur noch das Nötigste leisten können, glauben die Menschen das Bild, das die regierungsnahen Medien von gut gefüllten Supermärkten, überfüllten Restaurants und Cafés für alle, zeichnen. Sie bringen ihre eigene Armut nicht mit der Politik der AKP-Regierung in Zusammenhang.

Das mag absurd klingen, ist aber auch bei uns in Deutschland bei Interviews vor den türkischen Wahlbüros zu hören. Präsident Erdogan habe der Türkei Wohlstand gebracht, Straßen, Autobahnen und Häuser bauen lassen, den neuen Flughafen in Istanbul – und, und, und.

Die vielen Toten und Obdachlosen durch das Erdbeben im Februar, deren neu gebaute Häuser wegen der Nichteinhaltung der Bauvorschriften wie Kartenhäuser einstürzten, scheinen vergessen, betreffen die türkischen Wähler:innen hierzulande nicht – oder sie werden nicht mit der AKP-Politik in Verbindung gebracht, weil die Folgen dieser Naturkatastrophe eben Schicksal sind.

So kommunizierten dies die Staatsmedien, die auch bei uns von morgens bis abends auf dem Bildschirm vieler Familien aus der Türkei flimmern. So setzen die Menschen ihre Hoffnung in die laut AKP-Regime "plötzlich" entdeckten Öl- und Erdgasfelder, obwohl völlig unklar ist, ob diese fossilen Energiereserven überhaupt längerfristig anzuzapfen sind – von den ökologischen Auswirkungen in der aktuellen Klimakrise ganz zu schweigen.

Aber Ökologie hat Regierende in der Türkei noch nie interessiert: für Großprojekte wurden Wälder abgeholzt und Ökosysteme zerstört, die Staudammprojekte im Südosten des Landes zerstörten nicht nur im Inland historisch wertvolle Stätten wie Hasankeyf und die Flora und Fauna. Syrien und der Irak leiden seit Jahren wegen der Aufstauung des Euphrat und Tigris aufgrund des Wassermangels.

Selbst Erdogans Palast mit 1.000 Zimmern wurde in einem Naturschutzgebiet illegal gebaut. Vergessen sind auch die Warnungen vieler Geologen vor neuen Erdbeben, besonders in der Marmararegion um Istanbul. Seit Jahren ist bekannt, dass sich die seismischen Spannungen stetig erhöhen.

Als sicher gilt, dass sich irgendwann in naher Zukunft ein großes Erdbeben bei der Millionen-Metropole Istanbul ereignen wird. Die Frage ist nicht ob, sondern wann genau die Katastrophe eintritt. Ohne sofortige Maßnahmen zur Sicherung von Häusern und der Infrastruktur ist eine weitaus größere Katastrophe als beim Erdbeben im Februar vorprogrammiert. Dies wäre das Ende der Türkei und jeder Regierung, egal welcher.

Stattdessen sind die Golfstaaten und Russland die neuen Hoffnungsträger der türkischen Regierung. Sie sollen Geld und Investitionen in Prestigeobjekte stecken. Dass sie das nicht uneigennützig tun, interessiert die Clique um Erdogan nicht. So oder so: Die Türkei wird weiter am Tropf hängen – die Frage ist nur, an wessen Tropf. Der Traum von einer türkischen Großmacht, einem großtürkischen Reich ist ausgeträumt – egal, wer künftig regieren wird.

Wahlkampfhilfe aus Deutschland: Fastenbrechen mit CSU-Granden

Der türkische Wahlkampf ist seit Tagen auch in unseren Medien Thema. Viele berichten durchaus kritisch über das Erdogan-Regime. In der deutschen Politik sieht das anders aus.

Keine Stellungnahmen zu den Massenverhaftungen, Schweigen zu den Wahlkampfveranstaltungen in den Ditib Moscheen und AKP-nahen Organisationen wie der vom Verfassungsschutz beobachteten AKP-Lobbyorganisation UID (Union Internationaler Demokraten). Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und Ex-Innenminister Günther Beckstein (beide CSU) treffen sich sogar mit der UID zum Fastenbrechen.

Die Grünen veröffentlichen ein von ihnen gedrehtes Video über ein Kinderfest der Zweigstelle der türkischen Religionsbehörde Diyanet, der Ditib. Damit das nicht gleich auffällt, wird der Ditib-Verein als türkische Gemeinde Hilden bezeichnet. Die Stadt Nürnberg erlaubte sogar Wahlplakate der AKP bis zum 5. Mai.

Der Essener Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Burak Çopur fragte empört im Gespräch mit der Redaktion Frankfurter Rundschau, ob Oberbürgermeister Marcus König (CSU) es im Gegenzug genauso befürworten würde, wenn Wahlplakate des russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Stadt aufgehängt werden würden?

In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt forderte er das Abhängen der Plakate – "im Sinne des guten Rufs der Stadt". Eine solche Plakataktion gefährde das friedliche Zusammenleben der Kulturen. Oberbürgermeister König ergreife damit indirekt Partei an der Seite einer höchst aggressiven und christen- und europafeindlichen Diktatur, so Çopur.

Angesichts der Mitverantwortung der türkischen Regierung an den hohen Opferzahlen des Erdbebens im Februar sei es zudem moralisch höchst verwerflich und eine Verhöhnung aller Opfer des Erdogan-Regimes, nun ständig sein Konterfei auf den Straßen von Nürnberg zu sehen. Nach Protesten von Çopur und zivilgesellschaftlicher Organisationen soll nun die Sondernutzungssatzung in Nürnberg geändert werden. Für die aktuelle Wahlwerbung kommt das vermutlich zu spät, es sei denn, die unbestätigten Meldungen stimmen, dass die Plakate klammheimlich wieder abgehängt wurden.