Die Wüstenschiffe des US-Marine-Corps

In der kritischen Kriegsberichterstattung dominiert das Wort "angeblich", mit dem man sich auch gerne von Recherchen entlastet

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Inzwischen ist offenkundig, dass der Vormarsch der Alliierten im Irak nicht so verläuft, wie es sich die Planer erhofft hatten. Aber schon nach dem fünften Tag, als die ersten Bilder zerstörter amerikanischer Schützenpanzer in den TV-Nachrichten kursierten, begann in einem amerikanischen Forum eine erste kritische Diskussionen darüber, ob die eigenen Streitkräfte überhaupt richtig ausgerüstet sind. Es diskutierten technikbegeisterte Modellbauer. Daran wird deutlich, dass nur der, der militärtechnologische Fakten kennt, wirklich kritisch sein kann.

Joint Direct Attack Munition (JDAM)

Seit der Erfindung der Fotografie vor 164 Jahren war die Kritik am vermeintlich automatischen Wahrheitsgehalt technisch erzeugter Bilder fast ausschließlich eine Sache der elitären Kunst- und Medienkritik. Seit Beginn des neuen Golf-Krieges ist dies anders.

Kaum eine Videosequenz, kaum ein Foto, kaum eine Einstellung, die nicht mit dem verbal erhobenen Zeigefinger des Kommentators versehen wird, dass Bilder nicht die ganze Wahrheit zeigen, dass nur das gezeigt wird, was die Kriegsparteien gezeigt wissen wollen, dass Bilder nichts beweisen. Kurz und knapp, man kann ja nicht jedes Bild in einen Sermon von Grundsatzzweifeln einbetten, wird zunehmend das Attribut "angeblich" zum Container für mediale Wachsamkeit: Zerstörte Fahrzeuge sind "angeblich amerikanisch", Tote am Rand der Wüstenrollbahn sind "angeblich Iraker".

Die Entwicklung wird wahrscheinlich dahin gehen, dass leblose Körper bald als "angeblich tot" bezeichnet werden. Dem journalistischen Praktiker Ulrich Tilgner, Korrespondent des ZDF in Bagdad, geht die sich breit machende Pauschalrelativierung zu weit:

"Wenn hier zwei Autos zusammen stoßen, dann spricht die Weltpresse von einem angeblichen Verkehrsunfall."

Technische Bilder sollten wie jede potenziell historische Quelle behandelt werden. Dazu gehört, die Umstände der Entstehung zu beschreiben: Wann? Wo? Was? Wer hat es gemacht? Das ist in Zeiten kriegerischer Bilderfluten sicherlich schwieriger als sonst. Nicht immer sind alle W's beantwortbar. Und dann macht ein warnender Hinweis selbstverständlich Sinn. Es darf jedoch nicht sein, dass pauschale "angeblich"-Hinweise journalistisches Fachwissen und Rechercheaufwand ersetzen .

In diesem Zusammenhang ist die Thematik militärtechnologischen Fachwissens von besonderer Brisanz. Wer militärischem Engagement gegenüber kritisch eingestellt ist, scheint sich meistens nicht für technische Feinheiten zu interessieren, etwa für die Funktionsweise von GPS-Bomben, die Eigenschaften von Kampfflugzeugen oder die Unterschiede zwischen Abrams- und T-55-Kampfpanzern. Das scheinen eher Themen für infantile Technikfetischisten zu sein. Wenn allerdings den letzteren das Feld überlassen wird, dann kann Kritik an militärischen Sichtweisen und Interpretationsmustern ganz leicht dadurch ausgehebelt werden, dass behauptet wird, die kritische Position ginge von falschen fachlichen Voraussetzungen aus.

Ende einer Dienstfahrt; Nassirija

In der aktuellen Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft ist der Zwiespalt wischen kritischer Haltung einerseits und Interesse am Militärtechnologischen andererseits deutlich fest zu machen. "Satellitengelenkte Waffen" ist der Titel eines Hauptartikels, der sich vollständig auf technologische Aspekte fokussiert und dessen Zwischenüberschriften von purer Technikeuphorie zeugen: "Ein Jahrzehnt Fortschritt", "Sieg über das Wetter", "der aktuelle Waffenkatalog", "Bunkerbrecher". Autor ist Michael Puttré, Chefredakteur der Monatszeitschrift The Journal of Electronic Defense.

Der Spektrum-Chefredaktion war der von der amerikanischen Mutterzeitschrift übernommene Artikel wohl nicht ganz geheuer, und so wurde ihm ein Gastkommentar von Götz Neueneck vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg an die Seite gestellt, der mit einer eindeutigen Feststellung endet: "Kriegsverhütung, oberstes Ziel verantwortlicher Friedenspolitik, gerät durch nebenstehenden Artikel vollends in den Hintergrund." Neuneck ist ausdrücklich der Meinung, dass die scientific community die wissenschaftlich-technischen Hintergründe von Waffensystemen diskutieren müsse, selbst wenn eine solche Diskussion in einer wissenschaftlichen Zeitschrift manchen erschrecken kann.

Wüstenschiffe des US-Marine-Corps im Irak

Nicht nur die scientific community muss sich dem Thema Kriegstechnik widmen, auch die kritische Kriegsberichterstattung muss sich ihm annehmen. Und sei es auch nur, um in der redaktionellen Kommentierung von Bildern ein paar Mal auf das Attribut "angeblich" verzichten zu können. Bilder von zerstörten Landungspanzern der US-Marines hätten so nämlich schon vor Ende der ersten Kriegswoche als starkes Indiz dafür dienen können, dass der Kriegsverlauf nicht so stattfindet, wie er in den Sandkastenspielen zuvor geprobt worden war.

Wenn denn die auffälligen Fahrzeuge vom Typ Amphibious Aussault Vehicle Personnel Carrier (AAVP) erkannt worden wären. Zu sehen waren in verschiedenen TV-Nachrichten mehrere dieser bei Nassirija zerschossenen Fahrzeuge. Eines war teilweise geschmolzen, ein anders noch weitgehend intakt, Kinder und Jugendliche kletterten auf ihm herum. Gesprochen wurde allerdings nur von "zerstörten Fahrzeugen, angeblich amerikanischen".

AAVPs sind eine singuläre Erscheinung. Es sind vergleichsweise riesige Panzer, die sich stark von allen anderen im Irak-Krieg eingesetzten Fahrzeugen unterscheiden. Sie erinnern eher an den Sandcrawler der Yawas aus dem ersten Star-Wars-Film, als an ein zeitgenössisches Kriegsgerät. Es handelt sich bei ihnen um schwimmfähige Schützenpanzer, dank ihrer Kettenlaufwerke können sie auch an Land flott vorwärts kommen. Da sie schwimmen können, sind sie wie ein Bootsrumpf hoch aufragend und nur leicht gepanzert. Ideale Ziele in einer flachen Wüstengegend. Die Panzerung besteht zu einem großen Teil aus Aluminium, was zwar Gewicht spart, jedoch von immensem Nachteil sein kann: Eine Alupanzerung kann, wenn sie großer Hitze ausgesetzt ist, regelrecht verbrennen. So etwas war schon mit Panzerungen der M113-Schützenpanzer im Vietnamkrieg passiert. Und auch die Royal Navy war von diesem Effekt nicht verschont geblieben. Während des Falkland-Krieges kam es vor, dass sich die Aluaufbauten britischer Kriegsschiffe nach argentinischen Bombentreffern praktisch auflösten.

AAVP in seinem Element

Eine Identifikation der zerstörten Fahrzeuge in der Berichterstattung hätte somit schon frühzeitig unangenehme Fragen aufwerfen können: Eine amphibische Landung hat im Irakkrieg gar nicht statt gefunden. Der einzig relevante Hafen wurde von Land her erobert. Warum müssen die Marines dann dennoch mit den leicht verwundbaren AAVP-Kolossen durch die Wüste rollen? Ist dies ein Indiz für mangelhafte Ausrüstung, trotz allen High-Tech-Geredes? Zeigt es deutlich, wie der Feind von Anfang an unterschätzt wurde? Die Liste ließe sich fortsetzen.

In den AAVPs sind vermutlich mehrere Soldaten umgekommen. Das ist in den USA nicht unbemerkt geblieben. Die geschilderte Problematik wurde dort auch sofort diskutiert, von Leuten, die über ein gewisses militärtechnologisches Fachwissen verfügen und sich stark für Militärfahrzeuge interessieren: Modellbauer. George R. Bradford bezeichnet sich auf seiner Website als "Founding Father of armor modeling". In seinem Forum wird nicht nur die Zerstörung der AAVPs diskutiert, gefragt wird auch, wieso das Medienecho so gering ausfiel.

Ein Diskutant bezeichnet die AAVPs sogar als "death trap". Dem Betreiber der Website und den Teilnehmern an dem Forum lassen sich bestimmt keine unpatriotischen Umtriebe nachsagen. Gerade das unterstreicht die Bedeutung von Fakten: sie sind nicht ideologisch.

Wäre nur ein Bruchteil des militärtechnoloischen Wissens der Hobby-Bastler in den Redaktionen vorhanden, erspart bleiben würde uns so manche mit "angeblich , angeblich,..." gespickte Null-Beschreibung. Fakten sind in Zeiten des Krieges, selbst wenn es bloß um so etwas vermeintlich Banales wie den Typ eines zerstörten Militärtransporters geht, allemal mehr wert, als eine beständig wiederholte pseudo-medientheoretische Allerweltsphilosophie.