Die Zukunft hat es auch nicht leicht

Über das neue Genre der Sciencefaction

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Die Katastrophe kündigt sich durch heftige Erdstöße an. Dann geht auf einmal alles ganz schnell: Für eine Evakuierung der Bevölkerung am Fuße des ausbrechenden Vulkans bleibt keine Zeit, sämtliche Zufahrtsstraßen sind innerhalb von wenigen Minuten blockiert und zerstört, selbst der Fluchtweg über das Wasser bietet keine Rettung, denn die schwefelhaltige Vulkanasche hat das Wasser längst in eine ätzende Brühe verwandelt.

Szene aus Twister

Spätestens hier wird so mancher Zuschauer des Katastrophenfilms "Dante's Peak" genervt die Augen rollen und sich fragen, warum diese Filmemacher aus Hollywood nur immer so maßlos übertreiben müssen. Dabei ist das Gegenteil richtig: Immer öfter werden Wissenschaftler bereits in der Vorbereitungsphase von Filmen wie "Dante's Peak", "Twister" oder "Jurassic Park" zu Hilfe gezogen, um den aktuellen Stand der Forschung seriös wiedergeben zu können. Während die klassische Sciencefiction à la Perry Rhodan oder Flash Gordon im anhaltenden Niedergang begriffen ist, entsteht an ihren Rändern ein neues Genre, das als "Science in Fiction" oder "Sciencefaction" bezeichnet wird - der Wissenschaftsthriller.

Was genau unter dem Begriff Sciencefiction zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen traditionell weit auseinander. Manch einer rechnet das Fantasy-Spektakel "Krieg der Sterne" ohne weiteres hinzu, weil darin schließlich Raumschiffe und Laserwaffen vorkommen, hat aber bei Katastrophenfilmen wie "Dante's Peak" oder "Volcano" Zweifel, weil nicht ganz klar ist, ob die Geschichten in der Zukunft spielen. Und das Wetter-Abenteuer "Twister" scheint erst recht kein Fall für die klassische Sciencefiction zu sein.

"Das Interesse an der Sciencefiction in Form von Büchern hat sich in den letzten zehn Jahren in etwa halbiert", schätzt Volker Busch, beim Goldman Verlag zuständig für den Bereich der Sciencefiction. Wissenschaftsthriller sind in unserer Zeit, in er sich die alltäglichen Erfahrungen immer mehr den noch vor wenigen Jahren allenfalls in der Sciencefiction imaginierten Lebenswelten angleichen, die kommerziell erfolgreiche Antwort auf die Frage nach der Zukunft von Sciencefiction. Und die "Movie Scientists" sind ihre neuen Helden. Denn sie sind es, die der Technik die menschliche Wärme und das Staunen über die Großartigkeit der Schöpfung zurückgeben - man denke nur an einen Film wie "Jurassic Park" - und noch dazu die Fantasie mit wissenschaftlichen Fakten anheizen.

Das Drehbuch für "Twister" zum Beispiel schrieb Michael Crichton gemeinsam mit seiner Frau Anne-Marie Martin. Zusammen mit dem Regisseur Jan De Bont ("Speed") und einigen Schauspielern begleiteten sie einige Wochen lang die Wetterforschung der Meteorologen des "National Severe Storms Laboratory" (NSSL) in Norman, Oklahoma, die wiederum das fertige Buch auf Stichhaltigkeit überprüften.

Im Gegensatz zu den USA finden solche Themen in Deutschland sowohl bei Kritikern als auch bei Produzenten nur wenig Anklang. Das mag daran liegen, dass Sciencefiction im Allgemeinen hier zu Lande aufgrund seiner Durchlässigkeit für politische Propaganda nicht gerade zur Tradition gehört. Kein deutscher Autor kann sich mit Jules Verne, H.G. Wells oder Stanislaw Lem messen. Vielleicht fehlt es ja an der nötigen Verspieltheit - Wissenschaft gilt in Deutschland immer noch als ernste Angelegenheit.

Dabei ist etwa Michael Crichton von seiner Ausbildung her sogar Wissenschaftler. Er hat an den Eliteuniversitäten von Cambridge und Harvard studiert und die Prüfungen zum Doktor der Medizin "cum laude" abgeschlossen. Die Erkenntnis, dass sich der Wissenstand über das Verhalten von Dinosauriern in den letzten Jahren dramatisch verändert hatte, habe ihn zu seinem Roman "Dinopark" veranlasst, meint er. Obwohl ihm oft vorgeworfen wird, dass seine Figuren holzschnittartig bleiben, gelingt es ihm doch, komplizierte Phänomene anschaulich zu beschreiben.

Der Brite Philip Kerr, selber Autor erfolgreicher Techno-Thriller ("Das Wittgenstein-Programm") ist überzeugt, dass das Publikum zugleich etwas lernen und Unterhaltung will. Michael Crichton bezeichnet er in diesem Zusammenhang als Meister seines Fachs. "Der Roman fasst die Chaostheorie auf nur drei Seiten zusammen", meint er begeistert. "Ich habe danach James Gleicks Buch über Chaos gelesen und war nicht wesentlich klüger."

"Diese Art von Sciencefiction ist aber keineswegs neu", sagt Gert Mattenklott, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität. Nicht erst im 20. Jahrhundert sei die enge Verzahnung von Wissenschaft und Literatur erfolgreich gewesen. Schon Goethe, der sich in seinem Selbstbild ja eh mehr als Naturwissenschaftler sah, habe im "Faust II" beide Bereiche gekonnt vereint. Und noch früher sei es Karl Philipp Moritz gewesen, der in seinem Roman "Anton Reiser" (1785-1794) die Erkenntnisse der zeitgenössischen Anthropologie populär verarbeitet habe. "Dass wir uns heute darüber wundern, liegt nur daran, dass diese Art von Literatur im 19. Jahrhundert lange Zeit verpönt war", meint Mattenklott.

Erst in diesem Jahrhundert hat sich die Literatur auf breiter Basis wieder der Wissenschaft angenommen. Seitdem prahlt die Sciencefiction von ihrem "aufklärerischen Wert, den keine andere Literatur für sich in Anspruch nehmen kann" (Isaac Asimov). Tatsächlich haben sich Sciencefiction-Autoren in der Vergangenheit hie und da als Propheten erweisen. So beschrieb Edmond Hamilton bereits 1931 Form und Funktion heutiger Raumanzüge. H.G. Wells sagte noch vor dem Ersten Weltkrieg den baldigen Einsatz von Panzern voraus und schilderte Luftschlachten, ehe noch das erste Flugzeug gebaut wurde. Robert A. Heinlein spekulierte in "Solution Unsatisfactory" bereits 1941, dass der Zweite Weltkrieg erst durch den Einsatz einer Atombombe beendet werden könnte (allerdings sah er Berlin und nicht Hiroshima getroffen). Und den Bauplan einer Atombombe beschrieb Cleve Cartmill 1944 in "Deadline" immerhin genau genug, dass sein Herausgeber John W. Cambell in die Fänge der Spionageabwehr geriet.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir vielfach beobachten, dass die Wirklichkeit die Phantasie eingeholt hat. Der amerikanische Spezialist für Künstliche Intelligenz (KI), Ray Kurzweil, gibt der Menschheit überhaupt nur noch knapp drei Jahrzehnte. Spätestens im Jahr 2029 werde es nicht mehr möglich sein, zwischen Mensch und Maschine, zwischen biologischen und elektronischen Systemen, zu unterscheiden. Wie in Andy und Larry Wachowskis Film "The Matrix" könnte dieses Szenario dazu führen, menschliches Gedächtnis und menschliche Individualität in Datennetze einzuscannen. Kein Wunder, dass sich die Sciencefiction nicht mehr in Fantasy-Spektakeln aufbraucht. Die Wirklichkeit ist schon fantastisch genug.

Bücherliste - eine Auswahl

Peter Hernon: Das Beben

Im Tal des Mississippi braut sich etwas zusammen: Zwei tektonische Platten treffen dort genau aufeinander, und der Seismologe Walter Jacobs hat Daten, die zeigen, dass sich ein riesiges Erdbeben, nur noch vergleichbar mit dem verheerenden Beben des Jahres 1811/12, anbahnt. Das Kernland der USA ist in höchster Gefahr, doch niemand will davon wissen.
Peter Hernon: Das Beben, Roman. Heyne, München 2000, 500 S., 24 DM

Douglas Preston/ Lincoln Child: Riptide

Auf zwei Milliarden Dollar wird die Beute geschätzt, die der englischer Pirat Edward Ockham vor über 200 Jahren auf Ragged Island in einem raffinierten Stollensystem vergraben hat. Alle Versuche, den Schatz zu heben, schlugen bislang fehl. Mit modernster technischer Ausrüstung starten Wissenschaftler und professionelle Schatzsucher eine neuerliche Expedition, um das Piratengold zu bergen.
Douglas Preston/ Lincoln Child: "Riptide". Roman. Droemer/Knaur, München 2000, 504 S., 39.90 DM

Philip Kerr: Der zweite Engel

In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts kämpft die Menschheit ums Überleben, denn ein tödliches Virus hat rund achtzig Prozent der Weltbevölkerung befallen. Die Krankheit ist heilbar, allerdings nur durch einen kompletten Blutaustausch. Blut ist wertvoller als Gold. Überall auf der Welt sind Blutbanken durch ausgeklügelte Sicherheitsvorkehrungen geschützt. Danna Dallas ist der Chefkonstrukteur eines dieser komplexen Systeme, an die niemand heran kommt. Doch dann erkrankt seine Tochter, und der geniale Techniker wird zum Sicherheitsrisiko.
Philip Kerr: "Der zweite Engel". Thriller. Wunderlich, Reinbek b. Hamburg 2000, 442 S., 42 DM

Erik Larson: Isaacs Sturm

Ein Glück, dass es die Wettervorhersage gibt. Wozu sich also Sorgen machen? So oder ähnlich dachten die Einwohner der texanischen Hafenstadt Galveston im Jahre 1900. Doch dieses Jahr sollte der Stadt das fürchterlichste Unglück bescheren, das sie je traf. Und mittendrin Isaac Cline, der lokale Wetterfrosch, selbst völlig überrascht von dem Hurrikan. Erik Larson verknüpft in seinem Roman Episoden aus der Geschichte der Meteorologie mit dem historischen Hurrikan von 1900, der die Menschen zu einer Zeit traf, als man noch an die Unfehlbarkeit der Technik glaubte.
Erik Larson: "Isaacs Sturm". S. Fischer, Frankfurt 2000, 384 S., 39,80 DM

Nancy Kress: In grellem Licht

Für ein Jahrhundert des sorglosen Umgangs mit Chemikalien wird die Rechnung präsentiert: Immer mehr Frauen werden unfruchtbar. Föten sterben im Mutterleib, die Geburtenrate sinkt. Doch geblieben ist der Wunsch nach Kindern - oder einem Kinderersatz. Ein lukrativer Schwarzmarkt entsteht, aber er kann nur durch den kriminellen Missbrauch menschlichen Gewebes befriedigt werden. Und die Regierung unternimmt nichts dagegen, weil sie ihre eigenen Gründe hat, die dunklen Machenschaften zu dulden.
Nancy Kress: "In grellem Licht". Heyne, München 2000, 300 S., 14,90 DM

Ben Mezrich: Reaper - Virus des Todes

In Boston sterben neun Anwälte plötzlich während einer Konferenzschaltung genauso überraschend und scheinbar ohne Grund wie in Vermont eine junge Frau vor dem Fernseher. Die Serie von unerklärbaren Todesfällen scheint kein Ende zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig stoßen die junge Virologin Samantha Craig und der Chirurg Nick Barnes auf eine grauenhafte Spur: Ein neues tödliches Virus verbreitet sich über die Bildschirme und Monitore jeder Art.
Ben Mezrich: "Reaper - Virus des Todes". Roman. Knaur, München 2000, 464 S., 12,90 DM