Die abgewählte Demokratie

Recep Tayyip Erdogan ist neuer Präsident der Türkei

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Am Ende hat alles Hoffen und Bangen nichts gebracht: Wie erwartet wurde der bisherige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Bereits im ersten Wahlgang erhielt er eine deutliche absolute Mehrheit. Seine Gegner hatten gehofft, dass er erst in einer Stichwahl zwei Wochen später zum Präsidenten gekürt würde. Das hätte seinem Image deutlichen Schaden zugefügt, hatte er sich doch im Wahlkampf von Anfang an siegessicher gegeben - und nun Recht behalten. Zwar wurden stellenweise, wie schon bei den Kommunalwahlen im März, Stromausfälle in Gebieten gemeldet, die eher nicht Erdogan-Kernland sind, außerdem soll es kleinere Unregelmäßigkeiten mit der Registrierung von Wählern gegeben haben, nennenswerte Wahlmanipulationen wurden aber entgegen aller Befürchtungen nicht bekannt.

Erdogan wurde schon im ersten Wahl zum neuen Präsidenten der Türkei gewählt. Bild: AKP

Auch sonst lief der Wahltag ohne größere Zwischenfälle ab. In Darica wurde ein Wähler verhaftet, weil er seinen Wahlzettel fotografiert hatte. Kameras oder Smartphones waren an der Urne verboten. Laut dem türkischen Election Board sollte damit verhindert werden, dass Stimmen verkauft und Beweisfotos angefertigt werden, was in der Vergangenheit mehrfach vorgekommen war.

Während von den 1,4 Millionen in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken nur knapp 10% ihre Stimme abgaben, war die Wahlbeteiligung in der Türkei relativ hoch. Fast 40 Millionen der ca. 55 Millionen Wahlberechtigten nahmen am Urnengang teil. Die von Beobachtern vorhergesagte Rekordbeteiligung blieb aber aus. Das Ergebnis von 52% der Stimmen für Erdogan ist eindeutig. Sein von 14 Parteien, geführt von der kemalistischen CHP und der nationalistischen MHP, gestützter Konkurrent Ekmeleddin Ihsanoglu erhielt rund 38%, weit abgeschlagen blieb der Kandidat der BDP/HDP, Selahettin Demirtas, mit nur 9% der Stimmen. Dennoch kann dies als Erfolg verbucht werden, denn Demirtas ist der erste kurdische Präsidentschaftskandidat in der türkischen Geschichte und seine fast zehn Prozent sind weit mehr als ein Achtungserfolg, sondern Symbol einer Zeitenwende, die vorerst eine Ankündigung bleibt.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Eine Mehrheit der Türken hat heute die Demokratie abgewählt. Man kann auch sagen: sich für die Diktatur der Mehrheit entschieden, doch das greift zu kurz. Denn auch diese Mehrheit hat damit den letzten Rest Rechtsstaatlichkeit und damit ihre eigenen Rechte in die Hände eines Mannes gelegt, der Russland und China zu seinen regierungspolitischen Vorbildern erklärt hat. In die Hände eines Despoten, der keinen Widerspruch duldet. Für diese Mehrheit ist Demokratie das Kreuz alle paar Jahre - und eben nicht Konsens, Gleichberechtigung, Schutz von Minderheiten, Meinungsvielfalt, Freiheit. Diese Wähler wollen den autoritären starken Mann, der durchgreift und ihnen seine Meinung diktiert. Dabei ist das ein Widerspruch in sich. Denn einer, der auf Kritik an seiner Politik und Person derart dünnhäutig und cholerisch reagiert wie Recep Tayyip Erdogan ist eben keine starke, sondern eine höchst schwache Persönlichkeit.

Seine Wähler halten ihm zugute, was er in den letzten Jahren für sie getan hat: Er hat erfolgreich die Arbeitslosenquote gesenkt, die sozialen Sicherungssysteme verbessert, den Lebensstandard vor allem der einfachen Menschen spürbar angehoben und sich dabei stets als Mann des Volkes inszeniert. Wenn er sich noch immer regelmäßig bei dem Friseur im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, aus dem er stammt, die Haare schneiden lässt, wenn er dort, wo der Wohlstand immer noch eher zurückhaltend ist, sein Wahlkampfbüro einrichtet, dann ist das eine klare Message: Seht her, ich bin einer von euch! Das verfängt.

Die Tatsache, dass der türkische Wirtschaftsboom sehr fragil ist und größtenteils auf geliehenem Geld basiert, dass das Außenhandelsdefizit sich zu einer ernsthaften Gefahr für die wirtschaftliche Stabilität entwickelt, dass der Bauboom auf kleine Leute wie jene in Kasimpasa keinerlei Rücksicht nimmt und fast durchweg über Korruption funktioniert, das kommt dort nicht an. Diese unbequemen Fakten kommen in den gleichgeschalteten Staatsmedien nicht vor, und wenn andere darüber berichten, werden sie als Lügner hingestellt, und Erdogans Anhänger glauben das - oder wollen es glauben.

Die brutale Niederschlagung der Gezi-Proteste vor einem Jahr war eine überdeutliche Botschaft an die junge, gebildete Mittelschicht, die staatliche Eingriffe in ihr Privatleben ebenso ablehnt wie Medienzensur und Korruption. Nach der Kommunalwahl im März sagte Erdogan, er werde seine Gegner rücksichtslos verfolgen. So spricht kein Demokrat, sondern ein Despot.

Im Zuge der Korruptionsaffäre wurden YouTube und Twitter gesperrt, das türkische Verfassungsgericht hob die Sperren wieder auf. Es war in den letzten Monaten das einzige noch ernstzunehmende Gegengewicht zu Erdogan, nachdem dieser die Gewaltenteilung weitestgehend aufgehoben, das Kabinett umgebildet, missliebige Akteure in Polizei und Justiz hat versetzen oder verhaften lassen, mit dem Ergebnis, dass alle Verdächtigen im Korruptionsskandal inzwischen wieder auf freiem Fuß sind. Als Staatspräsident kann Erdogan die Verfassungsrichter selbst ernennen, und es besteht kein Zweifel daran, dass er sie durch Marionetten ersetzen wird.

Sultan Eyüp Moschee. Bild: G. Wustmann

Als die Wahlergebnisse am Abend bekannt wurden, flog Erdogan nicht zum Regierungssitz nach Ankara, sondern ließ sich zur Eyüp-Moschee in Istanbul fahren, einem der wichtigsten islamischen Heiligtümer, um dort zu beten. Am selben Ort ließen sich die osmanischen Sultane krönen.