Die andere Verfassung

Bolivien streitet um Selbstverwaltungsrechte für indigene Gruppen

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Bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung errang Evo Morales' Movimiento al Socialismo (MAS) 134 von 255 Sitzen. Für die Verabschiedung einer neuen Verfassung ist jedoch eine 2/3-Mehrheit notwendig. Bei den jetzt laufenden Verhandlungen kristallisiert sich heraus, dass der Streit zwischen Regierung und Opposition weniger um die Frage von Zentralismus vs. Regionalismus geht, als darum, nach welchen Kriterien das Subsidiaritätsprinzip umgesetzt werden soll.

80% der Bevölkerung Boliviens lebt im Altiplano, dem in 3000 bis 4000 Metern Höhe gelegenen Hochland, das etwa 1/3 der Fläche Boliviens einnimmt. Die anderen 2/3 verteilen sich in der Form eines Halbmondes (spanisch: "Media Luna") auf die vier Departamentos Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija. Sie sind nur verhältnismäßig dünn besiedelt, allerdings befinden sich dort die erst vor relativ kurzer Zeit bzw. noch gar nicht erschlossenen Öl- und Gasfelder. Bei dem gleichzeitig mit der Wahl zum Verfassungskonvent durchgeführten Referendum votierte die Mehrheit der Bewohner des Media Luna für einen Bundesstaat mit umfassenden Autonomierechten für die Departamentos - die zahlenmäßig stärkere Mehrheit der Bewohner des Hochlands stimmte dagegen. Dort fürchtet man, dass die Einnahmen aus den Bodenschätzen nur in die Hände weniger Großgrundbesitzer fließen würden (Vgl. Machtkampf in Bolivien).

Den größten Konfliktstoff zwischen der Opposition und dem Regierungslager liefern derzeit die Autonomierechte für die Indígenas. Über die in der europäischen Presse gern als Schlagwort genannte Landreform wird zwar ebenfalls kontrovers diskutiert, allerdings im Rahmen einer allgemeinen Sozialbindung von Eigentum, wie sie auch das deutsche Grundgesetz (nicht aber die EU-Verfassung) kennt. Diese Regelung soll dann auch für die Ausbeutung der Bodenschätze gelten.

Neue Selbstverwaltungsrechte für indigene Gemeinschaften

In den Debatten der Verfassungskommissionen kristallisierte sich heraus, dass das Morales-Lager zwar eine gewisse Autonomie der Departamentos garantieren, aber daneben auch Selbstverwaltungsrechte für indigene Gruppen einführen will. Die Grenzen der Siedlungsgebiete der Indígenas entsprechen jedoch nicht denen der Departamentos. Die Abgeordneten aus dem Media Luna befürchten deshalb, dass diese Indígena-Autonomie nicht nur ihre eigenen Selbstverwaltungsrechte aushebelt, sondern auch ihre territoriale Integrität bedroht. Die Konfliktlinie verläuft also weniger zwischen Regionalisten und Zentralisten als zwischen jenen, die Selbstverwaltung anhand der (ohne Rücksicht auf die Besiedelung gezogenen) Departamento-Grenzen fordern, und solchen, die sie auch anhand der Sprachgruppen wollen.

Sprachen und Verwaltungsgrenzen in Bolivien. Karte: Telepolis.

Von den etwa neun Millionen Einwohnern Boliviens sind 67% Indígenas. Sie gliedern sich in mindestens 31 Gruppen, die in 11 Sprachfamilien zusammengefasst werden können. Die größten Gruppen sind die Quechua-Sprecher mit 30,7% Bevölkerungsanteil und die ebenfalls im Hochland lebenden Aymara mit 25,2%. Während die kleineren Sprachen langsam verschwinden, erleben die großen eine Blüte. Quechua, das von Südkolumbinen bis Nordchile von insgesamt etwa 10 Millionen Menschen gesprochen wird (und das neben Spanisch und Aymara Amtssprache in Peru ist), wurde nicht nur im Inkareich, sondern auch von den Spaniern als Verkehrssprache im südamerikanischen Hochland genutzt und breitet sich bereits seit dieser Zeit auf Kosten kleinerer indigener Sprachen aus. Aber auch beim Aymara, der Muttersprache des Präsidenten Evo Morales, dem zur in Brasilien weit verbreiteten Macro-Ge-Familie gehörigen Chiquitano, und dem Guaraní, das in Paraguay zweite Amtssprache ist, steigt die Zahl der Sprecher. Von den nicht-indianischen 33% der Bevölkerung sind etwa 5,5% Weiße. Die restlichen 27,5% der Bevölkerung sind Mestizen, Mischlinge aus Indianern und Weißen, die für Europäer meist wie "Musterindianer" aussehen.

Die Vorschläge der in die Versammlung gewählten Gruppen werden derzeit in den Kommissionen diskutiert. Anschließend gelangen ein Mehrheits- und ein Minderheitsvorschlag in das Plenum, das erst über die beiden Vorschläge in ihrer Gesamtheit abstimmt und danach über die einzelnen Artikel. Erreicht ein Artikel keine Zweidrittelmehrheit wird er dem Volk zur Entscheidung vorgelegt.