Die aufgegebenen Baracken der ersten Welt

Französische Vorstädte: "Ich schäme mich" - der Bericht eines Bürgermeisters aus der Banlieue erzählt von unglaublichen Zuständen, Mietwucherern und dem Schnellkochtopf, der explodieren könnte

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Die Aufzüge taugen höchstens noch als Toiletten. Egal, auf welche Sites man schaut, um sich über die Wohnverhältnisse in französischen Banlieues zu informieren, der kaputte Aufzug ist überall Thema der Proteste von Bewohnern. Zehn bis siebzehn, achtzehn Stockwerke haben die großen Wohnkomplexe mindestens, das Hinauftragen der Einkäufe ist eine tägliche Plackerei - und nicht die schlimmste der Nöte in den "aufgegebenen Territorien der Republik", wie sie der Bericht des Bürgermeisters Claude Dilain von Clichy-sous-Bois schildert. Sein Eingeständnis, "Ich schäme mich, dass ich der ohnmächtige Repräsentant der französischen Republik bin", beklagt ohne Pathos eine Distanz, die man auch aus deutschen sozialpolitischen Debatten kennt: die Kluft zwischen politischen Formeln, Phrasen und Zielen und der Wirklichkeit, die Ignoranz derselben.

Chêne Pointu: Empörte Bewohner; Screenshot aus einem Video. Quelle: Redresser Ensemble le Chêne Pointu

Auch im Schreiben Dilains kommt ein kaputter Aufzug vor. Zusammen mit einer Delegation Abgeordneter aus Paris, die im Rahmen einer "Mission zur Bewertung politischer Maßnahmen in Problemvierteln" zu Gast bei Dilain und dessen Kollegen aus Montfermeil (ebenso eine Problemzone) sind, besucht der Bürgermeister ein großes Wohnhaus in Le-Chêne-Pointu, einem ghettoähnlichem Viertel in Clichy-sous-Bois. Der Bürgermeister nahm den Brand, der dort ausgebrochen war, zum Anlass für einen Ortstermin.

Das heruntergekommene Gebäude beherbergt 1 500 Wohnungen. Alle Aufzüge sind außer Betrieb, seit Monaten, Dilain schildert eine Frau, die ihren vollen Einkaufscaddie am Hals zum 8ten Stock hochschleppt; er beschreibt die dunklen verschimmelten Wände von Wohnungen, dass einzelne Zimmer an ganze Familien, meist afrikanischen Ursprungs, mit Kleinkindern vermietet werden, zu horrenden Preisen - 420 Euro für ein 10 bis 15 qm großes Zimmer, 700 Euro für das Wohnzimmer. Ohne Mietvertrag (einen regulären Arbeitsvertrag hat der Familenvater übrigens schon, er arbeitet seit elf Jahren in Frankreich, heißt es im Bericht). Der Vermieter wird im französischen "marchand de sommeil", Händler des Schlafes genannt, das Wörterbuch schlägt dafür die deutsche Übersetzung "Mietwucherer" vor.

Sein Besuch, der sich mit Licht aus Taschenlampen vortastet, weil der Strom durch den Brand ausgefallen ist, sei ihm in Augenblicken surreal vorgekommen, schreibt Dilain, der die Verhältnisse seit Jahren kennt. Das halbe Wohnhaus scheint sich im Dunklen aufgemacht zu haben, um die Abgeordneten aus Paris zu sehen - die Jugend ohne Hoffung: "Die Politiker machen doch nichts".

Man müsse darum kämpfen, dass sie ein Zugehörigkeitsgefühl zur französischen Nation haben, verkündete die zuständige Staatssekretärin Fadela Amara vor dem Treffen in Nizza vergangene Woche beratschlagt wurde, wie es weitergehe mit dem "Plan Hoffnung" für die Banlieues.

Bild: Marianna. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Der "Plan Espoir" war 2008 offiziell vom Präsidenten als eine Art "Marshall-Plan" für die Banlieues lanciert worden. Mit einem großen Volumen an Geldströmen, die versprochen wurden, manche Berichte sprechen von einer halben Milliarde Euro.

Die Bilanz, die der Bürgermeister dazu zieht, unterschiedet sich von Amaras Bilanzen, welche der Zuversicht verschrieben sind: für die Jungen, die Arbeitslosigkeitsraten zwischen 25 und 40 Prozent aufweisen, bleiben die Wohnviertel zwei Jahre später unverändert Favelas, die in die Höhe gewachsen sind, und die Aussichten bleiben ganz unten, ohne funktionierenden Aufzug.

Fadela Amara, die selbst aus einer Familie stammt, die in einer Banlieue gelebt hat, gibt sich besorgt angesichts der überaus hohen Quote an Wahlabstinenzlern bei den Regionalwahlen. Die Viertel könnten zum toten Winkel der öffentlichen Debatte werden, sagte sie beim "Hoffungsplan Banlieue"-Treffen in Nizza:

Il y a eu une abstention sans précédent dans les quartiers populaires, ce qui m'interpelle et m'inquiète. (...) Le risque c'est que les quartiers populaires deviennent l'angle mort du débat public

Chêne Pointu (Screenshot aus einem Musikvideo wütender Jugendlicher)

Der Bürgermeister von Clichy-sous-Bois, wo 2005 die Unruhen in den Banlieues ausgebrochen sind, fragt sich angesichts der augenscheinlich ignoranten Politik, ob man auf neue Unruhen warte, darauf, dass der Schnellkochtopf explodiere?

Qu'attendons-nous ? De nouvelles émeutes ? Que la "Cocotte-Minute" explose?

Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun lässt demgegenüber in seinem heutigen Kommentar keinen Zweifel daran, dass die Alarmglocken ungehört bleiben und weitere Aufstände das Ergebnis sein werden:

Weitere Aufstände werden kommen. Sie werden andere Formen annehmen und Unruhen provozieren, die schließlich in mehreren Städte aufflammen werden. Bislang hat die wütende Jugend sich von materiellen Gütern zerstreuen lassen und niemanden getötet. Aber sie verbreiten Angst unter den Mitbürgern. Niemand will mehr seinen Nachbarn sehen, das versteht sich. Das ist besonders der Fall bei Einwandererfamilien, die, wie die französischen, nicht länger in dieser Hölle leben können.

Tahar Ben Jelloun ist ein Schriftsteller, kein politischer Analytiker, gut möglich, dass er übertreibt. Ebenso wie das Buch "Der Aufstand, der kommen wird" ("L'Insurrection qui vient"), das im Herbst letzten Jahres in den französischen Buchhandlungen als Top-Titel präsentiert wurde - und einem Fox-Moderator schon Schauder über den Rücken jagte (die englische Übersetzung lautet "Coming insurrection", vgl. dazu « L'Insurrection qui vient » affole les Américains).

Möglich, dass auch die Schrift des "Comité invisible", die einen No-Future-Leerlauf der offiziellen Politik und Verzweiflung auf Seiten wachsender Teile des Bevölkerung schildert, bei ihrer Schilderung der Zustände ihren Phantasien nachgibt. Der Bericht des Bürgermeisters nimmt sich dagegen nüchtern aus.