Die doppelgesichtige Demokratie

Aserbaidschan: Ölinteressen und innere Freiheit

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Die Unabhängigkeit Aserbaidschans nach der Implosion der Sowjetunion führte den Vielvölkerstaat mit unterschiedlichen Nationalitäten, Aseris, Russen, Talyschen, Awaren, Tataren, Ukrainern, Kurden, Lesginen nicht in die Freiheit, sondern in die Abhängigkeit einer autoritären Regierung. Doch unabhängige Journalisten und Menschenrechtsakteure wie Leyla Yunus vom Institut für Demokratie und Frieden in Baku stehen für die Kehrseite, für die Forderung nach echter Demokratie, im Land.

Leyla Yunus, Leiterin des Instituts für Demokratie und Frieden in Baku, Aserbaidschan kann es kaum glauben. Seit 1. Juni ist sie für sechs Monate zusammen mit ihrem Ehemann Arif Stipendiatin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. "Hamburg ist eine andere Welt. Hier begegne ich Stipendiaten aus Mexiko, Belarussland, Skrilanka. Im Gespräch mit ihnen, merke ich, wie sie alle um ihre Probleme im Land kreisen. Sie können nicht abschalten", erzählt die Menschenrechtaktivistin gegenüber Telepolis.

Und dennoch, was bei uns in Aserbaidschan undenkbar ist, erscheint hier in Hamburg möglich; ein Stipendium nur dafür zu bekommen, um auszuruhen, vom Stress der Verfolgung politischer Andersdenkender im Vergleich zum Präsidenten und Vorsitzenden Ilham Alijew der Partei Neues Aserbaidschan, Yeni-Azarbaycan Partiyas, sowie seinem Familienclan.

Die zerstörte Hoffnung

Aserbaidschan, ein Zentralstaat mit 78 Gebietskörperschaften, ist seit seiner Unabhängigkeit am 18.10.1991 der Verfassung nach eine Republik, eine Präsidialdemokratie mit Einkammerparlament. Die Medien unterliegen einer Registrierungspflicht. Menschenrechtsakteure wie freie Journalisten kritisieren jedoch, dass der Republikstatus reine Fassade sei.

Dabei ruhten 1991 mit der Implosion der Sowjetrepubliken alle Hoffnungen auf der Reformbewegung. Leyla Yunus gehörte zu den jungen Republik-Reformern, die für echte Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz und freie Wahlen einstanden. Sie gehörte zu den Unterstützern des unabhängigen Präsidentschaftskandidaten der Volksbewegung Abulfaz Elcibey und erhielt nach den freien Parlamentswahlen 1992 ein Abgeordnetenmandat. Zwischen 1992 und 1993 arbeitete sie als Direktorin des Analysezentrums für die Information von Massenmedien im Verteidigungsministerium. Doch mit dem Staatsstreich in Juni 1993, der Heydar Aliyev von der Partei Neues Aserbaidschan an die Macht brachte, verließ die Historikerin, die 1982 über die Englisch-Russische Rivalität im Kaspischen Meer und in Aserbaidschan in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts promovierte, das Ministerium.

Enttäuscht von der Regierungsentwicklung, die zum autoritären Einparteienstaat nach sowjetischem Muster mutierte, widmete sie sich ganz der Arbeit zum Schutz der zivilen Bevölkerung.

Aliyevs Verwaltungsarm kontrolliert und ahndet jeden Freiheitsimpuls

Yunus Hauptarbeit liegt im Monitoring der politischen Institutionen, des Parlaments, der Exekutive und Judikative in Aserbaidschan. Keine der Gewalten, am wenigsten die Justiz, funktioniere unabhängig. Die Gefängnisse seien überfüllt mit politischen Langzeithäftlingen. Ihr Vergehen: sie haben sich an einer Demonstration beteiligt; sie haben die Oppositionspartei gewählt; sie haben eine unabhängige Zeitung herausgebracht.

Auch Handlungen, die eigentlich im Sinne der Verfassung sein müssten, wie das öffentliche Singen der Nationalhymne anlässlich des Nationalfeiertages am 28. Mai zum Andenken an die 1. Republik von 1918 bis 1920 wurden bestraft. Die Polizei ertappte 10 bis 12 Jugendliche, wie sie auf einem öffentlichen Platz dem Nationalfeiertag mit Blumenschmuck gedachten. Aus Sicht der Polizei waren es politische Gegner oder solche, die es werden könnten. Sie ergriff jeden einzelnen. Auf der Wache zahlten die Frevler eine Strafe von 22 Euro, wurden kurzzeitig inhaftiert, wobei diejenigen, die sich wehrten, mit Schlägen traktiert wurden.

Bei den Präsidentschaftswahlen vom 15.10.2003 gab es eine hohe Wahlbeteiligung, da die Hoffnung auf einen Regierungswechsel bei der Union der Oppositionsparteien gegenüber der Mehrheitspartei "Neues Aserbaidschan” lag. Yunus wie auch internationale Wahlbeobachter sprechen von Wahlbetrug. Die Wahlhelfer der Regierungspartei fälschten das Abstimmungsergebnis, so dass die Oppositionsparteien scheinbar kaum Stimmen erhielten und der Sohn Ilham Aliyev des ehemaligen Altkommunisten und Präsidenten Heydar Aliyev an die Macht kam. Daraufhin gingen die empörten Wähler auf die Straße, um gegen das gefälschte Ergebnis zu demonstrieren.

Bei der Demonstration droschen die Polizisten mit Knüppeln auf junge Erwachsene, Frauen, alte Menschen ein und inhaftierten die meisten Demonstranten. Viele starben nach den Ausschreitungen mit den Behörden oder trugen andere körperliche Verletzungen davon. So auch die Demonstrantin Mahira Muradova, die wegen der gewaltsamen Übergriffe der Polizei ihr Augenlicht verlor. Im Gegensatz zu vielen anderen, die aus Angst danach stillhielten, zog sie aber vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) und klagte. Im April 2009 bekam sie vor dem Europäischen Gerichtshof Recht und die Regierung musste Muradova eine Entschädigung zahlen.

Verdrehung der Identität der Oppositionellen

De jure gibt es zwar Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Faktisch hängt jedoch die Ausübung jedes Grundrechts von der Zustimmung der Behörde ab. Lehnt sie beispielsweise ein Gesuch auf Durchführung einer Demonstration ab, ist diese illegal, wird sie dennoch durchgeführt. Und die Demonstranten begeben sich in höchste Gefahr, da sie als Staatsfeinde betrachtet werden. Zu Zeiten der noch existierenden Sowjetunion wusste man, warum man ins Gefängnis kam, weil man gegen einen oder mehrere Artikel des Kriminalgerichtshofs verstoßen hatte.

Durch die formaljuristische Anpassung der Gesetzgebung an die Standards der Europäischen Union in Aserbaidschan ist eigentlich der Rechtsstaat etabliert. Doch der Alltag ist ein anderer. Die Opposition wird systematisch von der Regierung mit Verleumdungskampagnen bekämpft. "Nun wird man auf Verdacht inhaftiert, indem man beschuldigt wird, ein Terrorist oder Dealer von Drogen zu sein. Im Gefängnis jubeln die Behörden dem Häftling bei der Durchsuchung Drogen in Kleider und Schuhe unter", kritisiert Leyla Yunus. Hierbei versucht die Verwaltung, die Identität der Menschen zu zerstören.

Seit 1995 zählen und registrieren die Mitarbeiter des Instituts für Frieden und Demokratie die politischen Gefängnishäftlinge und Gewissensgefangenen. "Wir kennen jeden einzelnen Namen, seine Geschichte, seine Familie", sagt die Historikerin.

Der Fall des Gewissensgefangenen Eynulah Fatullayev

Der Fall des Journalisten Eynulla Fatullayev, Herausgeber der ehemaligen unabhängigen Tageszeitung Realniy Azerbaijan, ist Leyla Yunus bestens bekannt. Wie amnesty berichtet, ist Fatullayev am 6. Juli vom Bezirksgericht Garadag und dessen Richter Ismayil Halilov zu einer Geld- und erneuten Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden.

Der Grund der Verurteilung: Er habe gegen Artikel 234.1. "illegaler Drogenbesitz" verstoßen, weil am 29.11.2009 angeblich 0,22 Gramm Heroin in seinen Kleidern und Schuhen bei der Durchsuchung im Gefängnis gefunden worden waren. Rechtsanwalt Isahan Ashurov hat die Gerichtsentscheidung als "illegal und unfair" bezeichnet. Der Vater Eynullas, Emin Fatullayev, beurteilte die Strafe als "Folge einer politischen Anordnung der präsidentiellen Verwaltung".

2007 war Fatullayev von drei Bezirksgerichten bereits zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er sich des Terrorismus und der rassistischen Diffamierung schuldig gemacht haben sollte. Am 22.04.2010 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die sofortige Freilassung des Journalisten gefordert und die Urteile als illegal beurteilt. Die aserbaidschanischen Behörden haben jedoch gegen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Klage erhoben.

"Wir haben die Liste mit den gefolterten Personen. 2009 starben sechs Personen im Gefängnis wegen Folter, 2006 waren es 12. 2005 sind 120 Personen in den aserbaidschanischen Gefängnissen gefoltert worden", fügt Yunus hinzu, die aufgrund ihrer Menschenrechtsaktivitäten selbst unter Druck geraten war.

Seit 2001 konnte das Institut für Demokratie und Frieden, das von der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Auswärtigen Amt und dem Norwegischen Außenministerium finanziell unterstützt wird, 714 politischen Häftlingen helfen. Yunus unterstützt die Familien der Angeklagten beim Ausfüllen der Unterlagen, damit sie vor dem EGMR Klage erheben können. Sie reicht die Folterfälle an Amnesty International, Human Rights Watch und die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) weiter. Zudem publiziert sie die Fälle auf der Webseite des Instituts und in den unabhängigen Massenmedien der Region. So auch in der unabhängigen aserbaidschanischen Tageszeitung Bizim Yol, "Unser Weg”, (Auflage: 6000 Exemplare), für das der Journalist und Gerd-Bucerius Preisträger "Freie Presse Osteuropa” von 2009 Natiq Cavadli, ein Kollege von Eynulla Fatullayev, arbeitet. Cavadli hatte zusammen mit Eynulla Fatullayev vor seiner Festnahme für die inzwischen von der Regierung verbotenen unabhängigen Tageszeitungen "Gundalik Azerbaycan" und "Realniy Azerbaijan", die in Russisch erschien, geschrieben.

Schwierige Ausgangslage für die freie Presse

In Aserbaidschan übt im Unterschied zum staatlichen Hörfunk Araz und Kabel 1 und den fünf staatlichen Fernsehsendern, die als regierungstreu gelten, nur noch eine Handvoll unabhängiger Journalisten die Kontroll- und Kritikfunktion gegenüber den Staatsinstitutionen aus. Die regierungstreue Presse hat im Unterschied zur freien Presse Zugang zu moderner Redaktionsausstattung und Werbeanzeigen, die ihr die Regierung zuspielt, wenn sie dabei auf Kritik gegenüber "dem Präsidenten, dem Parlament und der Exekutive verzichtet", sagt Natiq Cavadli.

Leyla Yunus nutzt geschickt die versprengte freie Presse, die sich ohne Werbeeinnahmen über Wasser zu halten versucht, wie die unabhängige Tageszeitung Novoe Vrema und die unabhängige Nachrichtenagentur Turan als Sprachrohr für ihre Arbeit. Um die internationale Gemeinschaft über die Menschenrechtssituation vor Ort zu informieren, gibt sie Interviews bei der BBC, bei der Voice of America und Radio Freedom in Prag. Doch so erreicht sie nicht die Bevölkerung des Landes.

Die Wenigsten können sich eine Tageszeitung leisten, die nur sporadisch und in einer geringen Auflage in den Gebietskörperschaften verteilt wird, denn die Armut ist in den Provinzen weit verbreitet. Nationale Sender berichten nicht grundsätzlich über jedes Ereignis in der Welt, beispielsweise auch nicht über die Besetzung Georgiens durch die russische Armee. Und Sattelitenübertragung ist teuer. Beliebt ist das iranische Fernsehen Sahar-2, das zwar nicht die iranische Politik kritisiert, aber Oppositionsparteiführer Aserbaidschans zu Wort kommen lässt und von der Bevölkerung im Süden Aserbaidschans empfangen werden kann. Viermal pro Tag zeigt es Nachrichten auf zwei Programmen.

"Das Internet hingegen wird kaum genutzt. Wenige besitzen einen Computer mit Flatrate, die bis zu 350 US Dollar kostet oder gehen in Internetcafes", sagt Yunus. Zudem diskutiere das Parlament derzeit über die Neuregelung des Internets, woraus eine Zensur erfolgen kann. Vor einem Jahr wurden die zwei Internetblogger Adnan Hagizade und Emin Milli, die noch auf ihre Gerichtsverfahren warten, eingesperrt.

Während es vor acht Jahren noch zehn unabhängige Tagezeitungen gegeben hat, sind es 2010 nur noch zwei (Bizim Yol, Novoe Vrema) und die unabhängige Nachrichtenagentur TURAN. Der Regierungsclan gehe systematisch bei der Zensur vor. Wer die langwierige Registrierungsprozedur überstehe, bekomme keine Werbeanzeigen, da sie von der Regierungspresse monopolisiert werden. Die meisten Tageszeitungen werden vom Regierungsclan einfach aufgekauft. "Die Aserbaidschaner lesen die regierungstreue Presse nicht gerne, da sie uninteressant ist, weil über sie keine, für die Öffentlichkeit wichtigen Informationen verbreitet werden", versichert die Stipendiatin.

Ölinteressen und die geopolitisch günstige Lage stehen vor Demokratieförderung

Die Diplomatie aus dem Ausland kenne wohl die politische Situation der Bevölkerung am Kaspischen Meer, hütet sich aber vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Republik im östlichen Südkaukasus. Selbst, als Hillary Clinton am 4. Juli das Land besuchte, war sie vorsichtig im Urteil. "Auch die USA haben 230 Jahre auf dem Weg zur Demokratie gebraucht", sagte die Außenministerin bei ihrem Staatsbesuch.

Ein Fallstrick für demokratischen Wandel sei sicherlich die prowestliche Haltung des Präsidenten Aliyevs. Ein zweiter die Öl- (14 Milliarden Barrel) und Erdgasvorkommen (3.300 Milliarden Kubikmeter) des Landes. Der Anteil von Eröl- und Erdgasexporten am Gesamtexport beträgt 91,7 Prozent des BIP. Die reichen Öl- und Erdgasquellen ermöglichen Europa eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber russischem Öl. Ein dritter Fallstrick die geopolitische günstige Lage zwischen dem Iran und Russland. Aserbaidschan beteiligte sich an der Antiterroraktion. US-Flugzeuge sind von Aserbaidschan nach Afghanistan gestartet, sagt Leyla Yunus, die noch bis Dezember 2010 in Hamburg bleibt.