Die eiserne Logik der Eskalation: Weiterspielen oder die Notbremse ziehen?

Seite 2: Wettstreit im Risikoverhalten

Dennoch gilt für jede Großmacht, die über Atomwaffen verfügt, das Wort von Henry Kissinger aus seiner 1957 erschienenen Studie, in der er der nuklearen US-Strategie die Richtung wies3:

Diejenige Seite, die eher willens ist, einen totalen Krieg zu riskieren oder die den Gegner von ihrer stärkeren Bereitwilligkeit überzeugen kann, dieses Risiko zu übernehmen, befindet sich in der stärkeren Lage.

Absichtlich muss man sich also, so Kissinger, in Richtung Abgrund bewegen und darf nicht davor zurückscheuen, vielleicht über dessen Rand in die Tiefe zu stürzen. Deshalb nennt sich das Verfahren auch brinkmanship. Der "Rand" (the brink), hinter dem alles zu Ende ist, darf keine Furcht auslösen.

Wie reagierte der Westen auf Putins Einordnung auf der Mittellinie, während er mit geballter Faust heranraste? Er gab nicht wie Putin Vollgas, aber er hielt Kurs und wich dem möglichen Zusammenstoß nicht aus. Schrittweise steigerte es seine militärische Unterstützung der Ukraine. Schließlich war es nur noch eine Angelegenheit der Perspektive, ob man das als aktive Kriegsteilnahme betrachten wollte oder nicht.

Das hatte Erfolg. Russland drohte zwar weiter, zog sich im Übrigen aber teilweise zurück und begnügte sich vorläufig mit Annexionen im Osten der Ukraine. Kiew – anders als offenbar geplant – wurde nicht erobert. Eine Art Pattsituation stellte sich ein, ein Abnützungs- und Stellungskrieg.

Seit auch noch die Prigoschin-Rebellion dazu kam, steht Russland ziemlich schlecht da. Sein Prestige hat Schlagseite bekommen. Ob Putin der international bewunderte Gangleader werden wird, wie erträumt, oder ein geschmähter Feigling, steht infrage.

Zurück also zum game of chicken. Im Rahmen der Spielregeln muss Russland erneut Gas geben. Unmöglich kann hingenommen werden, dass ukrainische Drohnen in Moskau einschlagen oder Russland gar demnächst mit Langstreckenraketen oder Marschflugkörpern angegriffen wird. Was also tun?

Dabei ist es keineswegs nebensächlich, dass Russland nicht nur numerisch über die meisten Nuklearwaffen verfügt, sondern auch über die modernsten und einsatzfähigsten. Die haben eine Menge gekostet.

Während der Westen im game of chicken zu gewinnen scheint, und die Ukraine ihre Offensive auf Gebiete auszuweiten versucht, die Russland als seine eigenen betrachtet, läge es nun nahe, zu Atomwaffen zu greifen. Keine Frage: Putin denkt darüber nach, keine Frage auch, dass Biden es ebenso tut. Das atomare Tabu ist eine Schimäre.

Sowohl in Russland als auch vor allem in den USA werden Atomwaffen als ganz normale Waffen betrachtet, wenn auch der obersten Kategorie.4

"Glaubwürdigkeit" als Zwang zum Äußersten

Die Regeln des Wahnsinnsspiels am Rand des Abgrunds werden deutlicher, wenn man auf das Problem der Glaubwürdigkeit schaut. Nukleare Abschreckung wirkt nur, sofern sie glaubwürdig ist. Atomwaffen werden zu einer Fehlinvestition, wenn man nicht eindeutig versichern kann, dass man davon auch Gebrauch machen würde.

Glaubwürdigkeit hat auch einen weltpolitischen Aspekt und bezieht sich auf jene Staaten und Regionen, die sich durch eine Atommacht geschützt fühlen. Zurzeit betrifft dieser Gesichtspunkt hauptsächlich die USA und die sogenannte erweiterte Abschreckung und damit auch Deutschland.

Doch wie erzeugt man Glaubwürdigkeit? Auf jeden Fall so, dass der Finger am Abzug sichtbar wird. Zum Beispiel durch Hochrüstung, in Deutschland nennt sich das "Zeitenwende". Außerdem kann die Modernisierung von Nuklearwaffen vorangetrieben werden, Deutschland ersetzt sein altes Fluggerät zum Transport von Massenvernichtungsmitteln durch geeigneteres neues.

Speziell müssen die als taktisch bezeichneten Tötungsgeräte so auf Vordermann gebracht werden, dass sie an Treffgenauigkeit, Schnelligkeit und Durchschlagskraft zunehmen. Während viele wähnten, die atomare Bedrohung sei verschwunden, läuft dieser Prozess in Ost und West schon lange.

Ist ein Konflikt bereits ausgebrochen wie im Moment, so setzt das game of chicken auf Eskalation. Klar, Putin eskaliert, aber vor allem der Westen tut es. Zwar kennt der Westen Russlands Nukleardoktrin, die atomar zu reagieren androht, wenn das eigene Staatsgebiet in Mitleidenschaft gezogen wird, aber den Spielregeln entsprechend steigert der Westen seine Teilnahme am Krieg Zug für Zug.

Betriebsblindheit wäre dabei ein verharmlosendes Wort, um zu erklären, wie völlig die Raser den Überblick verloren haben.

Beruht brinkmanship generell auf der Steigerung von Unsicherheit und Unberechenbarkeit, so befindet man sich jetzt auf einem Territorium voller Nebelkerzen. Manche Kraftmeier beim Chicken-Spiel der Straßenszene betrinken sich großkotzig, bevor sie losrasen.

In der Politik entspricht das der sogenannten Madman-Theorie, auch eine Erfindung von Henry Kissinger. Um damals Nordvietnam in die Knie zu zwingen, streute er die Botschaft aus, Präsident Nixon sei verrückt geworden und sein Zeigefinder zittere nervös über dem Atomknopf.5

Tatsächlich war der Präsident häufig betrunken und kam auch sonst oft wie ein Madman rüber. Wann also wird es knallen? Man weiß einfach nicht, wo sich bei Putin die atomare Schwelle befindet. Oder wird einer der Kontrahenten auf die Bremse treten?

Immerhin – intelligent wäre es jedenfalls – könnte man aussteigen und miteinander zu reden versuchen. Aber während man selbst Gas gibt, soll Putin eine Vollbremsung hinlegen. Darunter geht es nicht. Aus westlicher Sicht jedenfalls. Etwas ändern könnte sich allenfalls, weil man ein ähnliches Spielchen mit China ins Auge fasst und das für wichtiger hält.

Doch vorläufig droht Putin nur. Stellvertretend lässt er durch seinen Gefolgsmann Medwedew mitteilen, dass sich Russland in einer Zwangslage befinde. Würden die ukrainischen Offensiven auf russisches Staatsgebiet, mithin auch auf die Republiken im Donbass oder auf die Krim ausgeweitet, gäbe es keine andere Wahl, als Nuklearwaffen einzusetzen6 :

Es gibt einfach keinen anderen Ausweg.

Freilich war das nach so vielen Wiederholungen ein stumpfes Schwert, denn Drohungen schleifen sich ab und man gewöhnt sich daran. Die im Übrigen dumpfe Unfähigkeit, Atomwaffen überhaupt noch angemessen als lebensgefährlich zu empfinden, tut dabei ein Übriges.

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