Die ersten Opfer im angeblich erfolgreichen Krieg

Wie ein Sieg gegen ein ruiniertes Land aussehen könnte, wird immer schleierhafter, Bin Ladins Aufenthaltsort und der seiner Mitstreiter hingegen ist noch immer unbekannt

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Die Militärschläge aus der Luft scheinen, wie sich befürchten ließ, vor allem Kollateralschäden zu verursachen. Viel lässt sich in einem ruinierten Land nicht mehr zerstören, in dem anders als im Irak- oder Kosovokrieg die Gegner kaum über zerstörbare militärische Infrastrukturen und Hightech-Waffen verfügen. Smart Bombs helfen wenig gegen Krieger mit Kalaschnikows, die sich überall verstecken können. Vielleicht wurden einige Flughäfen, Flugabwehrstellungen, Trainingslager und Gebäude zerstört, anscheinend aber auch zivile Ziele und gar ein Haus, in dem vier afghanische UN-Mitarbeiter einer Minenräumgruppe umkamen. Bedenkt man den Einsatz an Geld, Menschen und Ressourcen, den diese Angriffe jetzt schon auf Seiten der Angreifenden gekostet haben, und den Schaden, den sie aufgrund der Flüchtlingsströme, aber auch durch das Schüren von Protesten mit sich gebracht haben, dann muss man eigentlich kein Friedensbefürwortet sein, um festzustellen, dass bislang diese Demonstration der Macht im Zeichen der "Enduring Freedom" strategisch gescheitert ist.

Ein solcher Krieg, wie ihn die US-Regierung ihn mit Unterstützung der Briten und vielleicht bald auch noch mit Truppen anderer Staaten führt, ist zwar verständlich, weil man eigene Opfer scheut und daher auf den Angriff aus möglichst weiter Entfernung setzt, scheint aber ebenso weit von der Wirklichkeit entfernt zu sein wie die Flugzeuge, die ihre Bomben und Lebensmittelpakete über dem Land abwerfen. Zwar sind reiche und hochindustrialisierte Länder durch solche Luftschläge schwer zu schädigen, das zeigten nicht zuletzt die Anschläge der Terroristen, die die Flugzeuge in Raketen verwandelten, aber in einem weitgehend entstädterten Land ohne große technische Infrastruktur und mit einem Militär, das vermutlich eher in kleinen Gruppen aus dem Hinterhalt kämpfen wird, gibt es keine zentralen Schläge auf die zivile oder militärische "kritische Infrastruktur".

Schon jetzt gehen den Angriffen, zynisch gesprochen, die Ziele aus. Man werde sich, versicherte Rumsfeld gestern, auf neue entstehende Ziele konzentrieren. Allerdings betonte er, wie immer man dies interpretieren will: "Uns gehen die Ziele nicht aus, aber Afghanistan." Generalstabschef sekundierte und versicherte, dass diejenigen, die Erfolg in der Quantität suchen würde, einen Fehler begehen und am "alten Denken" kleben würden, wodurch sie verstünden, "was wir machen". Gleichwohl sprach er zuvor davon, dass man gestern 13 Ziele mit Bombern angegriffen sowie von zwei Schiffen und einem U-Boot 15 Tomahawk-Raketen abgeschossen habe. Zwei Flugzeuge hätten 37.500 Tagesrationen an Lebensmitteln über Afghanistan abgeworfen.

Die Ankündigung in einem Brief an den Sicherheitsrat, das den USA von diesem zugestandene Recht auf Selbstverteidigung auch auf andere Länder und Organisationen auszudehnen, da man sich noch ganz am Beginn des Kriegs befinde, beruhigt da natürlich keineswegs. Noch hat sich die US-Regierung über andere mögliche Ziele in Schweigen gehüllt, auch wenn die Liste der als Terrororganisationen bezeichneten Gruppen, dafür Hinweise geben könnte. Aber ein Scheitern in Afghanistan könnte möglicherweise die Notwendigkeit entstehen lassen, dann zumindest anderswo Erfolge melden zu können. Der britische Außenminister ist allerdings schon einmal in Deckung gegangen und hat betont, dass die militärische Unterstützung Großbritanniens nur für Afghanistan gilt. Premierminister Blair hingegen hat sich die Sprache der US-Regierung zu eigen gemacht, dass mit der Zerschlagung von al-Quaida der Kampf noch nicht vorüber sei.

Schon vorgestern hatte Verteidigungsminister Rumsfeld daher die Ziele sicherheitshalber kleiner gesetzt, um die Erwartungen herunter zu schrauben. Die Luftschläge seien "nur ein Teil einer umfassenden Kampagne", den globalen Terrorismus zu besiegen: "Cruise Missiles und Bomber werden dieses Problem nicht lösen. Wir wissen das." Sie sollen, so Rumsfeld über die Materialschlacht, das Leben für die Terroristen und ihre Unterstützer schwerer machen, ihre Finanzen austrocknen und "eine Umgebung schaffen, die für Menschen, die die Welt bedrohen, ungastlich ist. Das ist alles." Und das ist nicht viel, wenn dann zudem vornehmlich Zivilisten das Leben schwer gemacht wird, da die "gezielten Schläge" auf Militäranlagen und Trainingslager gerne mal daneben gehen. Die 90 Prozent Treffsicherheit, die den Tomahawk zugeschrieben wird, lassen sich wohl bei weitem nicht halten, die Rede von einem sauberen Krieg, der keine Unschuldigen trifft, hatte sich zuletzt im Kosovo-Krieg als Chimäre erwiesen.

Die Taliban kontern nicht nur mit Berichten über "Dutzende" von toten Zivilisten, sondern auch mit der Meldung, dass weder ein Taliban noch ein Mitglied von Ladins Organisation in Leidenschaft gezogen worden sei. Auf die Frage, ob die Trainingslager leer seien, auf bombardiert werden, antwortete Myers: "Ich werde hier nicht über Details sprechen, aber die Camps haben eine große inhärente Trainingskapazität. Sie sind nicht total leer." Da darf sich dann jeder selbst etwas denken.

Kritik kommt auch von Hilfsorganisationen, die sagen, sie hätten keine Ahnung, wohin die Lebensmittelabwürfe durch die US-Flugzeuge eigentlich gingen, also ob sie beispielsweise dorthin gebracht würden, wo die Menschen Hilfe am nötigsten hätten. Noch immer ist das Land überzogen von Millionen von Landminen. Wenn die Lebensmittel in solche Bereiche fallen, könnten sie Menschenleben gefährden. Aber auch wenn sich herumspräche, dass die Angriffe der Amerikaner nicht so genau und gezielt seien, dann könnte dies noch weitere Flüchtlingswellen in Bewegung setzen - und dies in einer Situation, die von UN-Sprecherin Stephanie Bunker, bereits als die derzeit größte humanitäre Katastrophe bezeichnet wird. Sie forderte dazu auf, besser zwischen Kämpfern und unbewaffneten Menschen zu unterscheiden und die für das Überleben der Menschen in Afghanistan notwendigen Strukturen nicht zu zerstören.

Der Streit wird in den der nächsten Zeit also vorwiegend darum gehen, welche Schäden die Angriffe tatsächlich bewirkt haben. Und wie sich jetzt schon abzeichnet, werden wir darüber bestenfalls über den arabischen Sender al-Jaseera informiert werden, der bislang zum (Medien)Gewinner dieses "Neuen Kriegs" geworden ist und CNN mit Fernsehbildern aus dem Land (nicht nur mit unscharfen Bildern eines von Kabul weit entfernten Videophones) und der erneuten Erklärung des Heiligen Kriegs durch den Weltbösen Bin Ladin übertrumpft hat. Angeblich soll nach den Luftangriffen eine Feststellung der Schäden erfolgen, nicht gleich ein Einmarsch von Truppen (die Scharmützel scheint man gerne den Kämpfern der so genannten Nordallianz überlassen zu wollen).

Die Amerikaner scheinen einmal wieder gewillt zu sein, wie schon im Kosovo-Krieg, bestenfalls eine stark selektierte Auswahl an Bildern über die Schäden zur Verfügung stellen, was dieses Mal auch besser zu funktionieren scheint. Generalstabschef Richard Myers präsentierte am dritten Tag der Angriffe erstmals einige Davor-Danach-Bilder, natürlich nur von geglückten Zerstörungen eines angeblichen Terroristencamps, eines Flugabwehrstandorts und eines Flughafens. Verteidigungsminister bezeichnete die Angriffe bislang als erfolgreich, zumal sie nun nach Ausschaltung der Flughäfen und der Luftabwehrstellungen mit der Gewinnung der Lufthoheit diese rund um die Uhr fliegen könnten: "Wir kommen, kurz gesagt, gut zu ihrem Ziel voran, die notwendigen Bedingungen dafür zu schaffen, eine anhaltende Kampagne zur Ausrottung der Terroristen und zur Lieferung der humanitären Hilfe für die Zivilisten in Afghanistan zu schaffen."

Rumsfeld sah sich aber anscheinend nicht in der Lage, die von der UN bestätigte Tötung von vier afghanischen Mitarbeitern durch US-Bomben zu bestätigen oder gar zu bedauern: "Gleichwohl bedauern wir den Verlust von Leben. Terroristen haben Tausende unschuldiger Menschen aller Rassen und Religionen aus Dutzenden von Ländern in den USA angegriffen und getötet. Wenn es eine einfache und sichere Möglichkeit gäbe, terroristische Netzwerke in Ländern auszurotten, die sie beherbergen, dann wäre dies schön. Aber eine solche Möglichkeit gibt es nicht."

Eines ist jedoch, die sichtbaren und bekannten Camps der Terroristen mit Bomben zu übersäen, etwas ganz anderes, die Terroristen oder das viel beschworene Netzwerk selbst "auszurotten", wie Rumsfeld sagt. Wo beispielsweise der Übeltäter Bin Ladin sich aufhält, den die USA, das FBI und die Geheimdienste bereits seit 1998 suchen, nachdem der erste Fernangriff durch Raketen noch unter Präsident Clinton ebenfalls keine Ergebnisse brachte, weiß man offenbar trotz aller Überwachung immer noch nicht - oder es ist ein großes Geheimnis wie so vieles andere. Die Militärschläge wurden mitunter auch dadurch begründet, dass sie das "Terrornetzwerk" von al-Quaida zerschlagen und seine Mitglieder aus ihren Verstecken aufscheuchen sollten, um sie dann überwachen und verfolgen zu können. Das scheint bislang aber nicht der Fall zu sein.

Der Botschafter der Taliban, Abdul Zaeef, sagte zwar heute auch, dass Bin Ladin sich in Afghanistan aufhält und am Leben sei. Er befinde sich zu seiner Sicherheit an einem Ort in den Bergen, der den Menschen nicht bekannt sei. Das mag aber eine ebenso taktisch begründete Meldung sein wie die von Rumsfeld in einem Intreview geäußerte Überzeugung, dass Ladin "irgendwo" im Land sei. Washington Post will von Regierungskreisen gehört haben, dass die neuesten Geheimdienstberichte deutliche Hinweise enthielten, dass der Topterrorist nicht aus dem Land geflohen sei. Möglicherweise gehört dazu auch das Video mit Ladins Äußerungen, das von einem Boten zum afghanischen Büro des Senders al-Jazeera gebracht wurde. Die Felsen, die man auf den Bildern sehen konnten, mögen vielleicht als Hinweis auf einen Ort in den afganischen Bergen gedeutet werden. Allerdings ist nicht bekannt, wann genau die Aufnahmen gemacht wurden. Angeblich habe die NSA ihre Lauschkapazitäten aufgestockt, um mögliche Kommunikation von al-Quida-Angehörigen abzufangen. Auch hier gibt es jedenfalls noch keine bekannt gewordenen Erfolgsmeldungen.

Die Schwierigkeit, Bin Ladins oder anderer Leiter der Organisation habhaft zu werden, führte bereits dazu, dass Präsident Bush die zunächst eingeschlagene Dämonisierung des muslimischen Terrorchefs einschränken, der es zudem geschafft hat, medial direkt zum Widersacher des amerikanischen Präsidenten bei Ausbruch der Angriffe geworden zu sein. Der Kampf gegen den globalen Terrorismus sei nicht beschränkt auf Ladin und die weiteren al-Quaida-Chefs, sondern richte sich gegen den globalen Terrorismus. Wie dann aber die auch Zuhause notwendig zu meldenden Erfolge aussehen sollen, wenn möglicherweise nur ein paar mutmaßliche Terroristen oder Angehörige des Taliban-Regimes aufgegriffen werden, ist ebenso schleierhaft wie die Folgen eines möglichen Erfolgs, also wenn tatsächlich Bin Ladin lebendig aufgegriffen würde und vor Gericht gestellt werden müsste. Dann müssten nicht nur überzeugende Beweise fürs eine Schuld vorgelegt werden, sondern ein amerikanisches Gericht würde vermutlich von vielen Menschen nicht als vorurteilsfrei anerkannt werden. Oder denkt man in den USA etwa an die Bildung eines Kriegsgerichts? Der von den Amerikanern noch immer nicht entschieden unterstützte Internationale Gerichtshof wäre dann jedenfalls ein besserer Ort, auch wenn sich dort vielleicht auch einmal Amerikaner für Taten verantworten müssten.

Angeblich soll Ahmed Wali Masood, der Bruder des kürzlich von den Taliban ermordeten Masood, gesagt haben, dass Ladin Doubles hat, die er in Afghanistan herumreisen lässt, um für Verwirrung zu sorgen. "Nach dem letzten Bericht über ihn, den wir vor ein paar Tagen erhalten haben", so behauptete er gegenüber Arab News, "hält er sich in Jalalabad auf. Doch wir wissen, dass er mehrere Doubles hat, also Menschen, die ihm ähneln und wie er in Toyota-Konvois reisen." So habe es vor ein paar Monaten in Berichten geheißen, dass vier Menschen, die Ladin ähnlich sahen, an vier Orten gleichzeitig gesehen worden seien (Die Fusseligen Vier).