Die europäische Norm übererfüllt

In der Türkei ist eine Überwachungsdebatte entbrannt

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"Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche" – so lautet eine berühmte Spruchweisheit der Neuen Frankfurter Schule. In der Realität läuft es aber auch anders herum: Dort sind die schärfsten Elche häufig ehemalige Kritiker. Wie zum Beispiel die türkische Regierungspartei AKP, die sich früher lautstark über "Staatsrepressionen" beschwerte, aber 2007 das elektronische Ausspähen aller Bürger ohne richterliche Anordnung ermöglicht haben soll.

Die "Adalet ve Kalkinma Partisi" ("Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung") fährt eine Politik zwischen WTO-Neofeudalismus und politischem Islam. Aufgrund des ersten Teils wird sie von ausländischen Regierungen gelobt, aufgrund des zweiten in der Türkei gewählt. An die Macht kam sie 2002, seit dem Sommer letzten Jahres stellt sie auch den einflussreichen Posten des Staatspräsidenten.

Nun berichten türkische Medien, dass die AKP-Regierung Polizeigeheimdienstchef Ramazan Akyürek im Januar 2007 die Erlaubnis erteilte, jede Form von Kommunikation via Telefon Fax, SMS und Email ohne richterliche Genehmigung überwachen zu dürfen. Begründet worden sein soll dies mit einer angeblichen Erfordernis im Kampf gegen den Terrorismus. Die Tageszeitung Vatan titelte „Jetzt erfahren wir, was ein Polizeistaat ist“ und „Das ist kein Überwachen mehr, das ist Verfolgung.“

Der zuständige Minister für Verkehr und Information, Binali Yildirim, erklärte nach dem Sturm der Empörung, dass seine Behörden ja gar nicht die Kapazitäten hätten, ständig die Telefongespräche von 70 Millionen Türken abzuhören. Außerdem hätte die nun kritisierte "Struktur" zu spektakulären Erfolgen beigetragen - etwa, dass die Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink und der Mitarbeiter eines christlichen Verlages in Malatya gefunden werden konnten. Überdies, so die Begründung der Regierung mit offenbarem Verweis auf die EU, gäbe es so etwas auch in anderen Ländern.

Jenseits der Verletzung von Bürgerrechten pikant sind die Überwachungsmaßnahmen unter anderem deshalb, weil der AKP seit längerem vorgeworfen wird, Behörden für ihre politischen Ziele zu nutzen: Am 21. März wurden in einer spektakulären Aktion 13 Personen von Antiterroreinheiten festgenommen, die von den Behörden beschuldigt werden, Mitglieder von "Ergenekon" zu sein. Diese ominöse Gruppe soll Teil des "Derin Devlet", des "Tiefen Staates" sein. Die Zeitung Hürriyet spekulierte sogar, dass Ergenekon auch ein Relikt von Gladio sein könnte.

Die Verhaftungen hatten allerdings insoweit einen Beigeschmack, als sich unter den Festgenommenen zahlreiche regierungskritische Journalisten befanden: Unter anderem Ilhan Selcuk, der Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Serhan Bolluk, Chefredakteur der Zeitschrift Aydinlik und Adnan Akfirat. Die Journalistenverbände sprachen deshalb von einem Einschüchterungsversuch und Hürriyet sah mit den Verhaftungen eine neue McCarthy-Ära aufziehen. In der Presse wurde zudem darüber spekuliert, inwieweit die Festnahmen die Antwort der AKP auf das Parteiverbotsverfahren seien, das Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya am 14. März 2008 beantragt hatte und hinter dessen Einleitung die AKP wiederum Ergenekon-Strukturen vermutete. Die gestern erfolgte Aufhebung des von der AKP eingeführten Kopftuchgesetzes gilt vielen türkischen Medien als Indiz für eine harte Linie des Gerichts im Parteiverbotsverfahren und damit für eine Verschärfung der Auseinandersetzungen.

In einem anderen vermeintlichen Überwachungsfall fand sich dagegen eine weniger verschwörerische Erklärung: Der Generalsekrätär der Oppositionspartei CHP, Önder Sav, hatte öffentlich vermutet, abgehört worden zu sein, nachdem Passagen aus einem Gespräch mit einem ehemaligen Gouverneur wörtlich in der Zeitung Anadoluda Vakit abgedruckt wurden.

Anadoluda Vakit sieht sich selbst als "Albtraum der Ungläubigen". In Deutschland ist die Zeitung wegen eines zu offen zur Schau getragenen Antisemitismus verboten. Dann allerdings enthüllte der Autor des Artikels, dass Sav, mit dem er zuvor telefonierte, einfach vergessen hatte, sein Mobiltelefon auszuschalten – was durch Savs Telefonrechnung bestätigt werden konnte.