Die geschlossene Gesellschaft: Universität

Konventionelle Weisheiten und die intellektuelle Identitätskrise der deutschen Hochschule

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In der hochschulpolitischen Debatte gibt man sich sehr leicht folgender Analyse hin: Den Universitäten fehlt es an Geld und dieser Geldmangel ist Schuld für die Hochschulmisere. Deshalb: "Mehr Geld für Bildung!" Und natürlich gibt die traurige "finanzielle Realität", z.B. in Berlin, dieser Forderung "einigermaßen" Zuspruch: Als nur ein Beispiel unter vielen kann etwa der Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität (die HU) im Fachbereich Politikwissenschaft genannt werden: In einem heruntergekommenen, aber renovierten Altbau muss ein "Prof." im Durchschnitt 90 Prüfungen, ebenso viele Magisterarbeiten, zwischen 80 und 90 Hausarbeiten und 26 Doktoranden "bewältigen". Die Bibliothek ist in einem mehr als jämmerlichen Zustand. Auch an der Freien Universität (der FU) sieht es nicht besser aus: "Hier bricht alles zusammen. Trotz 11. September geht den Islamwissenschaften in Deutschland das Geld aus." Dieses handgeschriebene Schild hängt am Eingang der Arbeitsstelle Vorderer Orient des Otto-Suhr-Institutes.

Keiner kann bestreiten, dass es den Universitäten insgesamt erheblich an Geld fehlt. Der "point of departure" dieses Beitrages ist jedoch der: Die Situation, in der sich das deutsche Hochschulwesen befindet, ist nicht einer mangelhaften finanziellen Ausstattung geschuldet. Die Hochschullandschaft befindet sich vielmehr in einer "hausgemachten" Strukturkrise - einer intellektuellen "Identitätskrise".

Trotz der Aufsehen erregenden und Beifall findenden Studentenproteste, wie sie sehr regelmäßig bundesweit zu beobachten sind, soll das Argument gemacht werden, dass der Notstand an den deutschen Universitäten in erster Linie keine Frage des Geldes ist. Denn der Notstand wird auch da sichtbar, wo es noch (scheinbar?) so gut ausgestattete Universitäten gibt wie etwa in Freiburg, Heidelberg, München und andere. Die akademische Klasse in Deutschland ähnelt in ihren Sozialisationsbedingungen mehr und mehr dem mittelalterlichen Zunftwesen. Es wurden Kartelle gebildet, deren Leistungen und Erzeugnisse nicht dem Markt unterworfen sind (so wie im Mittealter: der Bäcker backte jeden Tag dieselbe Stückzahl an Brötchen für dieselbe Anzahl an Menschen - konkurrenzlos). Das Zunftwesen war dadurch gekennzeichnet, dass jegliche Innovation - wozu denn auch? im Keim erstickt wurde.

Die Wissenschaftsproduktion: intellektuelle Armut, Uniformität, Paradigmentreue

Dieses System der geschlossenen Gesellschaft hat verheerende Folgen. Die deutschen Universitäten haben ihre einstige Führungsrolle verloren. Dies gilt sowohl national wie auch international. Der "These" des "nackten Protestes" in Berlin, dass er der Staat sei, welcher die Hochschulen durch die Kürzung von finanziellen Mitteln in ihrer Existenz in Frage stelle, muss widersprochen werden: Die Hochschulen gefährden sich selber. War es früher noch der Fall, dass die Ideen, welche an den Universitäten entstanden, die Universitäten in die Lage versetzten, die Gesellschaft und vor allem den Staat vor sich her zu treiben, so ist es heute genau umgekehrt.

Der "akademische Betrieb" ist uniform, langweilig und wenig herausfordernd geworden. Querdenker, Heterodoxe, Durchgeknallte und intellektuelle "Gegen-den-Strom-Schwimmer" oder "Giftmischer" gibt es nur noch in "Exoten-Form". Man erinnert sich gerne an Professoren, bei denen man sich schon Monate vorher auf deren neues Buch gefreut hat, die sich mit jedem anlegten und über die sich jeder irgendwann einmal geärgert hat; man wartete jedes mal gespannt darauf, welche Wellen er diesmal schlagen würde. Man erinnert sich an Vorlesungen, die der Sache wegen überfüllt waren, und der "Prof." als Geiferer auftrat und auf die Studenten "herunter prügelte" und nicht nach "Schema F, Teil 3" die "nervigen Einführungs-Ringvorlesungen" herunterbeten musste.

Wo sind alle diese "Querdenker" und "Giftmischer" geblieben? Wer ist der heutige Wilhelm Hennis, der die "Freiburger Schule" begründete? Warum müssen wir immer noch "nur" auf Max Weber, Theodor W. Adorno oder Jürgen Habermas zurückgreifen, wenn es um grundlegende wissenschaftstheoretische Erkenntnisse geht? Warum gelingt es heute keinem mehr, einen "Streit" auszulösen - wie den Positivismusstreit, den Historikerstreit u. a.? Die heute wichtigen "Karriere-Eigenschaften" eines Wissenschaftlers sind Paradigmentreue, umfassende Unkompliziertheit und Angepasstheit sowie intellektuelle "Treue" und verordnete Langeweile.

Zu dieser Mutlosigkeit und Paradigmentreue gesellt sich eine umfassende "Zersplitterung", ein sektorielles Denken, eine umfassende Spezialisierung. Die "Bodenlosigkeit des Spezialistischen" (Karl Jaspers) hat dazu geführt, dass es mehr als 4.000 unterschiedliche Fächer gibt - mit "autonomen Kleinfakultäten" und isolierten Instituten. Es gibt nicht nur keinen Max Weber mehr, es gibt auch generelle zu wenig "Sphärenwechsler", dafür zu viele "akademische Facharbeiter": Anzüge tragende, sich einschließende, mutlose, monogame "Spezialisten". Ging es beim Wissenschaftsprinzip Galileos noch um das "Entdecken", so ist es heute die "Korruption der herrschenden Hermeneutik" (Peter Glotz), welche die "akademische Leere" verursacht hat.

Dabei ist doch die "eigentliche" Aufgabe der Universität die Kommunikation: Hinter der Humboldtschen Formel "Bildung durch Wissenschaft" stand die Idee der Verbindung von Forschung und Lehre, der Einheit der Wissenschaft; es war als "dialogisches Prinzip" gedacht. Dabei ging es um die Bereitschaft der Disziplinen, Forschungsprozesse und Forschungsergebnisse mit der Lebenspraxis handelnder Menschen in Verbindung zu setzen: Wie erreicht man, dass ein künftiger Maschinenbauingenieur arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt bekommt? Wie erreicht man, dass ein Sozialarbeiter in Berlin-Kreuzberg friedenswissenschaftliche Erkenntnisse umsetzen kann? Genau dieses dialogische Prinzip wurde mittlerweile ersetzt durch ein neues, post-modernes Phänomen; nämlich durch die so genannten "TV-Professoren": Diese Kommunikation findet nun mit Sabine Christiansen statt.

Schauen wir einmal kurz über den deutschen Kontext hinaus und überlegen wir uns, wie die Welt heute aussehen würde, wenn es ein globales Phänomen wäre (oder gewesen wäre), nämlich, dass die Universitäten von Staat und Gesellschaft vor sich her getrieben worden wären und nicht - wie im Sinne des "Erfinders" - umgekehrt:

Wo wurde z.B. die Idee der "Apartheid" geboren? Es waren radikale, weiße Intellektuelle an der Universität Stellenbosch, welche die Ideologien und intellektuellen Unterbau für das Apartheid-Regime ab 1948 herausgearbeitet hatten. Die Universität trieb hier den Staat vor sich her. Und wo entstand die Widerstandsbewegung? Es waren schwarze Intellektuelle und revolutionäre Studenten an University of Western Cape, wo sich der Widerstand formierte: Dort wurden die Taktiken des ANC der 50er und 60er Jahren ausgetüftelt, dort entstand die Idee des "revolutionären Aufstandes" gegen das weiße Regime. Oh, mein Gott: Wären die Universitäten so uniform und langweilig gewesen wie heute die deutschen, Botha und De Klerk würden noch immer ihr biologisches Waffenprogramm verteidigen, es womöglich in den schwarzen Townships einsetzen und Inkatha würde immer noch von konservativen Regierungen und Stiftungen weltweit unterstützt werden.

Konventionelle Weisheiten: Abschaffung der Habilitation, Einführung von Studiengebühren

Vorschläge wie die Abschaffung der Habilitation oder die Einführung von Studiengebühren sind nicht gerade sehr neue oder innovative Vorschläge. Und natürlich ist die Abschaffung des Habilitationsverfahrens als unbedingte Voraussetzung zu einer Professur überfällig; es ist ein deutsches Unikat. Es macht wenig Sinn, eben erst Promovierte gleich noch einmal etwa fünf oder sechs Jahre an den Schreibtisch zu verbannen und diesmal nicht nur 400 Seiten, sondern 600 bis 800 Seiten produzieren zu lassen.

Doch womit soll die Habilitation ersetzt werden? Die aktuellste "Wunderwaffe" lautet: Juniorprofessur. Das klingt gut - sowohl die Bezeichnung als auch die theoretische Ausrichtung. Dem wissenschaftlichen Nachwuchs Anfang dreißig wird die Chance gegeben, von Null auf Hundert "durchzustarten". Doch auch hier ist die Realität leider eine andere als die von der Theorie erwartete. Fast alle Juniorprofessoren arbeiten nebenher an einer eigenen Habilitation. Und es ist heute nur noch ein sehr kleiner "Fall" vom hochgelobten Nachwuchswissenschaftler zum sich mit kleinen "Post-Doc-Stipendien" über Wasser haltenden "DAAD-Bittsteller" hin zur Arbeitslosigkeit.

Wie werden denn z.B. im Vereinigten Königreich, wo es keine Habilitation gibt, Professuren vergeben? Der in der Wissenschaft bekannte, angesehene und oft zitierte Friedensforscher Stephen Ryan von der University of Ulster (er ist selbst noch ohne eigenen Lehrstuhl, weil er noch zu wenig Monographien publiziert und statt dessen ein Zuviel an "Lehre" aufzuweisen hat) brachte es mal auf den Punkt: Man bekommt dann am ehesten eine Professur, wenn man die Fähigkeit beweist, möglichst viel privates Geld und Sponsoren ("Funding") für das Department einzubringen.

Eine lange, unübersichtliche und verfahrene Debatte ist im deutschen Kontext um die Frage der Einführung von Studiengebühren entstanden. "Eigentlich" ist auch beim Konzept der sozial gestaffelten Studiengebühren die Theorie gar nicht schlecht: Warum sollen Manager-Kinder umsonst studieren dürfen? Wie kann es "sozial" sein, dass der junge Facharbeiter, der Beamte des einfachen Dienstes oder die Verkäuferin die Studienkosten für den gleichaltrigen Medizinersohn oder die Managertochter bezahlen muss?

Doch auch hier ist die Realität komplizierter. In Großbritannien gibt es seit Blair genau dieses Modell. Um jedoch die problematischen Auswirkungen dieses Systems zu illustrieren, stellen wir uns mal kurz einen internationalen Master-Studiengang (etwa: "International Business Communication" oder "Peace and Conflict Studies") vor: Ein kleiner, überschaubarer Kurs von 30 Leuten - mit Tutoren- und Mentorensystem, toll oder? Die Gruppe von 30 Leuten besteht nun aus zehn amerikanischen Studenten, acht "ausländischen Europäern" (also: Schweden, Deutschland u.a.), ein paar aus dem asiatischen Raum und fünf oder sechs "einheimische Briten" (aus England, Wales, Schottland oder Nordirland).

Das System hat nun zur Folge, dass alle "ausländischen Studenten" die volle Studiengebühr bezahlen müssen - nach den Aussagen der Regierung: "Sie kommen ohnehin nur mit ausreichenden Stipendien ins Land": die Amerikaner und Asiaten also um die 6.000 Pfund (= 9.000 Euro), die Europäer an die 3.000 Pfund, während die "Einheimischen" in Relation dazu nur ganz wenig oder gar keine Gebühren bezahlen (sozial gestaffelt eben). Die Frage erübrigt sich: Welche Gruppe wird am besten behandelt und bekommt die besten Abschlussnoten - mitsamt "Distinction", Urkunde und feierlicher Zelebration?

I would really like to know whether I deserve the marks I got or if I just got them because I am working for a large student exchange programme which wants to promote this course in the US.

Dies ist die Aussage einer ehemaligen amerikanischen Kommilitonin. Sie steht für sich. Nicht umsonst ist Blair gerade dabei, ein neues System einzuführen, nämlich die nachgelagerten Studiengebühren ("top-up fees"). Doch auch bei den nachgelagerten Studiengebühren gibt es das "Praxisproblem": Wann braucht man denn als "Jungabsolvent" am ehesten Geld? Im "Idealfall" (d. h. man bekommt irgendwo eine Stelle) kommen nach dem Studium eine Menge Kosten auf den Jung-Akademiker zu: Man muss umziehen, braucht eine neue Wohnung, muss Kaution und Abstand bezahlen, braucht neue Möbel; und man hat direkt nach dem Studium eine entsprechende Leere auf dem Bankkonto und bekommt wahrscheinlich schon seit einem Monat nur mit der Master-Card überhaupt noch Geld von der Bank.

Nachgelagerte Studiengebühren machen meiner Meinung nach nur Sinn, wenn sie nicht ein nachgelagertes Abkassieren von jungen Menschen sind (also: "Familiengründungs-Verhinderungs-Gebühren"), sondern wie eine "nachgelagerte Vermögenssteuer" wirken. Nur eine solche Lösung wäre sozial gerecht. Ich bin mir bewusst: "Sozial gerecht" ist mittlerweile so etwas wie das "sozialdemokratische Unwort der 90er Jahre".

Ein unkonventioneller Vorschlag: das Losverfahren

Helge Peukert (er lehrt Staatswissenschaften an der Universität Erfurt) machte erst vor kurzem einen sehr provokanten Vorschlag: Lasst den Zufall regieren!. Er schlug vor, dass ein Drittel aller neu zu besetzenden Professuren nicht nach dem herkömmlichen "Berufungsverfahren" vergeben werden, sondern per Losverfahren entschieden werden sollen.

Peukerts Ansatzpunkt ist die beschriebene Trägheit der akademischen "Leere" und das herkömmliche Berufungsverfahren zur Besetzung von Professuren. Demnach überwiegen bei den heutigen "Auswahlprozessen" die Kriterien der Linien- und Gefolgschaftstreue, der "diskursiven Smartness" und der strategische Opportunismus: d.h. die Nettigkeit des zukünftigen Kollegen, die Vorhersehbarkeit seines Verhaltens. Erfolgreiche Verhaltenseigenschaften, um es in der Wissenschaft "nach oben zu schaffen", sind also Paradigmentreue und die umfassende Unkompliziertheit. Es sind "monokulturelle Kartelle" entstanden.

Peukert erklärt diesen Befund als anthropologischen Prozess. Das menschliche Gehirn ist demnach in seiner Grundstruktur wie seit 10.000 Jahren basal durch die sapientale Stammesgeschichte geprägt: Im Überlebenskampf der Jäger- und Sammlerhorden zählten nicht primär abweichende Ideen, sondern Präsenz und die Bereitschaft der bedingungslosen Unterstützung der eigenen Kleingruppe:

Dieses Wahlmuster ist anthropologisch scheinbar tief in uns verankert und mag für die empirischen Tatsachen von Vetternwirtschaft uns Hausberufungen anstelle der Prämierung von Selbständigkeit mitverantwortlich sein.

Das Ziel ist klar: die Zerschlagung der monokulturellen Kartelle. Er macht deswegen einen sehr einfachen Vorschlag: die Einführung eines Losverfahrens, durch das - als beliebig gewählte Zahl - mindestens 30 % der Professoren unter der Voraussetzung der Qualifizierung (also: Habilitation oder "Äquivalentes") rekrutiert werden sollen. Peukert verspricht sich dadurch einen Prozess der "Entstehung des Neuen", welcher parallel zum Darwinschen Phänomen der Mutation verlaufen würde: In der Natur findet die Erzeugung des Neuen als naturalistischer Prozess eines zufallsgesteuerten Losverfahrens statt:

Es hätte sicher keine nennenswerte Evolution stattgefunden, wenn bestehende Spezies und Populationen darüber zu entschieden hätten, ob ihre Rivalen im Daseinskampf zugelassen werden sollen oder nicht. Im Wissenschaftsbetrieb ist dem allerdings so: etablierte Wissenschaftler(populationen) entscheiden über ihre potentielle Konkurrenz. Dies fördert die Stabilisierung des Alten zu Lasten des Neuen.

Hatten Humboldt, Fichte, Schleiermacher oder Schelling damals gegen den Pauk- und Diktatbetrieb der "utilitaristischen Aufklärungsuniversität" den Blick zurück in die Antike gewagt, so plädiert nun auch Peukert erneut für einen Blick in die Vergangenheit; denn das Losverfahren war das zentrale Charakteristikum der attischen Demokratie. Den Griechen verdanken wir nicht nur die Demokratie, das Theater und die Anfänge der Wissenschaften, sondern auch eine Hochachtung vor dem Losverfahren. Für Herodot, Platon, Aristoteles und Kleisthenes erfüllte es den konkreten und ausdrücklichen Zweck der Ausschaltung und der Verhinderung von persönlicher Autorität und Machtmissbrauch - es war das Fundament der Demokratie gegenüber Wahlen oder Ernennungen bei fast allen Ämtern (einschließlich Richtern und Priestern):

Die alten Griechen mögen uns Tradition spenden und Wegweise sein: Durch das am Ursprung der westlichen Zivilisation erfolgreich praktizierte Losverfahren kann der inneren sklerotischen Selbstbedrohung der Universität begegnet werden, deren Auflösung in Zeiten finanzieller und bürokratischer Strangulierung von außen um so dringlicher erscheint.

Konklusion: eine "Common Sense"-Revolution der Wissenschaft?

1809, als Humboldt die Berliner Universität gründete, lag Preußen am Boden. Die Reformer waren von dem Gedanken getrieben, der Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren habe. Heute scheint die Lage umgekehrt: Deutschland ist durch die Vereinigung größer, auf lange Sicht sicher auch stärker geworden, und man meint, auf geistige Kräfte nicht allzu viel Rücksicht nehmen zu müssen

Peter Glotz (1996), Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten

. Der Widerspruch der deutschen Universität liegt auf der Hand: Exklusivität und Massenabfertigung passen nicht zusammen. Eine Totalreform der deutschen Universitäten, eine neue Wissenschaftsrevolution (ausgelöst vielleicht durch das Losverfahren) würde großen Mut erfordern. Man müsste vielen vor den Kopf stoßen, man müsste das Establishment "entwaffnen", es würde ziemlich viel Unruhe ausgelöst werden. Wir brauchen die Universität als Institution, die sich von ihren vormodernen Strukturen befreit: Sie muss unregiert und unregierbar und weniger stranguliert, ebenso chaotisch wie unerschöpflich sein.

Nun wurde gerade eine neue Sau durchs Dorf getrieben: Elite-Universitäten! Auch das ist bestimmt keine neue Weisheit, doch eine viel versprechende: Kleiner, überschaubarer, per Hand ausgelesene Studenten, mehr Tutoren und Mentoren als Studierende, riesige Archive und Bibliotheken. Die Frage wird sein, ob es wirklich gelingt, einen echten Wettbewerb zwischen den einzelnen Universitäten um die beste Wissenschaft und um die besten Köpfe zu organisieren. Was wird das Tertium comparationis sein, auf dem sich dieser Wettbewerb bilden soll: Geld oder Wissenschaft?

Im amerikanischen Hochschulsystem (staatliche Universitäten konkurrieren mit Elite-Universitäten) findet dieser Wettbewerb nicht statt, es ist vielmehr ein finanzieller Wettbewerb: Wie werbe ich am besten reiche südasiatische oder japanische Studenten an, die es sich leisten können, 40.000 $ an Gebühren pro Jahr zu bezahlen? Wie "locke" ich sie an die Westküste (nach Stanford) oder an die Ostküste (nach Harvard oder Princeton)? Schröder und Buhlmann träumen gerade vielleicht den Traum vom einfachen Arbeiterkind zum Absolventen der Elite-Universität in Magdeburg - ein Traum, der genauso platzen wird, wie jener vom Tellerwäscher zum Millionär. Betrachtet man die Debatte aus dem internationalen Blickwinkel, so kommt man sich im Kontext der deutschen Debatte wie in einem "time lack" vor: ein Wettbewerb darüber, die Fehler in den USA "nach zu holen".

Die deutsche Universität muss ihr Selbstbewusstsein und ihren Führungsanspruch zurückgewinnen. Der Zustand der deutschen Universitäten ist alles andere als viel versprechend und ermutigend: Massenuniversitäten mit überfüllten Lehrveranstaltungen, aus der Lehre flüchtende Professoren, mangelhafte Bibliotheken, demotivierte Studenten, von denen zwei Drittel neben dem Studium arbeiten müssen. Und es ist auch heute noch eine verschwindende Minderheit an Arbeiterkindern, welche überhaupt studieren; da kann man dann auch nicht von einem Erfolg sprechen, wenn Arbeiterkinder sich prozentual eher für ein Ingenieurstudium als für geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer entscheiden.

Für die Studierenden hat die Strukturkrise fatale Folgen: Jobbende Studierende, die sich mit Billigjobs über Wasser halten müssen (meist nur knapp über oder unter dem Regelsatz der Sozialhilfe) sind schon lange eine Realität. Sie werden so zu einem "Minimalstudium" gezwungen, sie führen eine "Doppelexistenz": halb Lernender, halb Arbeitnehmer. Neue studentische Schlagwort sind: Demotivation, Langeweile, Fatalismus und Negativismus.

Der Geist von Humboldt ist schon lange tot, abgelöst vom Idealbild des Studierenden als "homo oeconomicus". Passend dazu ist Milton Friedmans Vorschlag eines "Bildungsgutscheins": Danach soll jeder Schüler mit entsprechender Zulassungsvoraussetzung im Bildungsgang vom Staat einen Gutschein erhalten, der bei einer Bildungsinstitution seiner Wahl gegen Bildungsleistungen eingelöst werden kann. Also: vom Student zum Studierenden, vom Teilzeit-Studierenden zum Kunden?

Es ist eine Tatsache, dass die deutschen Hochschulen nach wie vor eine Veranstaltung der Mittelschicht sind. Eine solche Bildungslandschaft hinterlässt auf Dauer eine Gesellschaft von "atomisierten" Individuen, sich gegenseitig abschottenden "Schein-Studenten" (Wie schaffe ich noch den letzten Schein, um mich für die Prüfung anmelden zu können?), wo jeder nur für sich selber studiert und den anderen nicht mehr als Kommilitonen, sondern als potentiellen Rivalen sieht (Wieso bist du ins Proseminar hineingekommen und ich nicht?): Jeder gegen jeden und alle gegen alle. Die Auswirkungen werden nicht auf die Universität beschränkt bleiben: Es wird auf Dauer zu einer gespaltenen Situation in der gesamten Gesellschaft führen:

Es sei denn man möchte eben eine Gesellschaft, in der man Tag und Nacht um seine Sicherheit Angst haben muss, in der die "wohlhabende Minderheit" in isolierten, abgeschotteten und umzäunten "Festungen" lebt, in der es 15.000 Opfer von Schusswaffen im Jahr gibt, in der eines von fünf Kindern in Armut lebt, in welcher mehr als sieben Prozent der männlichen Erwerbsbevölkerung im Gefängnis sitzt. Und welche Gesellschaft habe ich damit gerade beschrieben?